Im Kino

Man lernt im Licht wie in der Dunkelheit

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Nikolaus Perneczky
31.01.2018. In "The Woman Who Left", dem überwältigenden neuen Film von Lav Diaz, wird eine aus dem Gefängnis entlassene Frau von ihren Racheplänen abgelenkt; und Paul Thomas Anderson vernäht in "Phantom Thread" eine perfekte Liebesgeschichte zu einem ungemein faszinierenden Rätselfilm.


Der neue Lav Diaz ist wieder Dostojewski-ish (obwohl als - lose - Vorlage Tolstois Erzählung "Der Verbannte" dient): eine große und breite Moralerzählung im Stil von "Norte, the End of History". Die Protagonistin von "The Woman Who Left" (großartig: Charo Santos-Concio) wird als Gefangene in einem Frauengefängnis eingeführt, das sich ausnimmt wie eine Strafkolonie. Die erste Einstellung zeigt Horacia und ihre Mitgefangenen beim Pflügen eines Ackers, rings um die gebückten Frauen stehen aufrechte Uniformträger mit umgehängten Gewehren. Aus dem Radio die Nachrichten: Hongkong ist eben an China übergeben worden, auf den Philippinen häufen sich Entführungen reicher Mitbürger, Angehörige der chinesisch-philippinischen Community seien besonders betroffen. Wir schreiben das Jahr 1997.

Nach der Feldarbeit bilden sich Gruppen: Es werden Geschichten erzählt, Horacia unterrichtet die Frauen, man betet, die Kinder - vermutlich die Kinder der Gefangenen, sie scheinen alle Mädchen zu sein - spielen Fangen. Eine Zwangsgemeinschaft, ja, aber man ist sich sehr nahe gekommen in der langen, langsamen Zeit der Gefangenschaft. Seit 30 Jahren ist Horacia hier, wegen eines Mordes. Das erfahren wir erst, als sie erfährt, dass sie umgehend freigelassen werden soll. Sie war fälschlich beschuldigt worden, stellt sich nun heraus, vom abgeblitzten Verehrer Rodrigo, Sohn einer wohlhabenden und einflussreichen Familie. Die echte Täterin hat gestanden, und Rodrigo als Auftraggeber inkriminiert.

Horacia ist befreit, sie ist wieder Teil der Welt, aber sie will ihr Leben nicht wiederhaben, verkauft das alte Haus und lässt die Tochter zurück auf dem Weg in jene Stadt, wo Rodrigo, umgeben von Wachen, zum lokalen Honoratioren aufgestiegen ist, mit besten Verbindungen zum Gemeindepfarrer. Horacia beobachtet, wartet, wägt die Lage. Gibt Leuten einen falschen Namen, will unerkannt bleiben. Sinnt sie auf Rache? Beim Warten und Beobachten lernt sie unter ihrem neuen Namen, Renata, eine Reihe sozialer Misfits kennen: der bucklige Straßenverkäufer (er verkauft balot oder balut - das sind, sagt Wikipedia, angebrütete Enten- oder Hühnereier), die epileptische Transfrau, die verrückte Obdachlose mit zeichenhaftem Dreck im Gesicht. Figuren, wie einer Seifenoper entstiegen, in einer Geschichte, die man als Rachethriller nacherzählen könnte.



Nachts wacht Horacia/Renata über der Stadt wie ein vigilante, Beschützerin der Besitzlosen und Entrechteten ("You're like Batman", kommentiert der Balot-Verkäufer) in Jogginganzug und Converse, die Haare unter einer Baseballkappe: eine zweite, nächtliche Existenz. Sie verfügt über ein Weltwissen, dass sie, wie sie selbst sagt, "in der Dunkelheit" erlernt hat (zum Beispiel, wie man einem Aggressor mit Schusswaffe begegnet). Dieses Wissen ist darum nicht schlechter oder weniger wert: Man lernt im Licht wie in der Dunkelheit. Tag und Nacht, hell und dunkel sind zentral für den Film in ihren moralischen, und auch ästhetischen Valeurs. Diaz bestätigt die Klischees nicht, eher stellt er sie zur Disposition. Der Bösewicht fragt sich, warum er böse ist.

