9punkt - Die Debattenrundschau

Kleinstadt im Staat

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.03.2023. Der Bundestag soll verkleinert werden. Aber wie überzeugend sind die Pläne der Ampelkoalition, fragen die Zeitungen. Die Washington Post macht sich Sorgen über den Zustand der ukrainischen Armee nach einem Jahr Krieg. Die Welt schildert den innernigerianischen Streit um die Benin-Bronzen, Nachfahren der Könige gerieren sich wie die Hohenzollern. Und die NZZ fürchtet: Amerikanische Studenten leben in einer Hölle aus Mikroagressionen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.03.2023 finden Sie hier

Europa

Lange hatte man von der "nationalistischen" West-Ukraine und der "prorussischen" Ostukraine gesprochen. Die Ukrainer haben diesen Diskurs mit ihrem Widerstand gegen Putins Invasion auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen. Die Lage war schon immer komplizierter, schreibt Mykola Riabtchouk in desk-russie.eu: "Als die Sowjetära zu Ende ging, waren die meisten Ukrainer in der russischen Sprache erzogen worden, die meisten Publikationen und fast die gesamte Massenkultur wurden auf Russisch verbreitet, fast alle städtischen Zentren und öffentlichen Einrichtungen waren russischsprachig. Der hohe Grad der Russifizierung (und Sowjetisierung) verdeckte das Fortbestehen der lokalen ukrainischen Identität bei der Mehrheit der Bevölkerung. Die meisten russischsprachigen Ukrainer sind nicht zu Russen geworden - genauso wenig wie englischsprachige Schotten (oder Iren) zu Engländern geworden sind, obwohl sich viele von ihnen als Briten fühlen können."

Die Ukraine hat im Krieg bisher 120.000 Soldaten durch Tod oder Verwundung verloren, schätzt eine Reportergruppe bei der Washington Post. Die Verluste der Russen sollen bei 200.000 liegen. Die Reporter berichten über Sorgen, dass die ukrainische Armee zu geschwächt sei für die erwartete Frühjahrsoffensive. Der Westen ist an der misslichen Lage mit schuld: "Inwieweit die verstärkte westliche Militärhilfe und Ausbildung bei einer solchen Frühjahrsoffensive den Ausschlag geben wird, bleibt angesichts der sich abzeichnenden Zermürbung ungewiss. Ein hochrangiger ukrainischer Regierungsbeamter, der anonym bleiben wollte, bezeichnete die vom Westen versprochene Anzahl von Panzern als 'symbolisch'. Andere äußerten insgeheim ihren Pessimismus, dass die versprochenen Lieferungen überhaupt rechtzeitig auf dem Schlachtfeld ankommen würden."

Die Verkleinerung des nach der letzten Bundestagswahl auf einen neuen Rekordwert von 736 Sitzen angewachsenen Bundestags soll aller Voraussicht nach diese Woche beschlossen werden. Es gab in den letzten Jahren immer wieder Kommissionen, die bereits über die Verkleinerung debattierten, schreiben Robert Roßmann und Boris Herrmann auf Seite 3 der SZ, aber: "Verkleinert wurde mit all dem aber nicht die Zahl der Abgeordneten, sondern derer, die da noch durchblickten." Dazu kommt, dass "die Existenz von 736 Abgeordneten ja keineswegs bedeutet, dass im Bundestag nur 736 Menschen arbeiten würden. Jeder gewählte Parlamentarier darf auf Kosten der Steuerzahler Mitarbeiter beschäftigen. Das sind inzwischen mehr als 5.600. Und weil sich um all diese Leute eine Behörde kümmern muss - wir sind schließlich in Deutschland - ist auch die Bundestagsverwaltung mitgewachsen. Dort arbeiten mittlerweile knapp 3.000 Angestellte und Beamte. Man muss sich den Bundestagsbetrieb als eine Kleinstadt im Staat vorstellen. Genau wie in anderen Städten herrscht auch hier Wohnungsnot."

Der Beschluss sei auch ein "Lackmustest für die repräsentative Demokratie", kommentiert Robert Rossmann ebenfalls in der SZ, denn es stellt sich die Frage: "Sind die Abgeordneten zu Reformen in der Lage, die sie selbst betreffen - oder können sie nur andere beschneiden? (…) Wie schwer ihr die Reform fällt, sieht man daran, dass sie im letzten Moment vor der eigentlich versprochenen Reduzierung auf 598 Abgeordnete zurückgeschreckt ist. Das ist ärgerlich. Noch viel ärgerlicher ist aber, dass die Ampelkoalition von der Selbstbeschränkung, für die sie sich jetzt lobt, ansonsten nicht viel hält. Die Zahl der Mitarbeiter in den Bundesministerien steigt jedenfalls ohne Unterlass. Und keine Regierung hat sich bisher so viele Parlamentarische Staatssekretäre gegönnt wie die amtierende. Von Genügsamkeit ist hier nichts zu spüren."
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Politik

Gestern endete der Volkskongress in Peking. Eine historische Ära ging damit zu Ende, schreibt Fabian Kretschmer in der taz, das Zeitalter der Reformpolitik ist vorbei. Seit Deng Xiaoping war das System eigentlich darauf angelegt gewesen, genau dies zu verhindern: "Xi hat sich nun von fast allen diesen Prämissen verabschiedet. Nicht zuletzt hat er sich als erster Staatschef seit Mao eine dritte Amtszeit gesichert. Mehr noch: Er hat sich vom konsensbasierten Führungsmodell verabschiedet und nur mehr enge Verbündete in seine Mannschaft geholt. Auch sein Persönlichkeitskult hat orwellsche Maße angenommen."

