Vom Nachttisch geräumt

Der Wahrheitshass des Rüpels

Von Arno Widmann
20.12.2018. Der dänische Journalist Georg Brandes hat in seinem "Der Wahrheitshass" schon vor mehr als hundert Jahren beschreiben, wie Macht und Fake News zusammenhängen.
Manche Bücher liegen lange herum. Man hat sie gekauft oder - wie es Journalisten passiert - geschickt bekommen. Sie werden nicht eingeräumt, sondern bleiben in immer wieder umgeschichteten Stapeln liegen, weil anderes sich davor schiebt. Georg Brandes' "Der Wahrheitshass" gehört dazu. Brandes (1842 bis 1927) war einer der bekanntesten Journalisten seiner Zeit. Ein kleines Wort für einen großen Schriftsteller. Eines seiner schönsten Bücher hat er nie geschrieben. Es ist eine Auswahl seiner Artikel, die er 1877 bis 1883 für ein dänisches Publikum schrieb. Sie erschien in deutschen Übersetzung mehr als einhundert Jahre später pünktlich im Jahre 1989 unter dem Titel "Berlin als deutsche Reichshauptstadt".

Vor allem aber war Georg Brandes Autor großer seine Epoche beschreibender und beeinflussender Bücher. Seine 1888 einsetzenden Nietzsche-Vorlesungen läuteten dessen Weltruhm ein. Brandes sechsbändiges Werk "Die Hauptströmungen der Literatur des neunzehnten Jahrhunderts" gehört zu jenen Arbeiten, die die Literatur einbetten in die Geistes- und Kulturgeschichte, in die politische Geschichte ihrer Zeit. Brandes schrieb umfangreiche Biografien über Goethe, Cäsar und Voltaire. Er machte Sören Kierkegaard und Friedrich Nietzsche, den er in einem Brief auf den ersteren hingewiesen hatte, miteinander bekannt. Georg Brandes war - fast hätte ich vergessen, das zu erwähnen - Däne. Dazu bemerkte er: "Auf Dänisch schreiben heißt in der Regel ja in Wasser schreiben." Dänemark, das hatte er bei seinen Auslandsaufenthalten mitbekommen, existierte in den Augen der Welt nicht.

Friedrich Sieburg, der spätere Nazimitläufer und noch spätere Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bestätigte ihm das 1925 in der Weltbühne: "Es gibt viele Menschen außerhalb Europas, welche von Dänemark nicht viel mehr wissen, als dass außer Asta Nielsen auch Georg Brandes dort geboren ist." Brandes war Jude, ein ebenso energischer Anti-Anti-Semit wie er Anti-Zionist war. Seine journalistischen Arbeiten hat Hanns Grössel in einem sehr schönen Auswahlband vorgelegt.

Der Titelessay "Der Wahrheitshass" erschien 1891 und hat kaum vier Seiten. Ein Feuilleton. Es beginnt mit einer Erinnerung an die Schriftstellerin und Redakteurin Therese Huber (1764-1829). Sie war in erster Ehe mit Georg Forster verheiratet gewesen. Ich würde am liebsten noch einmal abschweifen und über Therese Huber schreiben - ihre Romane, ihre Erzählungen, ihre Briefe - und die zehn Kinder, die sie neben all dem noch gebar - aber ich will ja nur kurz auf den "Wahrheitshass" hinweisen. Brandes startet seinen Essay also mit der Frage, warum Therese Huber die "nach der geltenden Moral nichts besonders Tadelnswertes aufwies, zu ihrer Zeit so übel beleumdet war". Die Antwort ist einfach: Sie war wahrheitsliebend. Wahrheitsliebe, führt Brandes aus, sei eine viel gepriesene Tugend. Die nahezu überall herrschende Praxis aber sei der Wahrheitshass. Alle großen Organisationen - Religion und Staat - forderten Disziplin. Das sei nichts anderes als Unterwerfung unter die Konvention. Sie halte auch die Gesellschaft zusammen. Sie beherrsche Literatur und Kunst. Auch das Schöne und Gute fesselten die Wahrheit. Jeder Versuch, die Wahrheit über die jeweils herrschenden Verhältnisse zu sagen, werde torpediert. Die Wahrheit wird verfolgt, wo immer sie gesagt wird. Dazu gibt es keine Alternative.

Brandes schreibt das alles vornehmer, als ich es hier wiedergebe. Bei ihm klingt das so: "In Wirklichkeit kann man ohne Übertreibung behaupten, dass in einer wohlgeordneten modernen Gesellschaft der Wahrheitshass - nicht derjenige der Rüpel, sondern der Wahrheitshass des schlichten Volkes und der guten, feinen, vornehmen Menschen - eine ebenso starke Macht ist wie die Wahrheitsliebe, und eine sehr viel besser organisierte."

Brandes kleines Satzgefüge schließt uns unsere Gegenwart der "alternativen Fakten" auf: Der Wahrheitshass der feinen, vornehmen Menschen wird durch den Rüpel ersetzt. Georg Brandes sah, wie die herrschenden Institutionen sich gegen neue Einsichten zur Wehr setzten. Sie fürchteten um den Erhalt ihrer Macht. Heute beobachten wir den Aufstand der Rüpel gegen die zarten Veränderungen, die der Status quo durch die Herrschaft der "feinen, vornehmen Menschen" erfuhr. Sie sollen rückgängig gemacht werden, um "Amerika wieder groß zu machen".

Das "wieder" ist das Reaktionäre, das "groß" ist das eher noch Unangenehmere daran. Das Gefährlichere auch. Die Bedeutung der USA sinkt weltweit. Nicht weil sie Präsidenten haben, die keine guten Deals zu machen verstehen, sondern weil es inzwischen immer mehr Kräfte auf der Welt gibt, die sich nicht mehr einfach über den Tisch ziehen oder mit Geld zuscheißen (Mario Adorf in "Kir Royal") lassen. Von seiner Übermacht auf allen Gebieten bleibt den USA bald nur noch die seiner Atomwaffen. Das macht die Lage so brisant. Der Wahrheitshass hilft bei der Bewahrung des Bestehenden. Aber nicht lange. Dann wird die Wahrheitsliebe wieder gebraucht. Dann muss man zwischen Fakten und Lügen unterscheiden können, wenn man seine Lage erkennen möchte. Der Wahrheitshass legt darauf keinen Wert. Er will sich nur durchsetzen. Sein Ordnungsprinzip ist das Chaos. Anders gesagt: die Willkür des Machthabers. Der Blick zurück auf Georg Brandes hilft uns zu erkennen, was uns die Zukunft - wenn wir ihr nicht den Weg versperren - bringen könnte.

Georg Brandes: Der Wahrheitshass - Über Deutschland und Europa 1880 - 1925. Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle, Mathilde Prager und Hanns Grössel, ausgewählt, kommentiert und mit einem Nachwort von Hanns Grössel, Berenberg, Berlin 2007, 181 Seiten, 21,50 Euro.