9punkt - Die Debattenrundschau

Schwachstellen in Netzwerken

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
31.03.2023. Jetzt wo die Taliban dran sind, werde sie wieder richtig fromm und heiraten nach der zweiten gleich auch noch eine dritte Frau, berichtet Zeit online. In der SZ erinnert Norbert Frei die BDS-Bewegung an die Juden-Boykotte der Nazis. Menschen und KI könnten künftig eine "Evolutionseinheit" bilden, glaubt der Evolutionstheoretiker Paul Rainey im Tagesspiegel. Derweil fordert eine Gruppe um Yuval Noah Harari, eine Zeitlang mit KI aufzuhören, meldet die FR.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 31.03.2023 finden Sie hier

Politik

Im 10nach8-Blog der Zeit berichtet eine namentlich nicht genannte Afghanin vom Anstieg der Vielehen in Afghanistan durch "die Lebensführung ranghoher Taliban-Führer, an der sich andere Männer orientieren: In dem Moment, in dem die Taliban die einzige Kraft mit politischer und gesellschaftlicher Macht im Land waren, begannen sie in die Tat umzusetzen, wovon sie zuvor bloß geträumt hatten: Kommandeure, die zuvor nur eine oder zwei Frauen hatten, sahen sich jetzt nach einer zweiten oder dritten um, und viele von ihnen nahmen sich schöne und noch sehr junge Frauen und Mädchen zur Ehefrau. Entwertet, unter Druck gesetzt und wie eine Ware behandelt, geraten diese jungen Frauen und Mädchen vielfach in psychische Notlagen. Viele von ihnen haben mit Wut, Depressionen und Stress zu kämpfen und tragen als Konsequenz seelische Schäden und psychische Erkrankungen davon."

Wir erleben seit Anfang des Jahres so etwas wie die "Rache des Zweiten Israel", schreibt der Historiker Michael Wolffsohn in der Welt. Auf der einen Seite stehe das eher nicht religiöse, europäisch-aschkenasische, "weiße" Israel, auf der anderen das religiöse sowie orientalische, "schwarze" jüdische Israel, das  - bislang ökonomisch und bildungspolitisch zu kurz gekommen - , inzwischen die Mehrheit der jüdischen Israelis ausmache, fährt Wolffsohn fort: "Das gegenwärtige mit Religionsstreit vermengte Orient-Okzident-Drama Israels hat eine Vorgeschichte. Als die eigentliche Aristokratie Zions verstanden und präsentierten sich die nichtreligiösen linken und linksliberalen Zionisten meist osteuropäisch-kleinbürgerlicher Herkunft. Sie betrachteten die knapp 800.000 seit 1948 aus Nordafrika und Westasien ins Land strömenden, sich den Verfolgungen in ihren islamischen Herkunftsländern entziehenden, orientalisch-jüdischen Geflüchteten als 'Juden zweiter Wahl'. Den linken Aristokraten Israels waren die 'Orientalen' zu ungebildet, zu wenig leistungsmotiviert und zu religiös. Tuschelnd nannte man sie 'Die Schwarzen' oder lautmalerisch böse 'Tschachtschachim'. Betonkopfig oder steinherzig war, wer glaubte, die Orientalen würden diesen Dünkel nicht wahrnehmen."
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Europa

Bereits kurz nach Beginn des Kriegs gegen die Ukraine wurden der SZ geleakte Dokumente der Moskauer Software-Firma "NTC Vulkan" zugespielt, elf internationale Medien werten derzeit die "Vulkan Files" aus, die Einblicke in die russische Cyberstrategie und die engen Verbindungen zwischen Privatfirmen und staatlichen Hackern geben. Ein Reporterteam der SZ gibt erste Antworten: "Vulkan hat ein System entwickelt, um automatisch Schwachstellen in Netzwerken aufspüren und in einer geheimen Datenbank speichern zu können. Staatliche Hacker könnten diese dann für Cyberangriffe nutzen. Ein anderes Produkt wurde als eine Art 'digitale Allzweckwaffe' entworfen. Es soll offenbar ganze Regionen vom freien Internet abschneiden und isolieren. Stattdessen soll ein lokales Netz eingerichtet werden, das eine umfassende Überwachung ermöglicht. Andere Elemente des Programms haben zum Ziel, soziale Medien zu überwachen oder mit Propaganda zu fluten. In einem Trainingsmodul geht es zudem auch darum, Hacker zu lehren, wie sie Kontrollsysteme des Eisenbahnverkehrs oder von Kraftwerken lahmlegen können." Mehr unter anderem hier.

