Efeu - Die Kulturrundschau

In der Position des Sternguckers

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29.12.2014. Der kanadische Fotograf Jeff Wall erklärt in der Welt, wann ein Foto für sich steht. Die taz sagt der Post-Rock-Band To Rococo Rot leise Servus. Die SZ bewundert die italienische Mode der Nachkriegszeit. Der Standard verliert sich in den optischen Täuschungen Peter Koglers. Egomanische Theaterregisseure bekommen zum Jahresende kräftig eins auf die Mütze: von Martin Geck in der FAZ und Andras Schiff in der NZZ.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.12.2014 finden Sie hier

Kunst


Bilder erzählen keine Geschichte, die erfindet sich der Betrachter, meint Jeff Wall. Foto: After "Spring Snow", by Yukio Mishima, chapter 34, 2000-2005, fotografiert 2002. © Jeff Wall

Der kanadische Fotograf Jeff Wall, derzeit mit einer Schau im Kunsthaus Bregenz zu sehen, erklärt im Interview mit der Welt, warum teure Kunst in der Regel echte Qualitäten hat, wie seine Kunst entsteht und wann ein Foto für sich stehen kann: "Bei dem Bild "A Man with a Rifle" weiß der Betrachter gleich etwas, denn nicht viele Menschen verhalten sich so wie der Mann auf dem Foto. Aber da hört es auch schon wieder auf. Die Information, der Journalismus ist abwesend. Auf gewisse Weise ist Fotografie das Verbannen des Journalismus, Tilgung der Sprache. So kann das Ding selbst als Bild erscheinen, zu dem der Betrachter eine ästhetische Beziehung aufbaut - zur Komposition, nicht zum Ereignis. Aber es bleibt natürlich immer etwas Ungesehenes, das stimmt."

Tagesspiegel und taz bilanzieren das Kunstmarkt-Jahr: Nie zuvor wurde soviel Geld für Kunst ausgegeben, weiß Brigitte Werneburg. Dass dies weniger an Preisrekorden liegt, sondern an den in der Breite gestiegenen Beträgen, erfahren wir von Matthias Thibaut. Hohe Preise, schreibt er weiter, erzielten aber nicht nur moderne, als Investition geltende Werke, sondern auch klassische, von passionierten Sammlern gekaufte Kunst: "Kunst zeigte also auch 2014, dass sie nicht nur teuer ist, weil sie für manche zum Kasinochip wurde, sondern weil sie Teil von Geschichte, Kultur, historischem Wissen, verfeinertem Geschmack und Achtung vor der historischen Leistung unserer Vorfahren ist." Jan Bykowski wirft unterdessen einen genaueren Blick auf das Berliner Auktionsgeschehen.


Peter Kogler im Museum für zeitgenössische Kunst in Zagreb

Adelheid Wölfl besucht für den Standard die Schau des österreichischen Künstlers Peter Kogler im Zagreber Museum für zeitgenössische Kunst. Zwischen Lichtkäfigen, Röhrenschlangentapete und Ratten auf LED-Bahnen verliert sie ums Haar die Orientierung: "Koglers Werk veranschaulicht das Verhältnis zwischen Körper und Raum, indem etwa Relationen verschoben werden. Einmal denkt man, man würde vor einem Mikroskop sitzen und in die Welt der Nanopartikel hineingezoomt werden. Ein anderes Mal ist man eher in der Position des Sternguckers im Weltall. Verkleinern. Vergrößern. Rastern. Zerteilen. Zerschichten. Kogler dekonstruiert nicht nur Körper, er analysiert auch gleichzeitig unsere Möglichkeiten, diese wahrzunehmen."

Weitere Artikel: Gegen Jeff Koons wurden (wieder) Plagiatsvorwürfe erhoben, meldet der Standard. Im Interview mit dem Standard erklärt Reinhard Kannonier, Rektor der Kunstuniversität Linz, was sich in den 14 Jahren seiner Amtszeit verändert hat. Die Studenten zum Beispiel: "Wir haben heute eine unglaublich brave, sehr angepasste Studierendenpopulation." In der NZZ beschreibt Katrin Roth-Rubi die skulptierte Flechtwerkkunst des frühen Mittelalters im Kloster St. Johann in Müstair. Das Spätmittelalter deutete Joseph von Nazareth erstaunlich modern, erfährt Rudolf Neumaier (SZ) bei der Lektüre eines Aufsatzes von Walter Pölzl im aktuellen Bayerischen Jahrbuch für Volkskunde. ZeitOnline bringt eine Strecke mit Fotos aus einem Kennedy-Bildband.

