Efeu - Die Kulturrundschau

Notorische Posaunenglissandi

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24.01.2023. Carlo Chatrian hat sein Programm für den Berlinale-Wettbewerb vorgestellt, darunter auch rekordverdächtige fünf deutsche Filme. Das von ihm versprochene Kino der Poesie könnte die Berlinale zu einem Liebhaber-Festival machen, hofft Intellectures. Die FR lauscht berührt Vito Žurajs in Frankfurt uraufgeführter Oper "Blühen" mit einem Libretto von Händl Klaus. Feuer weitergeben, nicht Asche anbeten, lernt die FAZ von Boris Charmatz' Tanztheater in Wuppertal. Die SZ erinnert Bauministerin Klara Geywitz an die leider nicht wegweisenden Baukastensysteme von Walter Gropius und Richard Buckminster Fuller.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.01.2023 finden Sie hier

Film

Vicky Krieps als Ingeborg Bachmann in Margarethe von Trottas "Ingeborg Bachmann - Reise in die Wüste" (Wolfgang Ennenbach)

Carlo Chatrian hat sein Wettbewerbsprogramm für die Berlinale bekannt gegeben: 18 Filme gehen auf Bärenjagd, fünf davon sind deutsche Filme - Rekord! Mit den Filmen von Margarethe von Trotta, Emily Atef, Christian Petzold, Christoph Hochhäusler und Angela Schanelec hat das deutsche Segment des Wettbewerbs eine deutliche Schlagseite zur "Berliner Schule". Allein schon diese Filme "versprechen einen abwechslungsreichen und qualitativ hochwertigen Wettbewerb", glaubt Andreas Busche im Tagesspiegel. Außerdem "gibt es quer durch die Sektionen eine Reihe von Filmen aus der Ukraine und dem Iran beziehungsweise zur aktuellen Situation in beiden Ländern", berichtet tazler Tim Caspar Boehme von der Pressekonferenz.

Chatrian versprach bei der Pressekonferenz in Anlehnung an Pasolini ein "Kino der Poesie", berichtet Thomas Hummitzsch in seinem Intellectures-Blog. Der künstlerische Leiter des Festivals rückt dieses weiter Richung cinephile Kunst, gestaltet sie um "zu einem Liebhaber-Festival, bei dem Filmemacher:innen eine große Bühne bekommen, die unter Cineast:innen einen Ruf genießen, aber nicht zur ersten Garde gehören. Matt Johnson, Giacomo Abbruzzeze, Ivan Sen, John Trengove und Philippe Garrel gehören schon zu den großen internationalen Namen im 18 Filme umfassenden Line-Up."

Außerdem: Valerie Dirk berichtet im Standard vom anhaltenden Streit in der österreichischen Filmszene um Marie Kreutzers "Corsage" (unsere Kritik), seit bekannt wurde, dass der Nebendarsteller Florian Teichtmeister kinderpornografisches Material hortete. Besprochen werden Volker Heises von Arte online gestellte Doku "Berlin 1933 - Tagebuch einer Großstadt" (taz) und die Sitcom "Die wilden Neunziger" (ZeitOnline).
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Literatur

Sergei Gerasimow schreibt in der NZZ weiter Kriegstagebuch aus Charkiw. Susan Vahabzadeh skizziert in der SZ Leben und Werk des früheren Journalisten JR Moehringer, des Ghostwriters von Prinz Harrys Autobiografie, die gerade die Bestseller-Listen dominiert.Besprochen werden unter anderem Ottessa Moshfeghs "Lapvona" (Welt), Marlene Streeruwitz' "Tage im Mai" (NZZ), zwei neue "Corto Maltese"-Comics (taz), Michael Köhlmeiers "Frankie" (Standard), Maxim Znaks "Zekamerone. Geschichten aus dem Gefängnis" (taz), eine neue Gesamtausgabe von Peyos Comicklassier "Benni Bärenstark" (Tsp), Werner Schmitz' Neuübersetzung von Ernest Hemingways "Wem die Stunde schlägt" (SZ) und Cheon Myeong-kwans "Der Wal" (FAZ).
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Bühne

Bianca Andrew und Michael Porter in "Blühen". Foto: Barbara Aumüller/Oper Frankfurt


Brigitte Fassbaender hat an der Oper Frankfurt Vito Žurajs Oper "Blühen" uraufgeführt, mit einem Libretto von Händl Klaus nach Thomas Manns Erzählung "Die Betrogene". Es geht um eine ältere Frau, die sich nach dem Tod ihres Mannes in den Klavierlehrer ihres Sohnes verliebt. Als ihre Periode wieder einsetzt, denkt sie, es liege an der Liebe, dabei ist sie an Krebs erkrankt. In der FR ist Judith von Sternburg bewegt und berührt: "Der Übergang von Geräusch zu Musik, von Melodielinie zu Gemurmel, von menschlicher zu instrumentaler Stimme, auch vom gesprochenen zum gesungenen Wort ist gleitend - was zum Raum passt, der ja auch zugleich ein Innen und ein Außen zeigt -, das Spektrum der Klangerzeugung ist breit. Auffällig dabei die Behutsamkeit, die wachsende Stille. Sterben ist totale Defensive. Exaltiertheit wird allein (zunächst) der Tochter Anna zugeschrieben, Nika Goric bei ihrem Hausdebüt, die in extreme Höhen muss und eine unerwartete, aber interessante Aggressivität bietet."