In der taz kritisiert der Politikwissenschaftler Alexander Rhotert scharf den Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft für Bosnien, den ehemaligen deutschen Landwirtschaftsminister Christian Schmidt, der immer wieder die Kriegsverbrechen in den Jugoslawienkriegen verharmlose. Am 9. März bezeichnete Schmidt nun "auf einem Balkan-Forum in Budapest laut Anwesenden den Völkermord von Srebrenica als eine 'genocide-style situation'. Wirklich? Eine 'völkermordartige Situation' oder eine 'Situation im Stile eines Genozids' kennt das internationale Recht nicht. Für solche rhetorischen Entgleisungen sollten die Opfer eine umgehende Entschuldigung erwarten können, die erwartungsgemäß ausblieb. Warum? Weil Bosnien in Deutschland wenige interessiert, die Entscheidungen treffen.  ... Schmidt hat sämtliche Hoffnungen enttäuscht, strikter gegen serbische und kroatische Nationalisten vorzugehen, denen die Existenz des multiethnischen Bosniens ein Dorn im Auge ist. Obwohl Schmidt Macht und Mittel hat, gegen sie vorzugehen, tut er dies nicht. Im Gegenteil: Er stellt selbst den destruktiv agierenden Machthabern Serbiens und Kroatiens regelmäßig eine Carte blanche aus, indem er ihnen attestiert, einen mäßigenden Einfluss auf Bosnien zu haben."

Laut "Reporter ohne Grenzen" steht Russland auf Platz 150 von 180, was Presse- und Meinungsfreiheit betrifft. Mit dieser Information hat man daher nicht gerechnet: ein Bericht der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Ria Nowosti berichtet über ausbleibende staatliche Entschädigungen an verwundete russische Soldaten, meldet Stephanie Munk in der FR: "Bis zu drei Millionen Rubel (umgerechnet rund 36.000 Euro) sollen kriegsverwundete Soldaten vom Staat erhalten, versprach Putin (...) Doch schon wenige Wochen später veröffentlichte das russische Verteidigungsministerium laut dem Bericht eine Liste mit bestimmten Verletzungen, bei denen eine staatliche Entschädigung gewährt werde. Schon damals hätten russische Menschenrechtsaktivisten Alarm geschlagen: Die Liste widerspreche dem Erlass von Putin. Und an dieser Liste des Verteidigungsministeriums scheitern die Entschädigungszahlungen wohl auch teilweise - zumindest schilderten dies mehrere enttäuschte und verzweifelte russische Soldaten im Interview mit Ria Nowosti. Um eine Entschädigung zu erhalten, müssen die Soldaten offenbar eine Bescheinigung mit ärztlicher Diagnose vorlegen. Daran scheint es bei einigen Betroffenen zu hapern: Ria Nowosti schildert mehrere Fälle, bei denen keine Entschädigung gewährt wird, weil die Soldaten angeblich nicht aufgrund des Ukraine-Kriegs gesundheitlich beeinträchtigt sind, sondern wegen allgemeiner Krankheiten."

Während die polnische Regierung Deutschland immer wieder scharf kritisiert, nicht genug für die Ukraine zu tun, hat in Polen der Bauernführer Michał Kołodziejczak mit einigen Anhängern nach einem gescheiterten Gespräch mit Polens Landwirtschaftsminister Henryk Kowalczyk das Ministerium besetzt, um die zollfreie Einfuhr von ukrainischem Getreide rückgängig zu machen, berichtet die FAZ. "Am Donnerstag sagte Regierungssprecher Piotr Müller, Polen fordere gemeinsam mit anderen ostmitteleuropäischen Ländern die EU-Kommission auf, Mechanismen für den Weitertransport von ukrainischem Getreide zu schaffen. 'Wir können den Transport in afrikanische Länder unterstützen, aber wir müssen die Situation in Polen im Auge behalten', sagte Müller. Der Streit in Warschau macht deutlich, wie sehr die Regierung den 34 Jahre alten Kołodziejczak fürchtet."

