Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.08.2002. Die SZ probt den Aufstand der Jungen gegen die 40-Jährigen. Für die taz kreist Edmund Stoiber um die Fixsterne von Freiheit und Solidarität. Die FR zweifelt am Haager Prozess gegen Milosevic. Die NZZ klärt das Verhältnis zwischen DDR und Bundesrepublik. Die FAZ erklärt, warum es so schwer ist, über Pedro Almodovar zu schreiben.

SZ, 07.08.2002

Die Alten kommen! Für Robert Jacobi klingt das wie ein Alp. Als hätte sie darauf gewartet, schreibt er zornig, nutzt eine alternde Generation die aktuelle Krise schamlos aus. "Ihre Protagonisten schütteln den Staub ab, stellen die Renaissance-Bildbände zurück ins Regal und schieben den Rasenmäher in die Garage, um im frisch polierten Audi A6 vor Konzernzentralen vorzufahren." Schuld daran aber, "dass Jugend nicht mehr als strategic asset gilt", ist nicht diese, sondern die Folgegeneration der heute Vierzig- bis Fünfzigjährigen, "die Middelhoffs dieses Landes ... deren Mitglieder ordentlich Missbrauch getrieben haben mit dem Vertrauen der Menschen in eine halbwegs anständige Wirtschaftswelt." Dass trotzdem nichts verloren ist, dafür sorgt die biologische Uhr: "Wir Jungen können warten, die aufgezwungene quarterlife crisis mit Gewinn durchleben und uns in aller Ruhe auf den leisen Umsturz vorbereiten. Die Alten können das nicht." (Das hat Prince Charles auch mal gedacht.)

In einem anderen Beitrag stellt Andrian Kreye die US-Wahlkampfstrategen der "Opposition Research" vor, einer ganzen Industrie professioneller Politschnüffler, die versuchen Gegenkandidaten mit Skandalen auszuhebeln und die sicher bald auch bei uns heimisch werden. Die Skandal-Margen, so Kreye, liegen drüben allerdings um einiges höher: "In einem amerikanischen Wahlkampf wären Bonusmeilen eine unbrauchbare Lappalie. Nicht nur, weil dort Politiker Bonusmeilen privat verbrauchen dürfen und viel interessanter ist, dass George W. Bush den Firmenjet von Enron benutzte ... Im Kampf um die nächsten Zwischenwahlen instrumentalisieren beide Seiten bereits den 11. September und bezichtigen sich gegenseitig, die Anschläge nicht verhindert zu haben." Den eigentlichen Schaden aber haben die Wähler: "Solange Skandale die Schlagzeilen beherrschen, bleibt in den Medien kein Platz für relevante Themen."

Weitere Artikel: Christian Kortmann stellt das Lektüre-Navigationssystem "TextArc" vor, das mehr als 2000 englische Texte aus der Online-Bibliothek Project Gutenberg einspeisen und grafisch darstellen kann, "herb" macht sich Gedanken über Staatslenker als Dichter, Jürgen Ziemer bewundert Patti Smith (mehr hier) auf Deutschland-Tour, und C.D. erkundet das fruchtbare Wechselspiel von Politik und Theater.

Besprochen werden der Agententhriller "Der Anschlag" mit Ben Affleck und Morgan Freeman (dazu gibt es ein Gespräch mit dem Regisseur Phil Alden Robinson), eine Ausstellung mit Kupferstichen des Holländers Hendrick Goltzius in der Hamburger Kunsthalle, Bücher, darunter Fritz Langs "Metropolis" als Hörspiel, eine philologische Spurensuche nach Altrusslands Anfang von Gottfried Schramm, ein Sammelband über "Jüdische Sprachen in deutscher Umwelt", eine Auswahl von Gedichten Hans Arps (siehe auch unsere Bücherschau um 14 Uhr). Und Musik, darunter das neue Schumann-Album Maurizio Pollinis sowie eine Sammlung kalabresischer Mafialieder: "Omerta, Onuri e Sangu - Verschwiegenheit, Ehre und Blut".

TAZ, 07.08.2002

Katharina Granzin widmet sich dem Fall Wladimir Sorokin. Der Moskauer Schriftsteller steht seit vorletzter Woche wegen Pornografie vor Gericht. Ein vorgeschobener Grund, wie Granzin vermutet: "Der Verdacht liegt nahe, dass Sorokin zu stark an einer nationalen Eigenart gekratzt hat, die zwar nicht mehr offensiv gepflegt wird, aber niemals wirklich aufgearbeitet wurde: dem Hang zum Personenkult." In Sorokins Roman "Der himmelblaue Speck" entdeckt sie "zahlreiche literarische Parodien und Travestien, die insgesamt als respektlos zu bezeichnen stark untertrieben wäre." Dass den Leuten die (wenn auch klassische) Literatur derart am Herzen liegt, will Granzin jedoch nicht glauben. "Näher liegt die Vermutung, dass eine Literatur, die so rasant sämtliche Tabus einrennt, dem Kreml und seinen Anhängern schlicht unheimlich ist."