Besprochen werden eine Retrospektive zum Werk Norbert Nestlers (Bild) in der Neuen Galerie in Graz ("dieses Bunte, Weiche und Runde, das heute lustig und freundlich-harmlos wirkt, [war] einmal nicht nur formal progressiv", erinnert Michael Wurmitzer im Standard), eine Rembrandt-Ausstellung in der National Gallery in London und eine Ausstellung des Museums Schnütgens über die Heiligen Drei Könige (beide FAZ).
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Musik

Zwar blickt die Post-Rock-Band To Rococo Rot ihrer Auflösung nach 19 Jahren sehr gelassen entgegen, doch Thomas Winkler (taz) packt dann doch die Wehmut - zumal die Berliner Band hierzulande wohl deutlich weniger vermisst werden wird als etwa in der ausländischen Musikpresse. Dabei gab sie in den späten Neunzigern "dem damals virulenten Schwebezustand zwischen analogem Gestern und digitalem Morgen ein Klangbild, das zugleich futuristisch und alltäglich anmutete. Eine, wenn man so will, elektronische Klangtapete, in der scheinbar selbstverständlich das Wissen mitschwang, dass Computer demnächst nicht nur die Arbeitswelt, sondern bald auch das Privatleben bestimmen würden."

Weitere Artikel: Im Interview mit dem Standard erklärt das neue Führungsteam der Wiener Philharmoniker, Andreas Großbauer und Harald Krumpöck, welche Tradition sie bewahren und was sie verändern wollen. H.P. Daniels (Tagesspiegel) besucht die 17 Hippies in ihrem Proberaum.

Besprochen werden ein Konzert von Michael Barenboim (Tagesspiegel) und eine Compilation über Jazz in Frankfurt, die mit lediglich zwei CDs für Hans-Jürgen Klinke (FR) viel zu viel ausspart.
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Film



Der schwedische Regisseur Roy Andersson erklärt im Interview mit dem Standard, welche der 39 Szenen für seinen preisgekrönten Film "Eine Taube sitzt auf einem Zweig und denkt über das Leben nach" er zuerst im Kopf hatte: "Ich dachte zuerst an Karl XII. Eine andere Idee, die es schon sehr lange gibt, ist die von der grotesken Tötungsmaschine am Ende. Eine Inspirationsquelle dafür ist der "Sizilianische Bulle", ein dort im 6. vorchristlichen Jahrhundert gebräuchliches Folterinstrument: Menschen wurden in einen Bronzebullen gesperrt, darunter wurde Feuer gemacht. Ihre Schreie sollen wie die Schreie eines Stiers geklungen haben." Für den FAZ-Rezensenten Andreas Kilb weist der Film dem "europäischen Kino einen neuen Weg zu den Welten von Kafka und Beckett".

Weitere Artikel: David Steinitz staunt in der SZ darüber, wie Shah Rukh Khan seine ungeheure Follower-Power auf Twitter gewinnbringend einsetzt: "Preisgünstiger und gleichzeitig reichweitenstärker kann Film-PR kaum sein." Und etwas Augenzucker: Mubi gibt die schönsten Filmplakate des Jahres bekannt.

Besprochen werden Robert Guédiguians Feel-Good-Movie "Cafe Olympique" (Tagesspiegel) und Isao Takahatas Anime "Prinzessin Kaguya" (Presse).
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Literatur

Beim Aké Arts and Books Festival in Nigeria wurde vor allem "die politische Bedeutung zeitgenössischer Dichtkunst" ausgelotet, berichtet Vera Botterbusch in der SZ. Das Festival "will Brücken schlagen in einem Land, das den Anschluss an die moderne Zivilisation sucht und Kunst und Literatur als wesentlichen Teil von Fortschritt und Eigenständigkeit begreift".

