Vorgeblättert

Leseprobe zu Jan Henderikse: Acheiropoieta

27.09.2010.
Jan Henderikse in Kunstsammlungen - Eine Einführung

Antoon Melissen



Wird man in Delft mit Bram Bogart, Jan Schoonhoven und Jan Henderikse denselben Fehler machen wie in der Vergangenheit mit Jan Vermeer und Carel Fabritius, sodass man woanders hinfahren muss, wenn man Werke dieser Delfter Bürger sehen will? Das fragt sich Jan Henderikse im Mai 1962 in einem Brief an einen Journalisten der Delftsche Courant und liefert selbst ein unumstößliches Argument für den Aufbau einer Sammlung: "Vielleicht ist einer von uns dreien in 100 Jahren ja ein Vermeer!"(1)
     Jan Henderikse in Zahlen: 21 öffentliche Kunstsammlungen in 17 Städten auf 2 Kontinenten besitzen insgesamt 66 Originalwerke. Das älteste Werk in einer Sammlung ist von 1956, das jüngste aus dem Jahr 2010; der erste Museumsankauf erfolgte 1960, der aktuellste einige Monate vor Erscheinen dieses Buches. Henderikses Multiples und Künstlerbücher wurden nicht in dieses Verzeichnis von Werken in öffentlichen Sammlungen aufgenommen. Die Künstlerbücher Broadway [a237], 1983, Images and Other Pictures [a264], 1985, und New York New York [a232], 1980, sind in einer derart eindrucksvollen Anzahl von Museumssammlungen, Staatsarchiven und Universitätsbibliotheken vertreten - von Oss bis Ottawa, von Kiel bis Curaçao -, dass eine Einzelaufstellung dieser Ausgaben den Stellenwert von Werken in öffentlichen Sammlungen schmälern würde.

66 Werke in öffentlichen Sammlungen, diese Erfolgsquote wäre 1962 wohl Musik in Henderikses Ohren gewesen. Und dennoch spiegeln die öffentlichen Sammlungen die schwierige Rezeption der Arbeiten aus der Zeit der Nederlandse Informele Groep und der NUL-Gruppe wieder. Niederländische Museen hatten - dies ist etwas verallgemeinert - lange Zeit fast gar kein Interesse für die niederländische Avantgarde der frühen 1960er-Jahre. Die erste NUL-Austellung 1962 im Stedelijk Museum Amsterdam hat inzwischen - und das nicht ohne Grund - die Anmutung eines Mythos? angenommen, und dennoch ist hier eine Nuancierung angebracht. Die Ausstellung kam nur wegen einer unerwarteten Lücke im Ausstellungsplan zustande, wie auch dank einer starken Lobbyarbeit - von vor allem Henk Peeters - und nachdem teilnehmende Künstler zugestimmt hatten, die Kosten selbst zu tragen.(2) Keines der ausgestellten Werke Henderikses wurde erworben. Von Jan Schoonhoven kaufte das Stedelijk Museum in dem Jahr ein Relief, R62-16, 1962, wenn auch eine Notiz von Direktor Willem Sandberg Bände spricht: "Darf getauscht werden (hat im Moment wenig Arbeit im Haus)."(3)
     Nach der Einzelausstellung Jan Henderikse Uses Common Cents im Jahr 1968 kaufte das Stedelijk Museum ein Münzrelief an, PNY 12C [a223], 1968. Es ist auffallend, dass 6 Arbeiten aus der Common Cents-Ausstellung Jahre danach, zwischen 1976 und 2009, dann doch noch in 5 niederländische Museumssammlungen aufgenommen wurden. Das staatliche Rijksbureau voor Kunsthistorische Documentatie (RKD) zeigte 1985 Interesse an Henderikses Werk, an der informellen Leinwand 253.59.94, Wit Schilderij [a67], 1959, dem Münzrelief PP34B [a222], 1968, und einer Assemblage mit Spritzen [a86], 1960. Insbesondere die letztgenannte Arbeit, als Dauerleihgabe im Van Abbemuseum in Eindhoven, verdient besondere Nennung. Von mindestens 7 Arbeiten dieses Typs, die Henderikse zwischen 1960 und 1963 machte, ist dies das letzte erhaltene Exemplar in einer öffentlichen Sammlung; ein vergleichbares und kleineres ist in Privatbesitz.
     Die wachsende Aufmerksamkeit für die NUL-Gruppe - und insbesondere für alte und aktuelle Arbeiten von Jan Henderikse - führte in den letzten Jahren zu wichtigen Ankäufen durch internationale Sammlungen. 2007 erwarb das Staatliche Museum Schwerin 13 Werke von Henderikse aus den Jahren 1967 bis 2006 als Ergänzung zu seiner wichtigen Sammlung mit Werken von Marcel Duchamp, Ben Vautier und Marcel Broodthaers. Das Museum Het Valkhof in Nimwegen erweiterte 2009 seine Sammlung um zwei Hauptwerke, ein Münzrelief [a170] von 1965 und die Assemblage PP 16 B [a114] aus Plastikflaschen von 1963, die auf dem Cover dieser Publikation abgebildet ist. Die Daimler Kunst Sammlung (Stuttgart und Berlin) kauft schon seit einiger Zeit an und besitzt Werke von Henderikse aus den Jahren 1962 bis 2010.

