Bücher der Saison

Lyrik

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
05.11.2018. 94 DichterInnen im Originalton, digitale Lyrik, nkl, Lyriker im Porträt, Tankas und Haikus: "Erster Winterregen / Selbst der Affe hätte gerne / ein Strohmäntelchen."
Was für eine Ausgabe! 13 CDs mit Originalaufnahmen 94 englischsprachiger Dichterinnen und Dichter, die ihre Verse lesen, singen, brüllen, rappen. Von Alfred Tennyson bis Simon Armitage, eine 130 Jahre umspannende "Poet's Collection" Die Kritiker schwelgten geradezu in den Aufnahmen. Die rauschen zwar manchmal gewaltig, weil die Aufnahmetechniken vor über 100 Jahren noch mäßig waren, dafür hört man mit Walt Whitman etwa einen Zeitgenossen Georg Büchners, staunt Tobias Lehmkuhl in der SZ. Und jeder Dichter hat beim Vortrag seinen ganzen eigenen, modenunabhängigen Stil, erklärt er - der nicht immer mit dem Bild zusammenpasst, das man vom Dichter hat, lernt ein fasziniert Elmar Krekeler (Welt), für den die Autoren beim Hören etwas "physisch Greifbares" bekommen. Zudem bekomme man einen wunderbaren Einblick in die verschiedenen Idiome der englischen Sprache. In der taz lobt Sylvia Prahl die chronologische Reihenfolge, weil sie einen Vergleich unterschiedlicher Sichtweisen auf dieselben Themen möglich macht. Den einzelnen Gedichtvorträgen ist jeweils eine deutsche Übersetzung beigestellt, die u.a. von Hanns Zischler, Ulrike Draesner oder Martin Wuttke gelesen werden. Eine herrliche Komposition, schwärmt Alexander Cammann in der Zeit. Hier eine Hörprobe.

Drei wunderbare Empfehlungen zu japanischen Gedichtbänden hat uns der Lyriker Nico Bleutge in der NZZ beschert. Da ist zunächst ein Band mit dreihundert "Haikus" aus fünfhundert Jahren, die die Dichterin Masami Ono-Feller zusammengestellt und der Zürcher Japanologe Eduard Klopfenstein übersetzt hat. Bleutge bekommt mit diesem Band die ganze Strahlkraft des Haiku vor Augen geführt, in denen sich der kurze Moment und das große ganze der Welt zu einem "kleinsten Sprachgewächs" zusammenfinden. Thema kann alles sein, von der Grasmücke bis zum Mietwucher. Der Band ist "wie Weihnachten, Ostern und Geburtstag auf einmal. Endlich kann man mal uneingeschränkt losloben!", freut sich André Hatting im Dlf Kultur. Auch die Aufmachung des Bandes hat ihn schwer beeindruckt: drei Abdrucke pro Gedicht (im Original, in der Übersetzung und als Transliteration), daneben jeweils ein Kommentar, Kurzbios, knappe Erläuterungen der verschiedenen Haiku-Schulen - "mehr geht nicht", ruft der beglückte Rezensent. Und Bleutge gibt uns noch eine kurze Kostprobe von Matsuo Bashu mit auf den Weg, passend zur Jahreszeit: "Erster Winterregen / Selbst der Affe hätte gerne / ein Strohmäntelchen."

Viel älter als der Haiku ist der Tanka. Diese Gedichtform ist über 1300 Jahre alt und hat mehr Silben als der Haiku (31 statt 17). Einer der berühmtesten neueren Tanka-Dichter war Wakayama Bokusui, geboren 1885, gestorben 1928 wohl an den Folgen seiner Alkoholsucht. Bokusui hat in seinem 43-jährigen Leben Tausende von Tankas geschrieben. Für  den Band "In der Ferne der Fuji wolkenlos heiter" hat Eduard Klopfenstein knapp 250 ausgesucht, und mit einem "ausführlichen, aussagekräftigen und hervorragend zu lesendem Nachwort" versehen, so Katharina Borchardt auf SWR 2. Bokusai lässt uns Mückenspiralen sehen und Wildentenschwärme hören, schreibt Nico Bleutge, während er dem unruhigen alkoholkranken Dichter auf seinen Wanderungen folgt. Bokusais Tanka sind "kleine, wundervolle Kraftpakete, die der Ambiguität ihrer Motive volle Rechnung tragen", lobt David Westphal im Gedichtblog. Frank Dietschreit gibt uns im RBB kulturradio ein Beispiel: "Mich selbst betrachte ich/ mit Hohn und Spott/ Doch vor meinen Augen/ sind die Kinder selbstvergessen/ in ihr Spiel vertieft". Wärmstens empfohlen wird auch Ishikawa Takubokus Band "Einsamer als der Wintersturm" (leider schon vergriffen, versuchen Sie es antiquarisch oder direkt beim Verlag), den Ruth Linhart aus gut 2000 Tankas des Dichters zusammengestellt und übersetzt hat. Auch Takuboku war unglücklich, starb früh (1912, mit 26 Jahren) und modernisierte den Tanka, indem er Begriffe aus der Alltagssprache einband. Bei ihm haben die Wörter eine "Eigenmacht", so Bleutge. In einem sehr schönen Text für Signaturen porträtiert Timo Brandt den Dichter als modern-komplizierten Menschen und er macht eine wichtige Beobachtung: Tankas sind für sich allein genommen keine Meistergedichte. Sie wollen nicht herausragen, erklärt er, sondern bestimmte Momente festhalten, "kleine Eruptionen" der Aufmerksamkeit, die man sonst schnell vergisst, die in ihrer Fülle aber das Leben ausmachen.

