Magazinrundschau

Hack es durch

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Freitag Mittag
11.06.2014. William T. Vollmann feiert den irakischen Autor Hassan Blasim in Bookforum als Meister des außerordentlichen Grauens. In der Paris Review denkt Karl Ove Knausgaard beim Anblick eines Genicks an Mord. Den Guardian gruselt die Umsetzung sarrazinscher Eugenik in China. Eurozine beklagt den Verfall der brasilianischen Architektur. La vie des idees spielt um einen Job bei L'Oreal.

Bookforum (USA), 01.07.2014

In der Sommerausgabe des Bookforum vergleicht der Schriftsteller William T. Vollmann ("Europe Central") zwei fiktionale Bücher über den Irakkrieg, Phil Klays "Redeployment" und Hassan Blasims "The Corpse Exibition". Vollmanns Fazit: Blasims Blick auf den Krieg, der eines Irakers nämlich, ist noch finsterer, als derjenige hartgesottener Marines bei Klay, die immerhin Familie und Kameradschaft haben, und fantastischer dazu: "Er ist ein magischer Realist wie Borges, der mit der Magie des Todes hantiert. Seine Figuren sind Zivilisten, ruiniert vom Krieg und den Folgen. Seine Fantasie treibt schaurige Blüten. Die Toten reden und kannibalisieren einander ... Manche haben außergewöhnliche Fähigkeiten. Als ein Iraker im Buch von Terroristen entführt und gefoltert wird, weil er Pornos verkauft, lässt er ihre Messer und Säbel verschwinden, sodass sie ihm nicht die Arme abhacken können. Also schießen sie ihm die Arme ab… Außerdem hat Blasim Humor. So wird ein Entführter von einer militanten Gruppe zur nächsten durchgereicht, um diese alptraumhaften Beichtvideos zu drehen. Erst ist er ein irakischer Offizier, der im Auftrag der Amerikaner tötet und vergewaltigt und vor einem Haufen abgeschlagener Köpfe posiert. Dann ist er ein vom Iran verdingter Mörder, dann ein sunnitischer Terrorist usw. Zum Schluss soll er einen blutrünstigen Al Qaida Anführer spielen, der zuschaut, wie man ihm Menschenopfer darbringt, während er die Schöpfung verflucht. Blasim ist ein Meister des außerordentlichen Grauens." Wichtig findet Vollmann übrigens beide Bücher, da sie uns von einem Ort berichten, wo Alpträume wahr werden.
Archiv: Bookforum

HVG (Ungarn), 28.05.2014

In der vergangenen Woche lief in den ungarischen Kinos Eszter Hajdús Dokumentarfilm "Urteil in Ungarn" über den Strafprozess in einer Mordserie an Roma in den Jahren 2008-2009 an. Im Interview mit Tibor Rácz sagt die Regisseurin: "Als Filmemacherin war der Prozess eine spannende Herausforderung, denn in einem einzigen winzigen Raum konzentrierten sich alle Aggressionen und Emotionen. Der Fall ereignete sich in Ungarn, doch diese rechtsextreme Ideen sind nicht nur in Ost-Europa, sondern beinahe auf dem gesamten Kontinent präsent, und sie werden immer stärker. Ähnliche Fälle findet man beispielsweise auch in Deutschland, nur dass dort gegen die türkische Minderheit rassistische Angriffe erfolgten, und ähnlich wie bei der Aufklärung der Romamorde in Ungarn, wurden auch dort die Kriminalinspekteure Gefangene ihrer eigenen Vorurteile."
Archiv: HVG

Paris Review (USA), 28.05.2014

In der Paris Review denkt Karl Ove Knausgaard anlässlich einer Fotoserie von Thomas Wågström (Bildbeispiele im Text) in einem schönen langen Essay über die andere Seite des Gesichts nach, genauer: das Genick. Hier der Anfang: "Wenn ich an das Genick denke, dann fallen mir dazu als erstes die Guillotine ein, Enthauptungen, Hinrichtungen. Das ist ein bisschen seltsam, den ich lebe in einem Land, in dem es keine Hinrichtungen gibt, auch keine Guillotinen. Enthauptungen gar sind ein völlig marginales Phänomen in der Kultur. Dennoch, wenn ich an das Genick denke, denke ich: hack es durch."
Archiv: Paris Review

