9punkt - Die Debattenrundschau

Schwester, ich finde den Rückwärtsgang nicht!

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.09.2015. Die FAZ folgte bei Gloria Thurn und Taxis einer mondänen Kongregation von Kirchenleuten gegen eine eventuell reformierte Familienpolitik des Papstes. Der Papst will jetzt schon ein Jahr lang Abtreibung verzeihen, meldet der Tagesspiegel. Die SZ wendet sich gegen gegen den Traum von einem linken Populismus. Die NZZ erklärt, was sich die Chinesen von der Geschichtswissenschaft erwarten. Die kontextwochenzeitung versucht mit Wolfgang Storz herauszufinden, ob linke Verschwörungstheorien besser sind als rechte.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.09.2015 finden Sie hier

Religion

Hannes Hintermeier durfte für die FAZ einer mondänen Kongregation von Kirchenleuten bei der ultrafrommen Gloria Thurn und Taxis beiwohnen, wo man sich gegen eventuelle Positionsänderungen der katholischen Kirche in Fragen der Familienpolitik in Stellung brachte. Georg Ratzinger (der Bruder!) war im elektrischen Rollstuhl angereist. Martin Mosebach redete. Und auch der als papabile geltende Kardinal Robert Sarah: "Das Sakrament der Ehe bleibe unauflöslich - alles oder nichts. Es folgen Dankesworte der Fürstin, die mehrmals erregt "Eminence!" hervorstößt. Dann heißt es, der Herr Domkapellmeister Ratzinger wolle heimgehen, aber die Gastgeberin hadert mit der Technik und ruft eine Ordensschwester herbei: "Schwester, ich finde den Rückwärtsgang nicht!""

Im Tagesspiegel berichtet Claudia Keller unterdessen: "Papst Franziskus hat verfügt, dass seine Priester Frauen vergeben dürfen, die abgetrieben haben. Diese Verfügung soll ein Jahr lang gelten, während des "Heiligen Jahres der Barmherzigkeit" 2016." Das heißt aber nicht, dass der Papst seine Position zum Thema geändert hat, betont Keller.
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Politik

Die Show war schon immer ein Teil der amerikanischen Politik, schreibt Clemens Wergin in der Welt und erinnert an Abraham Lincolns Rededuelle mit dem Sklavereiverteidiger Stephen A. Douglas. Lincolns Reden gelten heute als Inkunabeln der Demokratiegeschichte: "Darüber gerät leicht in Vergessenheit, dass es sich bei diesen Duellen auch um einen riesigen Zirkus handelte. Die Leute kamen von ihren kleinen Farmen oder ihren Werkstätten auf dem Land in Scharen in die kleinen Städte in Illinois im Mittleren Westen. Die "great debates" wurden von Bands begleitet und Kanonenschüssen, die Kandidaten führten große Paraden an zum Rednerpult, wo die Debatte stattfinden sollte."
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Stichwörter: USA, Demokratiegeschichte, Zirkus

Ideen

Jens Bisky wendet sich in der SZ gegen Jakob Augsteins Traum von einem "linken" Populismus (unser Resümee): "Eine moralisch berechtigte Opposition ist im populistischen Weltbild nicht vorgesehen. Denn die wahre Gemeinschaft, das Volk, weiß doch, was dem Gemeinwohl dient. Populismus ist also notwendig antipluralistisch und antiliberal." Bisky empfiehlt eine Vortragsreihe des Politologen Jan-Werner Müller zum Thema, die man hier betrachten kann.

