Außer Atem: Das Berlinale Blog

Sehnt sich hinaus ins Freie: Keisuke Kinoshitas 'Farewell to dream' (Forum)

Von Lukas Foerster
13.02.2013. Yoichi sitzt am Fenster, im ersten Stock des Hauses, den Rücken der Kamera zugewandt und blickt durch ein Fernglas nach draußen. Und gleichzeitig, sagt der Voice Over, auf die Vergangenheit, auf sein vier Jahre jüngeres Ich, das noch nicht war, was er jetzt ist: ein Fischverkäufer, wie der Vater vor ihm, Ernährer einer kleinen Familie, die Dank ihm gerade einmal so über die Runden kommt.


Yoichi sitzt am Fenster, im ersten Stock des Hauses, den Rücken der Kamera zugewandt und blickt durch ein Fernglas nach draußen. Und gleichzeitig, sagt der Voice Over, auf die Vergangenheit, auf sein vier Jahre jüngeres Ich, das noch nicht war, was er jetzt ist: ein Fischverkäufer, wie der Vater vor ihm, Ernährer einer kleinen Familie, die Dank ihm gerade einmal so über die Runden kommt.

Auch in der langen Rückblende, die den Rest des Films ausmacht, sitzt Yoichi des öfteren an demselben Fenster (und in derselben Einstellung), greift zum selben Fernglas und blickt hinaus. Da allerdings nicht auf die Vergangenheit, sondern auf eine mögliche Zukunft: auf ein Mädchen, das einige Straßen weiter lebt und von dem wir lange nur die Gesichtsumrisse kennen, die Yoichi auf ein Blatt Papier zeichnet. Denn der Film weigert sich, mit Yoichi gemeinsam durch das Fernglas zu blicken, zu seinem Blick zu werden - einem Blick, der sich langsam umformen wird im Laufe des Films, weil Yoichi erkennt, dass die Welt da draußen eben nicht das befreite Andere der Fischverkäuferexistenz, sondern Teil der eigenen ist.

"Farewell to Dream" blickt auf Menschen und ihre Beziehungen, Gespräche, Handlungen, vor allem auf ihre Affekte, aber er versetzt sich nicht vollständig in sie hinein. Er zeigt ihre Wahrnehmungen, aber er wird nicht zu ihrer Wahrnehmung. Vielleicht, weil er dann jedes Mal eine Wahrnehmung, eine Subjektivität privilegieren, verabsolutieren müsste. Und "Farewell to Dream" hat zwar eine eindeutige Hauptfigur - Yoichi -, aber ein "Held" im geläufigen Sinne ist er nicht; Keisuke Kinoshita geht es eher um das soziale Feld, das sich um Yoichi erstreckt, das ihn formt - gegen gewisse Widerstände, aber am Ende doch unerbittlich: Alles stinkt nach Fisch und wird auch weiterhin nach Fisch stinken. Die psychischen Kosten dieser Formung allerdings, die interessieren Kinoshita schon.

Dieses Feld ist vor allem die Familie. Da ist der Vater, der Fischverkäufer, der gesundheitlich nicht mehr richtig in Schuss ist und auch sonst kaum zum Patriarchen taugt, der über einen Krieg schimpft, der zwar schon ein paar Jahre vorbei ist, aber Spuren hinterlassen hat in seiner Psyche und in der ganzen Familie: "Farewell to Dream" ist auch ein Film über ein Nachkriegsjapan, das sich einige Jahre nach Kriegsende noch nicht richtig sortiert hat, aber langsam zu begreifen beginnt, dass alles Jammern über die Niederlage und den überlegenen Gegner oder (bei Kinoshita vorwiegend) den eigenen Faschistenstaat nichts hilft. Da ist die Mutter, die sich einmal dafür entschuldigt, dass sie keine Bildung genossen hat und deshalb mit der modernen Welt nicht klar kommt und die vier Kinder aufzieht, so gut es geht. Da ist – vor allem – die große Schwester, die diese moderne Welt repräsentiert, die alles und jeden und vor allem alle jungen Männer ihrer Umgebung um den Finger wickelt, die nicht ihre (plötzlich verarmte) Jugendliebe heiratet, sondern einen reichen, älteren Mann, den der Kinozuschauer nie zu Gesicht bekommt.



Diese Schwester ist ein zweites Zentrum des Films. Zwar wirft gleich der erste Voice-Over-Kommentar und dann alle paar Minuten ein anderes Familienmitglied ihr vor, selbstsüchtig zu sein, doch gleichzeitig blicken alle Figuren und oft auch die Kamera mit einer gewissen Bewunderung auf diese junge Frau, die sich eloquent durch die Welt bewegt, jede Situation dominiert und mit ihren Wünschen nicht hinter dem Berg hält. Dass es ihr im Großen und Ganzen trotzdem nicht besser ergeht als den anderen Figuren um sie herum, ist denn auch keine Strafe, die der Film über sie verhängt, sondern verweist nur darauf, dass die Welt immer ein wenig größer und komplexer ist, als man sie sich aus der Fischverkäuferperspektive, im ersten Stock vor dem Fenster, vorstellt.

"Farewell to Dream" bindet die Familiengeschichte ein in Alltagsbeobachtungen, Kundengesprächen, Nachbarschaftsklatsch. Und gleichzeitig verdichtet er sie immer wieder in jenen melodramatischen Spitzen, auf die Thomas Groh schon in seinem Einführungstext zur Kinoshitareihe hingewiesen hat: Im Gegensatz zum Beispiel zum streng rhythmisierten Alltagsfluss bei Yasujiro Ozu, dessen Ästhetik "Farewell to Dream" ansonsten durchaus nahe steht, isoliert Kinoshita einzelne emotionale Momente, hebt sie sanft und organisch aus dem Fluss heraus: mal ist das nur eine einzelne Großaufnahme, mal auch im Gegenteil eine Totale, in der ein einsamer Junge eine Straße herunterläuft, mal sind das regelrechte Gefühlsexplosionen: der Ex-Freund, der die ältere Schwester ohrfeigt, der bittere Abschied der jüngeren Schwester. Doch immer fließen sie wieder zurück in den breiteren Strom des Films.

"Farewell to Dream" ist ein Film, der von Enttäuschung spricht und doch auch alle anderen Gefühle zu ihrem Recht kommen lässt. Am Ende dieses vielleicht schönsten Films, der dieses Jahr auf der Berlinale zu sehen ist, steht eine Kamerafahrt, zwischen zwei eng beieinander stehende Häuser hindurch und dann hinaus ins Freie, eine Fahrt, in die sich ein ganzes Leben, mit all seinen Wünschen, Hoffnungen, Freuden, Enttäuschungen einschreibt.

Lukas Foerster

"Yuyake gumo" (Farewell to Dream). Regie: Keisuke Kinoshita. Mit Shinji Tanaka, Yuko Mochizuki, Yoshiko Kuga, Eijiro Touno, Takahiro Tamura, Isuzu Yamada u.a., Japan 1956, 78 Minuten (Vorführtermine)