Neue Wege in der deutschsprachigen Lyrik geht Hannes Bajohr mit seinem Band "Halbzeug" so sehen das jedenfalls die Kritiker von FAZ und taz. Der Autor experimentiert mit Datenprofilen, Märchenfundus und Rechtschreibhilfen, das ist nah an der Konzeptkunst, macht aber mehr Spaß, versichert FAZ-Kritiker Christian Metz. Im Dlf Kultur ist André Hatting hin und weg: Endlich mal jemand, der sich literarisch intelligent mit der Digitalisierung beschäftigt. In fünf Kapiteln untersucht Bajohr mithilfe von Computerprogrammen die Wahrnehmungsveränderungen, die mit der Digitalisierung einhergehen, erzählt Hatting und nennt ein Beispiel: "Im originellsten Kapitel, 'maschinensprache', komponieren die Programme medienübergreifend. Bajohr füttert zum Beispiel eine Audioschnittsoftware mit Eugen Gomringers berühmtem Gedicht 'schweigen'. Die Textdatei wird dabei vom Programm als Tondatei behandelt und entsprechend in Geräusche umgewandelt, nachzuhören auf einem im Buch angegebenen Link." Hier einige Hörproben bei Soundcloud. Signaturen-Kritiker Timo Brandt juckte es nach der Lektüre förmlich "in den Fingern, selbst eine paar der vorgestellten Verfahren auszuprobieren".

Prächtig amüsiert hat sich FAZ-Kritiker Patrick Bahners mit Ulf Stolterfohts "fachsprachen XXXVII-XLV" die mit Hilfe eines schwäbischen Doppelgängers etwa Gottfried Benns Poetik aufs Korn nehmen. Stolterfoht "ist keine Assoziation zu weit und kein Gedankengang zu lang", freut sich Andre Hatting im Dlf Kultur. "Kirchenarchitektur und Poetik zum Beispiel werden zur nkl amalgamiert, das steht für 'neue konfessionelle lyrik'". Hier erklärt Hatting das Konzept von Stolterfohts Fachsprachen. Lob auch für die "zitatgedichte" des Schweizer Psychiaters Mario Gmür, der Meldungen aus den Lokal- oder Sportteilen der Tageszeitungen durch Kleinschreibung, Verzicht auf Satzzeichen und Zeilensprünge verändert und neu auflädt. Da wird die Journalistenprosa plötzlich zur goldenen Lyrik, staunt NZZ-Kritiker Urs Bühler. "Unverhofft erhält eine wohlstandsgesellschaftliche Banalität - wie etwa in 'bauch', gewonnen aus einem Text von Bettina Weber aus dem Tages-Anzeiger  - existenzialphilosophische Tragweite", amüsiert sich Adrian Riklin in der woz und zitiert: "ein bauch lässt sich/ bis zu einem gewissen grad/ kaschieren/ wenn das hemd darüber fällt".

Anzuzeigen sind außerdem Neuübersetzungen einiger Klassiker wie John Keats' "Endymion" Marcel Prousts "Poèmes" unbekannte Gedichte von Boris Pasternak "Blätter und Blasshühner", eine Auswahl der Gedichte Alberto Nessis oder eine neu kommentierte Gesamtausgabe der Gedichte Paul Celans In der Tagtigall, der Lyrikkolumne des Perlentauchers, erzählt Marie Luise Knott von ihrem Versuch, sich der georgischen Lyrik zu nähern.

Und schließlich sei noch hingewiesen auf zwei Bände über Lyrik beziehungsweise Lyriker: FAZ-Kritiker und Germanist Christian Metz erklärt in "Poetisch denken" an vielen Beispielen, warum die deutsche Lyrik im 21. Jahrhundert ein Hoch erlebt (hier ein Auszug). Und der Germanist Dirk Skiba zeigt in seinem Band "Das Gedicht & sein Double" die zeitgenössische Lyrikszene im Porträt. Die 100 Fotografierten durften sich aussuchen, wie sie dargestellt werden wollten, was den Band für FR-Kritikerin Cornelia Geißler ebenso lebendig macht wie die Leidenschaft des fotografierenden Germanisten. Jedem Porträt ist außerdem ein Gedicht beigestellt, viele sind hier zum ersten Mal veröffentlicht, so Geißler, die versichert: "Dieses Buch lädt zum Verweilen ein."