"The Woman Who Left" ist schwarzweiß und macht davon doppelten Gebrauch: bei Tag flirrende Grauwerte und der digitale Pointillismus im Wind wimmelnder Blätterkronen, nachts das kontrastreiche Hell-Dunkel der leeren Straßen. Man versteht die Geschichte in Sprüngen, oft ein bisschen verspätet, vom Ende einer Episode her. Ein Detail, eine beiläufige Enthüllung rücken alles in ein neues Licht. Manchmal buchstäblich: Ein Straßeneck, das man gut zu kennen glaubt, ist plötzlich verwandelt, wenn die E-Werke das Licht wieder einschalten. Wo ich brache Leere vermutet hatte, stehen jetzt Häuser, und in den Häusern sind Menschen - potenzielle Kundschaft für den Eierverkäufer. Später gewinnt die Ecke noch eine Dimension. Diesmal ist es ein Gegenschuss, wodurch der Raum sich jäh öffnet. Auch aus der relativen Entfernung zum Kamerastandort macht Diaz ein dramaturgisches Mittel: Es kann Stunden dauern, bis wir einer (längst etablierten) Figur aus nächster Nähe direkt ins Gesicht blicken dürfen.

Figuren, Konflikte und Entwicklungslinien sind wiedererkennbar der Seifenoper und dem Genrekino entlehnt, aber Lav Diaz' charakteristische Langsamkeit erodiert die populären Formen, die den Film inspirieren. Dauer drängt sich zwischen Ursache und Wirkung, kausale und moralische Schlüsse lockern sich. Figuren werden von ihren Absichten abgelenkt, Horacia wird zu Renata. Die Pistole aber, wenn sie einmal im Bild ist, wird auch Diaz nicht mehr los. "The Woman Who Left" ist eine hochpersönliche - hochgradig personalisierte - Rachegeschichte und zugleich ein Film über die strukturelle (mithin dauerhafte) Gewalt, ob politisch, ökonomisch oder sexuell motiviert, die durch die philippinische Gesellschaft zirkuliert. Das alles ist in dieser Pistole mitgemeint. "The Woman Who Left": ein weiterer Baustein in Lav Diaz' übergreifendem Projekt einer Geschichte der Gewalt. Ein utopischer Song-and-Dance-Moment (aus "West Side Story"): "Someday, somewhere, we'll find a new way of living / We'll find a way of forgiving, somewhere." Ein eindringlicher, überwältigender Film.

Nikolaus Perneczky

The Woman Who Left - Philippinen 2016 - OT: Ang babaeng humayo - Regie: Lav Diaz - Darsteller: Charo Santos-Conci, John Lloyd Cruz, Michael De Mesa, Nonie Buencamino, Shamaine Buencamino - Laufzeit: 226 Minuten.

"The Woman Who Left" ist ab dem 4.2. In den deutschen Kinos zu sehen. Zum Filmstart organisiert der Verleih einen "Lav Diaz Tag", mit Vorführungen in über 30 Städten. Mehr Informationen hier.


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Viel ist von dem archaisch-energischen Wadenbeißer Daniel Plainview nicht geblieben, den Daniel Day-Lewis vor etwa zehn Jahren für Paul Thomas Anderson in "There Will Be Blood" gespielt hat: In "Der seidene Faden", der zweiten Zusammenarbeit des Schauspiel-Titanen mit dem Regie-Titan, gibt sich Day-Lewis in der Rolle des Couturiers Reynolds Woodcock nun fragil-dandyesk, hochgradig feinnervig, fast schon pergamentartig brüchig und verstrickt in innere Konflikten. Als Plainview hätte er die noch aggressiv ausgebellt, hier lassen sie sich allenfalls erahnen in den Falten seines bleckenden Grinsens und seiner verschrobenen Koketterie. Aus dem legendär giftigen "I drink your milk shake" aus "There Will Be Blood" wird allenfalls ein williges "I eat your Pilzomelett" - wobei beide Verinnerlichungen direkt in den Abgrund führen.

Dieser Reynolds Woodcock ist so hölzern kontrolliert wie versteift männlich, was bereits der sprechende Nachname in seinen verschiedenen Bedeutungsnuancen andeutet. Im London der 50er Jahre hat er sich als diffus zwischen Exzentrik und Bedecktheit, zwischen Einsiedelei und Öffentlichkeit changierender Modezar in einer Welt der schönen Dinge und des feinen Genusses einkokoniert - morgendliche Rasierroutinen, exquisite Stoffe am Leib, dabei die roten Socken als dezenter Hinweis auf britische Exzentrik nicht zu vergessen, erlesenes Frühstücks-Service, dabei jedoch nie vulgäre Dekadenz, nicht zuletzt eine perfekt eingespielte Armada tapferer britischer Schneiderinnen, die die eleganten (doch, Gott bewahre, niemals "chicen") Entwürfe des kreativen Meisters umsetzen - eine bis ins Detail perfekt temperierte, wenn auch nicht im Jubel umarmte Welt des Wohlstands, in der lediglich die an den Kräften zehrenden Misstöne am Frühstückstisch nerven, wenn die aktuelle Geliebte den Herrn des Hauses mit zu lautem Messerkratzen auf dem Toast aus der Fasson geraten lässt. Schwupps ergreift Woodcocks eisig-kontrollierte Schwester Cyrill (Lesley Manville) als eifersüchtig herrschende Matrone des Hauses die Initiative, zieht ein Kleid zur Abfindung hervor und entfernt das störende Element aus den geordneten Bahnen Woodcocks.