Jan Henderikse hat sehr produktive Phasen, die sich abwechseln mit Jahren von weniger oder weniger greifbarer Aktivität. Die Zeitspanne von Mitte der 1970er- bis Mitte der 1980er-Jahre, von Henderikse einmal charakterisiert als das Ende der Häng- und Stehkunst - "keine Kunst mehr an die Wand" -,(4) brachte eine große Menge bislang noch kaum inventarisierten oder erforschten Filmmaterials hervor. 2007 hat Sherman de Jesus in Zusammenarbeit mit der niederländischen Stiftung h:min:sec eine erste Auswahl von Henderikses Filmen erschlossen. Diese besonders fruchtbare Phase von nahezu 10 Jahren, die außerdem als Ursprung von Henderikses Interesse an der Fotografie gelten muss, stellt in der Übersicht von Arbeiten in öffentlichen Sammlungen, ironischerweise, ein Stück weiße Landkarte dar. Sobald wir Henderikses Künstlerbücher aber wieder in die Übersicht der Arbeiten in öffentlichen Sammlungen miteinbeziehen würden, verändert sich das Bild drastisch: Der größere Teil der Künstlerbücher entstand zwischen 1980 und 1985, wobei 1983 das absolute Rekordjahr war. Henderikses frühe Adaption des Mediums Film und dessen Bedeutung in Bezug auf sein Werk nach 1985 machen eine Inventarisierung notwendig und vor allem auch den Erhalt und die Erschließung für zukünftige Forschungen.