Eurozine (Österreich), 06.06.2014

Dass Brasiliens Städte zu brutalen Molochen angewachsen sind, kann Tom Hennigan nur zum Teil der bekannten städtbaulichen Unfähigkeit der portugiesischen Kolonisatoren zuschieben. In einem Artikel, den Eurozine von der Dublin Review of Books übernimmt, macht er für Brasiliens städtebauliches Versagen vor allem die Militärs verantwortlich, die mit ihren Architekten von Oscar Niemeyer bis João Batista Vilanova Artiga auch die Moderne aus dem Land getrieben haben: "Während der Militärdiktatur verloren die Architekten das Ansehen, welches sie noch in den Jahrzehnten vor dem Putsch genossen. Das Land litt, seitdem die Militärs an die Macht kamen, unter einem intellektuellen Niedergang. Es waren nicht mehr die Architekten, die über das Design entschieden, sondern die Bauherren. Mit ihnen kam Nachahmung und Kopie in Mode, verbunden mit einem falschen Sinn für Luxus: All die himmelhohen romanischen Eingänge und Hausmann"schen Schnörkel, nur um die hintergründige Billigkeit zu vertuschen. Der Stolz, der die Architekten, Bauherren und Käufer in der Generation der Modernisten antrieb, ein qualitativ hochwertiges Produkt abzuliefern wurde durch die blinde Gier nach Profit der Bauherren verdrängt."
Archiv: Eurozine

Guardian (UK), 05.06.2014

Als sehr lesenswert, aber extrem deprimierend empfiehlt Julia Lovell im Guardian Leta Hong Finchers Report "Leftover Women" über die Diskriminierung von Frauen in China. Der Titel, erklärt Lovell, bezieht sich auf eine hässliche Kampagne der staatlichen Medien gegen Frauen über 27, die mit aller Macht in die Ehe gedrängt werden sollen: "Obwohl Chinas Medien so viel Lärm um die Epidemie von Single-Frauen im Land machen, gibt es tatsächlich - wegen der traditionellen Präferenz für Söhne und der selektiven Abtreibungspraxis - weitaus mehr "übriggebliebene" Männer in China. 2012 kamen 117,7 Jungen auf 100 Mädchen. "Die wachsende Zahl von unverheirateten Männer im heiratsfähigen Alter", gibt die Parteizeitung Peoples Daily zu, "erhöht die Gefahr sozialer Instabilität und Unsicherheit." In diesem Kontext, schreibt Hong Fincher, "bedrohen ausgebildete Frauen das moralische Gewebe..., denn sie sind freie Akteure, die ihrer Pflicht nicht nachkommen, Kinder zu gebären und einen rastlosen Mann zu zähmen." Der offen eugenische chinesische Staat ist besonders auf die Verheiratung von hochqualifizierten Frauen bedacht, um Kinder mit überlegenen genetischen Anlagen zu produzieren."

Giles Foden liest den Roman "All Our Names" des äthiopisch-amerikanischen Autors Dinaw Mengestu wie auch Chimamanda Ngozi Adichies Roman "Amerikanah" als ein Zeichen dafür, dass sich die afrikanische Literatur vom postkolonialen Diskurs abwendet, um Fragen der eigenen Leistung zu verfolgen.
Archiv: Guardian

Repubblica (Italien), 10.06.2014

Begeistert schreibt Roberto Saviano in La Repubblica über die italienische TV-Serie "Gomorra", die auf seinem eigenen berühmten Buch basiert und an der er natürlich mitgearbetet hat. Die Serie sei in 50 Länder verkauft worden. Und es gibt keine "Guten" in der Serie, nur "Böse". Er verteidigt diese Entscheidung gegen Kritiker, die in der Serie die Schönheit Neapels vermissen: "Wenn die Schönheit Neapels isoliert besungen wird, um das Bild der Stadt zu verbreiten, dann machen wir sie steril. In den Reisebüchern Norman Lewis" gibt es diese Schönheit, aber sie ist voller Schmerz, Krampf, Nutten, Abschaum, Korruption. Das ist eine reale Schönheit. Wenn wir aus Lewis" Büchern das Gute und das Böse herausfischen und sortieren, dann zerstören wir alles literarische Potenzial und reduzieren die Stadt auf eine banale Minestrone."
Archiv: Repubblica

La vie des idees (Frankreich), 03.06.2014

Sarah Labelle und Aude Seurrat untersuchen in einem Essay den zunehmenden Einsatz sogenannter "Serious Games" durch Unternehmen. Der Konzern l"Oréal etwa setzt ein Spiel namens "Reveal" ein, das ein an einer Stelle Interessierter im Internet vollständig zu Ende spielen muss, um überhaupt eingeladen zu werden. "Der Spieler schlüpft darin in die Haut eines jungen Managers, der zu l"Oréal kommt. Er trifft mehrere Projektmitarbeiter, die ihm Aufgaben stellen und ihm Informationen und schriftliches Material geben. Die Aufgaben sind auf mehrere Bereiche aufgeteilt: Finanzen, Marketing, Forschung & Entwicklung, Logistik, Geschäftsenwicklung und Cafeteria. Im Verlauf dieser unterschiedlichen Aufgaben ... wird der Spieler dazu gebracht, "seine Talente zu offenbaren" ... Wenn "Reveal" offensichtlich die Kenntnis über die Tätigkeitsfelder von l"Oréal und vor allem seine Unternehmenskultur in den Mittelpunkt stellt, ist die Spieldimension doch fragwürdig. Denn es findet, wie bei serious games recht häufig der Fall, eine Verwechslung zwischen dem Spielerischen und dem Virtuellen statt."
Stichwörter: Arbeitswelt, Serious Games