Außerdem: Tilman Spreckelsen hat für die FAZ im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg eine Ausstellung zur Geschichte und Zukunft der Migration besucht, deren "kluge Auswahl" und Präsentation von Einzelfällen er lobt.
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Gesellschaft

An den ersten Juden-Boykott der Nazis am 1. April 1933 erinnernd, kann sich der Historiker Nobert Frei in der SZ "nur wundern, wie unbekümmert auch hierzulande, besonders in den Universitäten, manche das B-Wort im Munde führen, wenn es um Israel geht. Die BDS-Bewegung (…) wird nicht akzeptabler, nur weil jeder Widerspruch und jede Form zivilen Ungehorsams gegen die verheerende Politik der Netanjahu-Regierung dringend geboten ist. Boykott ist auch deshalb das völlig falsche Mittel, weil er am meisten jene träfe, die sich in den Straßen von Tel Aviv gegen die Abschaffung der Gewaltenteilung stemmen, ja gegen das Ende der Demokratie: Wissenschaftler, Kulturschaffende und all jene, die immer schon gegen die Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten und für die vollen, gelebten Bürgerrechte der arabischen Israelis eintreten."

Während die Israelis zu zehntausenden gegen ihre Regierung protestieren, bleibt es im Gazastreifen stumm, obwohl sich auch dort viel Frust über die alles kontrollierende Hamas gebildet hat, berichtet Andreas Scheiner in der NZZ. Erfahren hat er das aus 25 kurzen, rund zweiminütigen Animationsfilmen die das Center for Peace Communications in New York realisiert hat, weil sich die Palästinenser zumeist nicht trauen selbst offen vor einer Kamera zu sprechen. Das Center ist "eine Non-Profit-Organisation, die es sich laut ihrer Website zur Aufgabe gemacht hat, 'spaltende Ideologien zurückzudrängen und eine Mentalität der Integration und des Engagements zu fördern'." Gründer und Präsident ist Joseph Braude, "ein Amerikaner mit, wie er sagt, 'hybridem' jüdisch-irakischem Hintergrund". "In der Auswahl der Interviewpartner sei ein möglichst breiter Querschnitt der Gesellschaft gefragt gewesen, auch politisch. Einzig Hamas-Sympathisanten habe man nicht gewollt, sagt Braude. 'Die haben schon eine Plattform, die brauchen uns nicht.' ... Wer den Videos eine proisraelische Schlagseite unterstellt, hat sie nicht gesehen. Sie geben den unterschiedlichsten Standpunkten Raum. Da ist jemand wie Iyad: Er ist weder apolitisch noch apathisch: Palästina sei eine gerechte Sache, sagt er. Aber dass dafür Menschen sterben müssen, will er nicht akzeptieren."

Hier alle Filme. Und hier der erste:



Die Institution der Ehe produziert die "Ungleichheit und Unterrepräsentation von Frauen in vielen Sphären der Macht", sagt die Autorin Emilia Roig, die in ihrem aktuellen Buch die Ehe ganz abschaffen will, im Welt-Gespräch mit Ute Cohen: "Das Problem mit der Ehe ist, dass sie einen ausschließenden und hierarchisierenden Effekt hat. Menschen, die nicht in dieses Konstrukt passen, werden benachteiligt, und zwar nicht nur steuerrechtlich. Eine Abschaffung der Ehe würde diese Koexistenz unterschiedlicher Systeme auf Augenhöhe erlauben."