Wer in Delft, Köln und Düsseldorf, auf Curaçao, in New York, Berlin und Antwerpen arbeitet, hinterlässt Spuren. Erforscht man Henderikses Werk der späten 1950er-Jahre bis heute, gelangt man über Staats- und Museumsarchive, Sammler, Gespräche mit Fotografen, Kuratoren, Freunde des Künstlers und Augenzeugen unweigerlich zu den Archiven des Künstlers selbst. Gut 13 Monate Forschung, 2 Reisen nach New York und viele Wochenenden in Antwerpen - den gegenwärtigen Standorten des Künstlers - resultierten im Wiederentdecken und Finden von unbekanntem Material. Zum ersten Mal wurde es möglich, ein Bild von Henderikses Werkentwicklung über ein halbes Jahrhundert hinweg nun auch anhand der Arbeiten im Besitz des Künstlers und anhand von verfügbarem Fotomaterial zu entwerfen. Die Entdeckungen waren überwältigend, die Menge von Informationen zu bislang unbekannten Arbeiten noch mehr als das. Idi Henderikse-van Henneigen war eine reiche Quelle an Informationen und Faits divers, über die verschiedenen Ateliers, die ersten Ausstellungen, Werkdatierungen und Kontakte zu Künstlerfreunden. Ihr Beitrag lieferte den wichtigen Kontext und Ausgangspunkt für die Rekonstruktion schlecht dokumentierter Jahre.
     Henderikses Archive in New York und Antwerpen enthalten gut 700 Fotos von Werken, vom Ende der 1950er-Jahre bis heute. Es ist auffallend, wie gewissenhaft viele Arbeiten bereits in den frühen 1960er-Jahren im eigenen Atelier fotografiert wurden. In nicht wenigen Fällen konnten Arbeiten aber auch erst nach einiger Recherche identifiziert werden. Vor allem über Entstehungsjahre, Titel und Größen herrschte einige Male Unklarheit. Manchmal gaben alte Kataloge Aufschluss, zum Beispiel von Henderikses Einzelausstellung im Museo de Bellas Artes in Caracas (1967), genauso wie Zollpapiere, Henderikses Korrespondenz mit Museen, Galerien und Ausstellungskollegen sowie Notizen zu Entwürfen und Vorschlägen für Ausstellungen. Auch Fotos von Eröffnungen und Ausstellungssituationen, oft einfache Schnappschüsse, erwiesen sich als wertvolle Informationsquellen. Dieses Material wurde hervorgeholt aus Schachteln und Fotoalben, von Speichern und aus Kellern. Alte Kleinformataufnahmen, wie jenes von einer Eröffnung in der Galerie De Boog auf Curaçao von 1967 - Henderikse eröffnete die Ausstellung, indem er sich auf einem Motorrad in die Galerie hineinfahren ließ -, hielten Informationen bereit über bis dahin undatierte und unbeschriebenen Arbeiten. Einige Male wurde sogar anhand des Parketts oder der Tapete auf einem Foto die Galerie oder gar das Museum zugeordnet, um so zu ermitteln, wann und wo Werke ausgestellt worden waren. Hier spielten auch die Ausstellungsbesucher - auf dem Weg der Recherchen zu Augenzeugen geworden - eine entscheidende Rolle.

In Henderikses Ateliers, im Zentrum der rheinländischen Industrie oder unter der tropischen Sonne Curaçaos, entstanden oft Arbeiten, die mit ihrer direkten Umgebung unlöslich verbunden sind. "Das ist vielleicht sogar meine Blaue Periode", sagt Henderikse nicht ohne Ironie, und bezieht sich dabei auf das Lokalkolorit seiner Werke, den Wiedererkennungswert von karibischem Treibgut, der amerikanischen Porträtfotografie seiner Rejects oder Berlin vor dem Fall der Mauer in einer Installation wie Tale of Two Cities [b71e], 1989. Es diente manchmal als kleiner Anhaltspunkt der Datierung nicht erfasster Arbeiten, doch Vorsicht ist geboten. Henderikse ist ein talentierter Materialexporteur und -importeur: Eine Reihe der Münzreliefs, ausgestellt im Stedelijk Museum Amsterdam 1968, hat der damals in New York wohnende Künstler in Delft hergestellt, aus von Curaçao mitgebrachtem, antillischem Kleingeld. Seit Henderikse zugleich an mehreren Orten arbeitet, lassen Art und Beschaffenheit der Materialien nicht länger eindeutig und zuverlässig auf Ort und Jahr der Entstehung schließen. Datierungen ließen sich im Falle von Unklarheiten größtenteils auf zwei Jahre genau feststellen, dies wiederum mithilfe von unterstützendem Material wie Katalogen, Briefwechseln und eindeutig datierbaren Ausstellungsfotos.
     Aber Umzüge fordern auch ihren Tribut. Arbeiten verschwinden, manchmal aus unerfindlichen Gründen, werden gestohlen oder vergessen. Bei Ausstellungen im Ausland blieb nach Ablauf schon mal das ein oder andere Werk stehen. Transportkosten stellten vor allem in den frühen Jahren unüberwindbare Schwierigkeiten dar. Dass Henderikse weit weg war, auf Curaçao und später in New York, hat bei den Beteiligten auch manches Mal zu einer gewissen Bequemlichkeit geführt. Sein Archiv enthält gut 100 Fotos von Arbeiten mit unbekanntem Standort. Man muss in Betracht ziehen, dass die Produktion in den 1960er- und frühen 1970er-Jahren hoch war, dass Henderikse nicht durch Galeristen verkaufte und selbst nicht immer dokumentierte, wo Werke abblieben. Auch die Auflösung von Privat- oder Museumssammlungen spielt eine Rolle, wie im Fall der Sammlung Salco Tromp Meesters. Eine wichtige Assemblage mit Autokennzeichen aus dem Jahr 1965 [a163] ist seitdem verschwunden; ein Pendant dieser Arbeit, PP2A [a128], 1963, befindet sich seit 1985 im Bestand des Amsterdamer Stedelijk Museum. Ein Überfall ereignete sich 1967: Aus der Lobby des berühmten Chelsea Hotel in New York, in dem Henderikse damals wohnte, entwendeten zwei Jugendliche in einer Blitzaktion ein dort hängendes Münzrelief. Dass das Relief direkt in bare Münze umgewandelt wurde und somit als verloren angesehen werden muss, erscheint in diesem Fall wohl als die wahrscheinlichste Variante.
Dennoch wurde hier die Einordnung "verschollen" sehr sorgsam angewandt, außer wenn wie bei obigem Beispiel eine große Sicherheit über das Schicksal des Werks herrscht. Die Vorstellung, dass Werke dieses weltbürgerlichen Künstlers überall sein können, bietet aber auch - das hat sich bereits während der Recherche erwiesen - eine Zukunftsperspektive: Manchmal tauchen wichtige Arbeiten mit unbekanntem Standort plötzlich wieder auf, im Kunsthandel oder in Auktionshäusern in Lausanne und Prag und bei bis dahin unbekannten Sammlern in Barendrecht und Berlin.