Weitere Artikel: In der Welt liest Tilman Krause anlässlich des 50. Todestags Bernard von Brentanos dessen Roman "Theodor Chindler" neu (auch Wilhelm von Sternburg von der FR erinnert sich an den Schriftsteller). Adrian Lobe informiert in der FAZ über den Stand der Dinge im Bereich künstlicher Intelligenzen, die Literatur verfassen: Noch bleiben die so entstandenen Texte "fragmenthaft".

Besprochen werden u.a. Joshua Cohens "Vier neue Nachrichten" (Tagesspiegel), Jean-Philippe Toussaints "Nackt" (taz), JP Ahonens und KP Alares Comic "Perkeros" (Tagesspiegel), Resi Langers Gedichtband "Rokoko und Kinotypen" (Tagesspiegel) und Yuri Herreras Novellenband "Der König, die Sonne, der Tod" (ZeitOnline).

Außerdem jetzt online bei der FAZ: Die aktuelle Lieferung der Frankfurter Anthologie, diesmal mit Albert von Schirndings "Nachricht an meinen Engel":

"Sag ihm
weil ichs ihm selbst nicht beibringen will:
Er kann jetzt gehn ..."
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Bühne

Wenig bis nichts hält der Musikwissenschaftler und Wagner-Experte Martin Geck in der FAZ von den großen Wagner-Inszenierungen der letzten Zeit: Wagner an den großen Häusern sei heute ein reiner "Abenteuerspielplatz" für um politische Distanz bemühte Wagner-Kretins und Egomanen, meint er. Sein Vorschlag für Regisseure: Einfach mal Pause machen und Wagner-Seminare besuchen. "Sie hätten dann künftig eine ehrliche Wahl, ob sie Wagners intelligenten Tönen in ihrer nächsten Regiearbeit nachgehen oder vor ihnen bewusst die Ohren verschließen wollen."

Der Pianist András Schiff kritisiert in der NZZ den "Euro-Trash" auf deutschen Bühnen. Warum müssen sich Regisseure immerzu über den Dramatiker erheben, fragt er. "Der Neunmalkluge nimmt seinen Rotstift, korrigiert ohne Rücksicht auf Verluste Wörter, Sätze, Abschnitte, streicht ganze Szenen aus dem Buch oder ändert beliebig deren ursprüngliche Reihenfolge. Er spielt mit dem Text wie die Katze mit der Maus. Und der Autor? Er ist in der Regel tot und somit wehrlos. Wen soll denn sein vermeintlich angestaubter Text kümmern? Er mag ruhig auf der Strecke bleiben".

Weitere Artikel: Die SZ resümiert das Theaterjahr 2014: Till Briegleb beobachtet eine Politisierung der Bühnen im Zuge der AfD-Erfolge und der NSU-Affäre. Mit dem postmigrantischen Theater des dafür als "Bühne des Jahres" ausgezeichneten Gorki-Theaters in Berlin "erfindet [Deutschland] sich gerade neu", schreibt Mounia Meiborg. Peter Laudenbach sah allenthalben Hunde und Hündisches auf deutschen Bühnen. Egbert Tholl beobachtet die Konjunktur des Ersten Weltkriegs. Und "was für ein Krimi" ruft Christine Dössel im Rückblick auf den Finanzskandal am Wiener Burgtheater aus.

Und die Nachtkritik gibt ihre am meisten gelesenen Texte des Jahres bekannt.
Archiv: Bühne

Design


Links: Fendi, double-breasted mink coat, with chevron patterns in three alternating colors on the top and full white horizontal bands on the lower section, connected by a zipper, autumn/winter 1960-61. Courtesy Archivio Storico Fendi. Rechts: Sorelle Fontana, redingote of ecclesial inspiration, in wool with red piping, cardinal's hat with cord and tassels, chain with cross, 1955. Made for Ava Gardner. Courtesy Archivio Storico della Fondazione Micol Fontana

Die Ausstellung "Bellissima" im Museum Maxxi in Rom versammelt italienische Nachkriegsmode bis zum Jahr 1968. Schon beim Betreten der Ausstellung packt Thomas Steinfeld (SZ) die reinste Verzückung: "Wie grafisch diese Mode war, wie physisch, ja skulptural gedacht und gestaltet."
Archiv: Design