Eine interessante Beobachtung macht Hendrik Ankenbrand in der FAZ: Die führenden Köpfe der in Ungnade gefallenen Technologie-Industrie sind nicht zum Volkskongress eingeladen worden: "Dass die Partei sie von dort oben zumindest mit Worten umarmt, dürfte die Verunsicherung kaum lindern, die unter den Unternehmern herrscht. Nachdem Peking die Gründerlegende Jack Ma aus seinem Internetimperium vertrieben hat, hat das Verschwinden des Bankers Bao Fan die Ängste gerade erst wieder neu entfacht."
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Stichwörter: China, Volkskongress

Ideen

Der Philosoph Ernst Tugendhat ist im Alter von 93 Jahren in Freiburg am Breisgau gestorben. Auf ZeitOnline erinnert Thomas Assheuer an einen großen Denker, der nicht nur bald mit seinem Lehrer Heidegger brach, sondern auch die gängigen Moralphilosophien und John Lockes liberale Vertragstheorie auf den Prüfstand stellte. "Immer wieder und mitunter mit polemischer Eleganz hat der Intellektuelle Ernst Tugendhat aus seiner Philosophie politische Konsequenzen gezogen. Unvergessen, wie leidenschaftlich er in den Achtzigerjahren für ein liberales Asylrecht kämpfte; wie er die Absurdität des nuklearen Overkills vor Augen führte und die moralische Legitimität des ersten Irakkriegs anzweifelte. Die Wiedervereinigung empfand er als 'Annexion' Ostdeutschlands, die mörderische Fremdenfeindlichkeit und der völkische Nationalismus der antisemitischen Neuen Rechten schockierten ihn zutiefst. Als ihm 2005 der Meister-Eckhart-Preis verliehen wurde, spendete Tugendhat das Preisgeld einer Schule in Palästina. 'Sollte es uns Juden nur möglich gewesen sein, der Vernichtung zu entgehen, indem wir das Schicksal der Vertreibung auf ein anderes Volk abwälzen?'" In der FR schreibt Michael Hesse, in der SZ Thomas Meyer.
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Kulturpolitik

Für die Welt resümiert Matthias Busse eine Tagung im Museum am Rothenbaum zum Thema "Benin: Welche Zukunft nach den Rückgaben?". Knapp drei Monate, nachdem Deutschland 22 Benin-Bronzen an Nigeria restituierte, sollte geklärt werden, wann und wo die Bronzen ausgestellt werden, Phillip Ihenacho, der Vorsitzende der Stiftung für das geplante Edo Museum of West African Art (Emowaa) in Benin City, der auch Mitglied der international besetzten Benin Dialogue Group (BDG) ist, fehlte allerdings - vermutlich weil innerhalb der BDG gerade darüber gestritten wird, wer ein neues Museum erhält, so Busse: die Herrscherfamilie von Benin oder die halbstaatliche Emowaa-Museumsstiftung. Als Gegenspieler von Ihenacho tritt der Bruder des Benin-Königs, Prinz Aghatise Erediauwa, auf, der den Familienbesitz zurückverlangt: "Er bestreitet eine Miteigentümerschaft der Bevölkerung des nigerianischen Bundesstaates Edo, dessen Territorium etwa das Kernland des historischen Königreichs Benin umfasst." Er erklärte: "'Es sind keine Kunstwerke, sondern sie sind spirituell. Wir erhalten mit ihnen unsere Seele, einen Teil unseres Lebens zurück.' Dass im Königreich Benin Menschen geopfert wurden, bis die Briten diese grausamen Rituale beendeten, sprach er so wenig an wie die Verstrickung seiner Vorfahren in den Sklavenhandel. Damit wird klar, dass unter königlicher Ägide den Museumsbesuchern nur eine einseitige, den Oba verherrlichende Deutung der Geschichte gezeigt werden würde. Eine unabhängige wissenschaftliche Arbeit bliebe so zumindest stark erschwert. Dass das Emowaa bereits entsteht, fand während des Abends keine Erwähnung."
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Gesellschaft

Im NZZ-Gespräch mit David Signer befürchtet der Soziologe Nicolas Langlitz, dass die zunehmende dominante "Opferkultur" an Universitäten die Wissenschaftsfreihheit bedrohe: Viele amerikanische Hochschulen haben "Microaggression Policies erlassen, die Studierende dafür sensibilisieren, Mikroaggressionen zu erkennen und zu ahnden. Das produziert Rückkoppelungseffekte: Studierende lernen, wachsamer zu werden und ihr Umfeld ständig auf Mikroaggressionen zu überprüfen. Der Gesundheitsdienst meiner Universität nennt als Beispiele für solch inakzeptables Verhalten Kurse, in denen primär weiße Autoren gelesen werden, zu schmale Stühle, auf denen beleibtere Menschen nicht bequem sitzen können, Studierende, die andere nicht nach ihren Geschlechtspronomen fragen, Professoren, deren Identität nicht das Identitätsspektrum der Studierenden abbildet. Mit dem Konzept der Mikroaggression sollen die Hochschulen umgestaltet werden."
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Stichwörter: Langlitz, Nicolas, Opferrolle