Das Zusammenstellen eines vollständigen Werkverzeichnisses erschien von Anfang an als eine fast unmögliche Mission. Und doch konnten durch die Nachforschungen 150 bis dahin unbekannte und nie fotodokumentierte Werke identifiziert werden; in mehreren Fällen entstanden von bereits gut dokumentierten Werken erstmalig Farbaufnahmen.
     Schon in einer frühen Phase der Recherchen hat man sich zur Horizonterweiterung des Projekts entschlossen, diese Monografie zu veröffentlichen. Das zahlreiche Bildmaterial, das zusammengetragen wurde - und an dieser Stelle unmöglich in seiner Gänze gezeigt werden kann -, rechtfertigt die Anlage eines Werkverzeichnisses. Die Coderierungen, die in diesem Buch bei den Abbildungen oder bei nicht abgebildeten aber besprochenen Werken aufgeführt werden, beziehen sich auf Jan Henderikses Website, auf der sich vollständige Übersichten mit Titelbeschreibungen und Hintergrundinformationen finden. Mit dem Verzeichnis der Werke in öffentlichen Sammlungen, einer Auswahl aus Privatsammlungen und dem Konzept eines ausführlichen Werkkatalogs auf der Webseite will Jan Henderikse. Acheiropoieta die Erschließung eines ?uvre erreichen, das zu einem wesentlichen Teil für lange Zeit unbekannt oder dem Blickfeld entzogen war.
--------------------------

(1) Zit. nach: De Delftsche Courant, 14. Mai 1962, o. S.
(2) Siehe Schwarze Mappe Nr. 3, 1961/62, Archiv Henk Peeters, Rijksbureau voor Kunsthistorische Documentatie (RKD), Den Haag.
(3) Caroline Roodenburg-Schadd, Expressie en ordening. Het verzamelbeleid van Willem Sandberg voor het Stedelijk Museum 1945-1962, Rotterdam und Amsterdam 2004, S. 657-660.
(4) Zit. nach: Alles is licht. Jan Henderikse, Film von Sherman de Jesus, Memphis Film & Television, Utrecht 2001.
                                                  
                                                   *

Mit freundlicher Genehmigung des Verlages Hatje Cantz

Informationen zum Buch hier