Eine Mechanik der sozialen Mikro-Organisation, die allerdings durch das neue love interest Alma (eine Entdeckung: Vicky Krieps, eine luxemburgische Schauspielerin, die sich in der deutschen Synchronfassung auf ziemlich wunderbar entrückte Art selbst spricht) auf den Kopf gestellt wird - wenngleich auf beidseitig kontrollierte Weise: Der Meister findet in der Frau ohne Oberweite die perfekte Muse für seine Stoffentwürfe, die Frau hingegen im Meister einen, dessen Brüchigkeit sie einerseits fasziniert, der andererseits eben deshalb von ihr emotional ausgebeutet werden kann. Alma erobert sich eine Position im Hause Woodcock - und ringt mit Woodcock zugleich um die emotionale Ökonomie in der Beziehung: Wer schafft sich wen? Konstruiert der Mann die Frau nach seinen Wunschvorstellungen - oder dekonstruiert die Frau den Mann nach den ihren? Eine Amour Fou hätte man früher dazu gesagt - heute nennt man das "toxische Beziehung", die Anderson gewissenhaft als solche ins Bild setzt. Nicht ohne düster ätzend zu ergänzen, dass Balsam manchmal auch im Gift zu finden ist.



Die perfekte Liebe in einer maßgeschneiderten Welt - dass Woodcocks exquisiter, aber allenfalls phlegmatisch ausgekosteter Perfektionismus über weite Strecken zunächst einmal sehr reizvoll wirkt, mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, dass Anderson und Day-Lewis (die den - muss man dazu sagen: rein fiktiven, nicht historischen - Stoff gemeinsam entwickelt haben) ihrerseits so passionierte wie legendäre Perfektionisten sind. Als solche haben sie dem "seidenen Faden" diverse doppelte Böden untergejubelt, die jedoch nie exhibitionistisch deklamiert werden, sondern in Form lose eingefädelter Spuren durch den Film geistern: Natürlich führt eine zu Hitchcock, an den Woodcock schon im Namen erinnert - nicht zuletzt hieß ja auch Hitchcocks Ehefrau Alma (und war, was nur im Deutschen als Pointe funktioniert, ebenfalls Schnittmeisterin, wenngleich beim Film). Das Motiv vom Mann, der sich die perfekte Frau schneidert, ist direkt den psychischen Triebkräften entnommen, die Hitchcocks Filme wie "Vertigo" und "Rebecca" vorantreiben.

Dann ist da noch der Originaltitel des Films, "Phantom Thread", der im ersten Wort an Gespenster denken lässt, im Klang des zweiten aber den Faden in die Nähe der Bedrohung rückt. Er trage stets eine Locke seiner verstorbenen Mutter - Mutterfixiertheit, ein weiteres Hitchcock-Motiv - im Saum seines Lieblingsmantels mit sich, sagt Woodcock einmal und räumt dann noch ein, dass er sich verflucht fühle. Außerdem näht er tatsächlich verborgene Botschaften in den Saumumschlag seiner Kleider. Dass dem "Seidenen Faden", um im Bild zu bleiben, ein post-viktorianischer Gothic-Geisterfilm eingenäht worden ist, wird an einer Stelle dieses in einer seltsam-irrisierenden, aber angenehmen Schwebe erzählten Films zumindest erahnbar.

Mit solchen und ähnlichen Spuren vernähen Day-Lewis und Anderson ihren Stoff zu einem Text, einem Gewebe also, dessen oberflächliche Muster die Komplexität ihrer Zusammensetzung nur erahnen lassen. Darin, als verrätselter Film, der seine Geheimnisse vor unseren Augen gleichermaßen anspricht wie versenkt, genau wie auch die offenen Geheimnisse einer noch in der unheilvollen Verstrickung funktionierenden Liebesbeziehung zwischen den Liebenden in beider Wissen unausgesprochen bleiben, entwickelt dieser Film seinen ungeheuren Reiz. Dass er meisterlich fotografiert (Kamera: Anderson selbst, ohne Credit) und musikalisch kongenial untermalt (wie stets: Jonny Greenwood) ist und das Setdesign (Mark Tildesley) hervorragend, versteht sich von selbst: Es ist ein Film von Paul Thomas Anderson.

Thomas Groh

Phantom Thread - USA 2017 - Regie: Paul Thomas Anderson - Darsteller: Vicky Krieps, Daniel Day-Lewis, Lesley Manville, Sue Clark, Joan Brown, Harriet Leitch - Laufzeit: 130 Minuten.