"Die Mehrheit der Frauen fühlt sich nicht als Opfer. Wenn Sie statistisch repräsentativ Frauen befragen, dann sehen die meisten nicht weniger Aufstiegschancen als Männer im Beruf", sagt indes der Soziologe Martin Schröder, dessen Buch "Wann sind Frauen wirklich zufrieden?" auf einer Langzeitstudie mit 700.000 Befragten basiert, im NZZ-Gespräch mit Birgit Schmid: "Die Frauenbewegung hatte einst zum Ziel, dass jede Frau so leben soll, wie sie will. Inzwischen dominiert ein Opferfeminismus, der moralisch aufgeladen ist und etwas Bevormundendes hat. Es ist ein illiberaler Feminismus, der anderen vorschreibt, wie sie zu leben haben. Einer Frau, die sich nicht benachteiligt fühle, sei etwas entgangen, so wird gemutmaßt. Das postuliert die Theoretikerin Judith Butler: Frauen hätten sich so sehr an ihre Unterdrückung gewöhnt, dass sie sich ein freies Leben gar nicht mehr vorstellen könnten."
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Kulturpolitik

Im Dezember forderte Kulturstaatsministerin Claudia Roth, den Namen Preußens aus der Bezeichnung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz zu streichen. Die ganze Debatte war offenbar ein "Ablenkungsmanöver", schreibt Bernd Müller in der Berliner Zeitung: "Denn nach dem Willen des Stiftungsrates, dem Roth vorsteht, soll die gesamte Struktur des Kulturkolosses umgebaut werden. Als 'dysfunktional' und 'überfordert' wurde sie in der Vergangenheit bezeichnet. Daher solle den einzelnen Einrichtungen mehr Autonomie und Eigenverantwortung gewährt werden, damit sie ihre Potenziale besser ausschöpfen können. So hat es der Stiftungsrat im Dezember beschlossen. Schon diese Entscheidung des Gremiums steht allerdings im Widerspruch zu den Strukturempfehlungen des Wissenschaftsrates aus dem Jahr 2020. Und das sorgt innerhalb der Einrichtungen der Stiftung für Unmut, wie aus internen Schreiben hervorgeht. Das betrifft etwa den Verbund der Staatlichen Museen Berlin (SMB), dessen zentrale Strukturen aufgelöst werden sollen. Die Namensdebatte, so munkelt man intern, sei eine Nebelkerze, um von nachhaltigen Strukturreformen abzulenken, die der bisherigen Führung gefährlich werden könnte."
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Internet

Menschen und KI könnten künftig eine "Evolutionseinheit" bilden, "wobei sowohl Menschen als auch KI Bestandteile einer einzigen, sich auf höherer Ebene replizierenden Einheit sind", glaubt der Evolutionstheoretiker Paul Rainey im Tagesspiegel-Gespräch: "Ich denke, in gar nicht so ferner Zukunft werden sich Menschen nicht mehr autonom entwickeln. Unsere Spezies ist in Jahrmillionen durch das machtvolle Wirken der natürlichen Auslese entstanden. In jeder Generation konnten sich die am meisten fortpflanzen, deren Nachkommen am besten an Ihre Umwelt angepasst sind. So wie das auch bei allen anderen Organismen der Fall ist. Das könnte sich nun ändern. Künftig könnten diejenigen die besten Chancen haben, die gemeinsam mit einer KI am erfolgreichsten agieren. Mensch und KI werden sich in einer Symbiose weiterentwickeln." Auch die Entwicklung einer autonomen KI hält er nicht für unwahrscheinlich.

Derweil hat "Yuval Noah Harari gemeinsam mit anderen Intellektuellen, FachexpertInnen und UnternehmerInnen, darunter Apple-Mitgründer Steve Wozniak, Skype-Mitgründer Jaan Tallinn und Tesla-Chef Elon Musk, einen offenen Brief verfasst, in dem sie eine Pause im Wettlauf um immer bessere Programme fordern", meldet Michael Hesse in der FR: "Der Grund: Die Risiken seien unkalkulierbar." In dem Brief heißt es: "'Wir rufen alle KI-Labore auf, sofort und für mindestens sechs Monate das Training von KI-Systemen zu stoppen, die mächtiger sind als GPT-4'. Sollten die Labore darauf nicht reagieren, müssten eben Regierungen für ein Moratorium sorgen. Die Risiken erforderten Planung und Management, so die Gruppe um Harari. In den Laboren könnten die Fachleute ihre Systeme selbst nicht mehr 'verstehen, vorausberechnen und verlässlich kontrollieren'." Empfohlen wird, eigene KI-Behörden einzurichten.
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