MicroMega (Italien), 28.05.2014

Mauro Pesce und Adriana Destro begeben sich in ihrem Buch "La Morte di Gesù" auf die Spuren von Jesus und stützen sich dabei vor allem auf die überlieferten, meist biblischen Texte. Im Gespräch mit Valerio Gigante in Micromega thematisieren sie auch den hinhaltenden Widerstand der katholischen Kirche gegen eine solche Historisierung: "In Wahrheit beginnen ja schon die Evangelien, die Briefes des Paulus und die Apostelgeschichten den Sinn der Ereignisse zu verändern, da sie zeigen wollen, dass der Tod Jesu einem göttlichen Plan folgten, der schon in den jüdischen Schriften des vorgezeichnet ist. Das ist es, was wir mit einer abstrusen Vokabel, als die "Skriptualisierung" der Ereigniss bezeichnen können. Aber eine aufmerksame Lektüre zeigt, dass diese Texte in ihrer Absicht, dem Tod Jesu Sinn zu geben, zu unterschiedlichen Interpretationen kommen."
Archiv: MicroMega
Stichwörter: Jesus, Leben Jesu, Evangelien

New York Times (USA), 08.06.2014

Scott Anderson hat für die New York Times mehrfach Bosnien besucht und beschreibt in einer langen Reportage, wie der "Friedensprozess" sich entwickelt hat. Geschossen wird nicht mehr, aber die Situation ist deprimierend: Amor Masovic sucht und findet immer noch Massengräber. Viele Muslime versuchen die Ereignisse zu vergessen. Ein Holländer, der damals bei der UN-Truppe war, die dem Massaker von Srbrenica zugeguckt hat, ist zurückgekehrt und lebt jetzt dort. Und serbische Politiker arbeiten erfolgreich an einer Relativierung der Ereignisse, etwa Milorad Dodik, Präsident von Srpska. "Vor den Präsidentschaftswahlen 2010 veröffentlichte Dodiks Regierung einen Report, wonach es in Srebrenica nicht nur keinen Genozid gegeben habe - auch die Zahl der Opfer sei stark übertrieben. Statt Dodik zu zensieren, drängte ihn das O.H.R. [das Büro des Hohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina] mild, "seine Schlüsse zu überdenken". Stattdessen nutzte Dodik den Gedenkgottesdienst in Bratunac am fünfzehnten Jahrestag des Massakers in Srebrenica, um zu behaupte: "Wenn ein Genozid stattgefunden hat, dann an den Serben in dieser Region, wo Frauen, Kinder und Alte in Massen getötet wurden." Die Wirkungskraft dieses Wandels ist klar. Als Moderater konnte Dodik 1998 nur Premierminister werden, indem er eine Koalition mit anderen politischen Parteien bildete. Als Ultranationalist erhielt er 2010 mehr Stimmen als die anderen neun Kandidaten zusammen."

In der aktuellen Weltcup-Ausgabe des Magazins generiert ein Artikel von Sam Borden gerade besonders viele Kommentare. Kein Wunder, Borden fragt, wie Jürgen Klinsmann den amerikanischen Fußball reformieren will. Etwa indem er, reichlich unamerikanisch, schon mal erklärt, dass man gegen Ghana, Portugal und Deutschland kaum eine Chance haben werde. Oops. Laut Borden allerdings eine realistische Aussage: "Anders als andere Teams arbeiten die USA immer noch an den Grundlagen. Lange oder kurze Bälle? Eine aggressive Defensive, die aus der typisch amerikanischen Kraft schöpft? … Klinsmann jedenfalls scheint der Richtige zu sein, den Graben zwischen Europa und den Staaten zu überbrücken. Er lebt mit seiner amerikanischen Frau in Kalifornien, trägt gern T-Shirt und Sneakers und fliegt in seiner Freizeit gern Hubschrauber … Wenn es um Fußball geht, ist er allerdings europäisch."

Den Aufmacher widmet Jeffrey Himmelblau dem seiner Ansicht nach größten Fußballspieler der Welt, Lionel Messi.
Archiv: New York Times