Wer ist Edmund Stoiber? Christian Semler porträtiert den Kanzlerkandidaten als komplexeren Politiker als ihn der rot-grüne Lagerwahlkampf darstellen wollte. Was heißt hier zum Beispiel "rechts"? "Stoiber selbst würde eine solche Kategorisierung schroff zurückweisen, er sieht sich in der Straußschen Traditionslinie, nach der 'die Konservativen an der Spitze des Fortschritts marschieren'. Er will beides in einem sein. Sinnstifter im Horizont des christlichen Wertekosmos, der um die Fixsterne von Freiheit und Solidarität kreist. Und Spitzenreiter bei der Durchsetzung avancierter Technologien." So wie Schröder unter der Last nicht eingetretener Erwartungen zusammenbricht, meint Semler, so hell strahlt Stoibers bayerischer Stern. Na, dann Gute Nacht!

Außerdem empfiehlt Michelle Li den Vokabeltrainer "Chinesisch zum Essen", mit dessen Hilfe Freunde der Stäbchen-Küche sich selbst in umfangreichsten Menükarten zurechtfinden, und Burkhard Brunn schreibt über ein sattsam bekanntes Tier, das uns unter die Haut geht: "Das nervende Sirren des Nachts, das sich kreisend nähert, die plötzliche Stille mit dem Verdacht, dass sie schon irgendwo saugt..."

Schließlich Tom.

FR, 07.08.2002

Die Wahrheit über Jugoslawien. Dass sie beim Haager Tribunal gegen Slobodan Milosevic zum Vorschein kommen könnte - Klaus Bachmann glaubt nicht dran. Der Prozess, findet er, ähnelt der Form nach einem Perry-Mason-Film - allerdings ohne Perry Mason. "Denn obwohl das angelsächsische Prozessrecht, auf das sich das Jugoslawien-Tribunal stützt, zu Kreuzverhören und Beweisführung animiert, scheint keiner der Beteiligten interessiert, den Zeugenaussagen und vorgelegten Beweisen hartnäckig auf den Grund zu gehen. Milosevic will die Zeugen der Anklagen politisch bloßstellen, als unglaubwürdig, weil sie Albaner, Deutsche, Angehörige des Nato-Mitgliedslandes sind. Die Anklage möchte, wie der 'amicus curiae' Michail Wladimiroff es ausdrückt, 'nicht nur eine Verurteilung erwirken, sondern auch noch die Geschichte Jugoslawiens der letzten zehn Jahre schreiben.'"

Weiterhin erörtert die "Struktur der Stadt als Beschäftigungsreserve". Mit Blick auf das soeben gestartete Fantasy-Filmfest in Frankfurt und Köln erklärt Stefan Keim, warum die erfolgreichsten Kinofilme aus den Genres Sci-Fi, Superheldencomics, Märchen oder Horror kommen (sie beschwören psychische Urbilder). Ulrich Holbein polemisiert gegen die Charaktersortiermaschine im Allgemeinen und gegen die Carl Zuckmayersche im Speziellen. Auf der documenta entdeckt Isabelle Graw die politische Kompetenz der Kunst, und "Times mager" schlägt gekonnt den Bogen von der richtigen Sehhilfe zum richtigen Kanzler: "Die Verantwortung lastet auf dem Gemüt - man möchte ja auch nicht die falsche Sehhilfe tragen! 'So besser oder so'? Und schon tun sich Abgründe auf. Wohin soll die Lebensreise gehen - rechts, links, geradeaus?"

Besprechungen widmen sich Pedro Almodovars Kino-Drama "Sprich mit ihr - hable con ella", der Ausstellung "Zusammenhänge herstellen" im Hamburger Kunstverein, schließlich einer neuen Platte der Reggae-Band Misty in Roots ("Roots Controller").

NZZ, 07.08.2002

Gleich zwei Ausstellungen versuchen derzeit in Leipzig die kulturellen Beeinflussungen zwischen DDR und BRD aufzuklären, berichtet Sieglinde Geisel. Im Museum der bildenden Künste und im Zeitgeschichtlichen Forum kann sich der Betrachter dann selbst überlegen, "was die Westberliner Aktionsgruppe Die Tödliche Doris mit den Dresdner 'Autoperforationsartisten' zu tun haben könnte oder was es zu bedeuten hat, dass die Plattenbauten in den Photographien des Ostdeutschen Ulrich Wüst weniger trostlos wirken als das Elend des westdeutschen Zerfalls in den Architekturbildern von Thomas Ruff."