Weiteres: Die Flüchtlinge sind unsere, weil auch die Kriege, die sie vertreiben, unsere sind. Nieder mit dem Kapitalismus, ruft der Philosoph Armen Avanessian in der Zeit.
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Gesellschaft

Gesinnungsterror ist ein kleiner Schwerpunkt im Zeit-Feuilleton: Die ARD hat zeitweise Frank Plasbergs Talkshow "Nieder mit dem Ampelmännchen" aus dem Internetarchiv genommen, weil es wütende Proteste gegen die Sendung gab. Jens Jessen gewinnt daraus die Erkenntnis: "Die entscheidende Macht hat nicht, wer spricht, sondern wer andere vom Sprechen abhalten kann." Iris Radisch sieht im Aufmacher des Feuilletons den Konformitätsdruck bei zunehmendem Gequassel immer größer werden: Alle reden, aber keiner traut sich mehr, was zu sagen. Radisch nennt kein konkretes Beispiel, aber Stefan Willeke gibt einige Seiten - vermutlich unfreiwillig - eins: Er konstatiert auf einer ganzen Seite, dass die große ARD-Doku über Franz Beckenbauer, für die Regisseur Nico Hofmann den Bayern ein Jahr begleitet hat, keine einzige Frage zur Korruption in der Fifa stellt. Gibt dann aber zu, dass "wir Journalisten" Beckenbauer alle nicht gefragt haben und auch nie fragen werden, weil der so süß ist.

Das Zeit-Dossier ist dem großen "Straßenkampf" gewidmet. Gemeint ist damit der Kampf zwischen Auto- und Radfahrern. Fußgänger sind aus der Geschichte schon rausgemendelt, sie werden mit keinem Wort mehr erwähnt.
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Geschichte

Marco Jorio berichtet in der NZZ über den gerade zu Ende gegangenen Weltkongress der Historiker - in der chinesischen Metropole Jinan. Damit sollte das "Ende des Eurozentrismus" in der Historikerschaft eingeläutet werden, so Jorio. Auch die unterschiedlichen Erwartungen an die Geschichtswissenschaften wurden deutlich: "Während die Präsidentin des CISH, die Finnin Marjatta Hietala, nach der "Nützlichkeit" historischer Forschung fragte, machten die chinesischen Offiziellen, Historiker wie Nichthistoriker, deutlich, dass für sie Geschichte eine angewandte Wissenschaft sei, die in der ökonomischen Aufholjagd Chinas eine zentrale Rolle spiele. Es gehe darum, von den historischen Erfahrungen anderer Länder zu profitieren, um den Entwicklungsprozess ohne Zeitverlust voranzutreiben."

Chinas Kommunisten wollen die Geschichte aber nicht nur für die Zukunft deuten, sie wollen die Vergangenheit umschreiben, erklärt in der SZ Kai Strittmatter anlässlich der großen Militärparade in Peking zum Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs in Asien: ""Die Geschichte zu vergessen, ist Verrat", sagte Parteichef Xi gerade wieder einmal. Das ist interessant, weil seine KP das Ausradieren und Umschreiben der Geschichte zu einem zentralen Mechanismus ihrer Herrschaft gemacht hat."
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Medien

Wolfgang Storz, einst Chefredakteur der FR, hat für die Brenner-Stiftung ein Papier über verschwörungstheoretische Webmedien geschrieben, das in die Kritik geriet, weil er auch einige sich selbst als "links" verstehende Medien einbezog. Im Gespräch mit Susanne Stiefel in der kontextwochenzeitung sagt er dazu: "Ich als politische Person wende mich dezidiert gegen diese Haltungen: Die Eliten herrschen und regieren gegen das Volk, die Medien sind unfrei und in Abhängigkeit von den Eliten. Analyse wie Haltung halte ich für falsch. Das lehrt mich: Auch als Medienkritiker muss man seine Kritik immer rückbinden an Werte. Ich halte unser Mediensystem und übrigens auch diese demokratische Grundordnung, bei aller berechtigten Kritik im Einzelnen, für im Prinzip intakt." Angeführt werden die Storz-Kritiker von der Autorin Sabine Schiffer (hier ihre Kritik an Storz als pdf-Dokument), die nebenbei auch schon mal Verschwörungstheorien zum 11. September verteidigt (mehr hier).

Weiteres: Der Independent begründet, warum er das Bild eines ertrunkenen Flüchtlingskinds veröffentlicht hat und stößt in den sozialen Medien auf viel Zustimmung: "If these graphic images of a drowned child don"t change Europe"s attitude to refugees, what will?" Stefan Plöchinger erklärt, warum die SZ das Bild nicht vröffentlicht hat.
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