In der FAZ begeistert sich auch Jan Brachmann für so viel Mut zum Neuen - und für Žurajs Komposition, auch wenn sie mit den seit Schostakowitsch notorischen Posaunenglissandi arbeite: "Die genitale Mechanik wird musikalisch eher diskret gestreift als unverblümt abgebildet. Stattdessen entsteht - taktvoll austariert durch Michael Wendeberg - eine instrumentale Poesie des Taumels. Die Menschen verlieren die Schwerkraft." In der SZ schwankt Helmut Mauró zwischen Faszination und gepflegter Langeweile, denn so leicht lasse sich eine Erzählung nicht in Musiktheater transformieren: "Interessanter noch, aufregend, stimmig ist der orchestrale Unterbau, die oft sublime Stimmungsmaschine dieses zwischen Melancholie und Hysterie changierenden Psychotheaters. Im Orchestergraben wird's Ereignis, dort zupfen, schlagen, streichen und tröten munter engagierte Spitzenmusiker des Ensemble Modern unter Leitung von Michael Wendeberg sich jene weite Welt zusammen, die auf der Bühne selber, zumal im tragenden Part, dem Gesang, selten aufscheint."

Boris Charmatz' "Frühlingsopfer". Bild: Tanztheater Wuppertal

Boris Charmatz
hat seine ersten Abend als Leiter des Wuppertaler Tanztheaters gestaltet. Nicht alles scheint gelungen, aber wenn die beiden Tänzerinnen Malou Airaudo und Germaine Acogny mit ihrer majestätischen Bühnenpräsenz den Stab an die nächste Generation weitergeben, ist FAZ-Kritikerin Wiebke Hüster elektrisiert: "Diese nächste Generation zeigt am Ende des Abends, dass sie das Sprichwort, wonach man Feuer weitergeben, nicht Asche anbeten soll, wenn es um Tradition geht, verstanden hat. Das afrikanische Tanzensemble, das Pina Bauschs 1975 geschaffene Strawinsky-Choreographie 'Le Sacre du Printemps' tanzt, muss man gesehen haben, es ist besser als jede andere Besetzung, rauer, nüchterner, brutaler gegen sich selbst, ein Wunder an Unerschöpflichkeit, Präzision und Upbeat."

Besprochen werden Saar Magals Tanzstück "10 Odd Emotions" in Frankfurt (taz), Peter Konwitschnys Inszenierung von Verdis "Macht des Schicksals" in Linz (über die Stefan Ender im Standard Jubel und Freude zu Protokoll gibt), ein Musical nach Christa Wolfs Roman "Der geteilte Himmel" in Schwerin (das Welt-Kritiker Stefan Grund als insgesamt starkes, bewegendes Musiktheater lobt), Ulrich Rasches Inszenierung von Büchners "Leonce und Lena" und Yana Ross' Aufführung ovn Tschechows "Iwanow" (FR)  und Maria Lazars "Die Eingeborenen von Maria Blut" am Wiener Akademietheater (FAZ).
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Architektur

Nur Spott hat Gerhard Matzig in der SZ übrig für die Ankündigung von Bauministerin Klara Geywitz, das Ziel von 400.000 neuen Wohnungen im Jahr nicht einhalten zu können. Aber auch für ihre Vorstellung von mehr Digitalisierung und mehr Vorfertigung: "Es ist erstaunlich, dass sich Menschen immer wieder neu auf eine sehr alte Idee besinnen, die noch nie funktioniert hat. Mit seinem Baukastensystem machte Walter Gropius im Exil in den USA zurecht schnell pleite. Das gleiche Schicksal ereilte auch Richard Buckminster Fuller, der sich einmal ein vorgefertigtes Mini-Wohnhochhaus in einer dem Flugzeugbau entlehnten Leichtbauweise ausgedacht hat, das von Zeppelinen transportiert und dann abgeseilt und wie eine Socke entrollt wird. 'Bucky' stellte sich Millionen davon vor, gefertigt wie Autos am Fließband. Das sollte den Wohnungsbau revolutionieren. Genau wie in der Ex-DDR, wo eine Mischung aus derartigen Ideen zur berüchtigten Plattenbauweise führte."

Weiteres: Im Tagesspiegel schreibt Falk Jaeger zum Tod des Architekten Arno Lederer.
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Musik

Im Hip-Hop herrsche seit geraumer Zeit ein Totenkult, beobachtet Adrian Schräder in der NZZ. Besprochen wird der Abschluss des Berliner Ultraschall-Festivals (Tsp, hier Aufnahmen zum Nachhören).
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Kunst

Jérôme-Martin Langlois' Gemälde "Diana und Endymion", 1822
Amiens wird 2028 Kulturhauptstadt Europas, die Bürgermeisterin der nordfranzösischen Stadt möchte sich dafür gern von Madonna Jérôme-Martin Langlois' Gemälde "Diana und Endymion" ausleihen. Das Bild galt seit dem Ersten Weltkrieg als verschollen - bis Paris Match die Popdiva in ihrer Villa fotografierte, wie Philip Meier in der NZZ erzählt: "Das Bild passt zu Madonna: Im Format pompös, ist es auch nahe am Kitsch. Vor allem aber stellt es eine Huldigung der Macht weiblicher Erotik dar. Dabei ist nicht einmal sicher, ob es sich bei dem Werk in Madonnas Besitz um das Original handelt. Das vom Auktionshaus Sotheby's seinerzeit angebotene Bild soll ohne Signatur und Datum gewesen sein - und offenbar auch um ein paar Zentimeter kleiner als die Leinwand von Jérôme-Martin Langlois. Für eine Kopie wäre der von Madonna seinerzeit bezahlte Preis allerdings ziemlich hoch. Immerhin soll sie 1,3 Millionen Dollar investiert haben. Wie aber wäre das Original nach Amerika gelangt? Boten die Wirren des Ersten Weltkriegs Gelegenheit für einen Kunstraub? Die Bürgermeisterin von Amiens will die Rechtmäßigkeit der Besitzverhältnisse nicht anzweifeln."
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Stichwörter: Kunstraub