Was soll das Ganze, das fragt sich Andreas Maurer auf dem Internationalen Filmfestival von Locarno, dessen Programm ihn bis auf wenige Ausnahmen bisher wenig überzeugen konnte: "Über Tage (100 Filmminuten) marschieren, tändeln, rasten sie, gelegentlich wechseln sie ein Wort, allmählich sogar über ihre doch unvorteilhafte Lage.Wieso verdurstet dabei das Publikum nicht?"

Weiteres: Georges Waser erläutert die jetzt beschlossenen Sanierungspläne für Stonehenge (Protest regt sich hier!). Frank Strasser erzählt von einer Ausstellung Cooper-Hewitt National Design Museum in New York, die dem Phänomen der Oberfläche gewidmet ist. Mit der zeitgenössischen Kunst in der Schweiz beschäftigt sich eine Schau im Musee d'art et d'histoire in Neuenburg, wie Irene Maier erfahren hat. Und es gibt Bücher: Vorgestellt werden etwa neue Studien zu Religion und Nationalsozialismus oder der fernwehträchtige Bildband "Kontinente" von Axel Hütte und Cees Noteboom. (Siehe unsere Bücherschau ab 14 Uhr.) Außerdem hat Marc Zitzmann mit dem Dirigenten Marc Minkowski gesprochen, von dem neue Aufnahmen erschienen sind.

FAZ, 07.08.2002

Andreas Kilb feiert den jüngsten Film von Pedro Almodovar (mehr hier), "Sprich mit ihr" und benennt das Dilemma des Kritikers bei jedem guten Film: "Wenn man versucht, eine der Geschichten nachzuerzählen, die der Spanier Pedro Almodovar seit gut zwanzig Jahren auf die Kinoleinwand malt, merkt man bald, wie man sich verirrt: ins Unwahrscheinliche, Unglaubwürdige, Gestelzte. Dabei sah im Film doch alles so einfach aus, so leicht. Was ist passiert? Ein Zauber ist verflogen. Ein Schimmer ist verblasst auf dem Weg von den Bildern zum geschriebenen Wort. Es ist dieser Schimmer, von dem Almodovars Kino lebt - und von dem, seit es Almodovars Filme gibt, auch das Kino selbst ein Stück weit lebt."

Weiteres: Jürg Altwegg schreibt über das Verbot der Unite radicale, aus der jener rechtsextreme Attentäter kam, der am 14. Juli Präsident Chirac erschießen wollte. Peter Gorsen fragt angesichts der Ausstellung "Gewaltbilder" im Wiener Museumsquartier, "was die künstlerische Gewaltfaszination von bloßer Gewaltverherrlichung" unterscheidet. Thomas Brechenmacher berichtet über neue, in der Zeitschrift Civilta Cattolica dargestellte Archivfunde im Vatikan, die belegen, dass Papst Pius XII. versuchte, im Jahr 1940 zwischen deutschen Widerständlern und dem britischen Geheimdienst zu vermitteln. Petra Kolonko klagt, dass die gnadenlose Zerstörung der Pekinger Altstadt wohl nicht mehr aufzuhalten sei. Ingolf Kern unterhält sich mit dem Chef der Berliner Festspiele, Joachim Sartorius, der versucht, trotz scharfer Etatbeschränkungen ein überzeugendes Programm auf die Beine zu stellen.

Für die letzte Seite besucht Eberhard Rathgeb das Gut Marbacka in Schweden an einem See, wo Selma Lagerlöf ihre Kindheit verbrachte und auch ihr berühmter Roman "Gösta Berling" spielt. Zhou Derong berichtet über neue Unabhängigkeitsbekundungen des taiwanesischen Präsidenten, welche in Festlandschina auf saure Reaktionen stoßen. Und Dietmar Dath schreibt ein kleines Porträt des streitbaren Schriftstellers Harlan Ellison, der zur Zeit mit AOL um Urheberrechtsfragen im Internet prozessiert. Auf der Medienseite unterhält sich Michael Seewald mit dem Programmchef der ARD, Günter Struve.

Besprochen werden eine Ausstellung des deutschen Fotokünstlers Heinz Hajek-Halke im Centre Pompidou, ein Auftritt des Bandeonisten Dino Saluzzi und des Rosamunde Quartetts beim Rheingau Musik Festival und eine Ausstellung der Sammlung Rolf Ricke im Neuen Museum Nürnberg.