Tagtigall

Marcel Beyer

Die Lyrikkolumne.
17.08.2019. Antidot gegen die aggressiv-griesgrämige Deutschmieferei
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Liebe Marie Luise,

das Internet nutze ich im Grunde erst seit 2010, als ich, in der Villa Massimo in Rom, aufgrund der guten Netzverbindung in die Welt der Musikblogs eingetaucht bin. Um mich herum wechselten die Menschen gerade von MySpace oder StudiVZ zu Facebook, und 2010 hielt ich, ebenfalls in Rom, zum erstenmal auch ein Smartphone in der Hand. Ein Telefon, mit dem man Pizzerien suchen konnte. Na toll.

Während also andere sich in den sozialen Medien verankerten, begann ich, Entdeckungen im Reich der Musik zu machen, was mir auch darum entgegenkam, weil es in Rom, wie dann zunehmend auch im restlichen Westeuropa, seinerzeit schwierig wurde, solche Entdeckungen bei Streifzügen durch die Plattenläden zu machen. Vorbei die Zeit, als ich nach Ankunft in einer Stadt zuerst im Branchenbuch nachschlug, in welchen Vierteln sich die Plattenläden fanden, um mich dann auf den Weg zu machen, jenseits der Reiseführerempfehlungen.

Datenbanken wie Discogs standen 2010 noch am Anfang (eine internationale, von Sammlern gemeinschaftlich aufgebaute Diskographie - also etwas, was es im Reich der Bücher zu meiner Verwunderung bis heute nicht gibt, daran ändern auch im Netz verfügbare Kataloge von Nationalbibliotheken nichts - die gegenwärtige Welt jenseits der ISBN-Nummern firmiert ja immer noch unter "hic sunt leones", und man muß sie sich aus Antiquariats- und Auktionskatalogen stückweise zusammensetzen), so daß in der Blogsphäre der eine dem anderen unablässig Neuland eröffnen konnte: Der eine hat Kenntnisse zur nigerianischen Musikszene zu bieten, der andere zur anatolischen, wieder jemand anderes läßt Leser und Hörer an seinen Erkundungen im musikalischen Raum Indonesiens teilhaben. Bis heute besuche ich von diesen Musikblogs regelmäßig zum Beispiel:

Global Groove Independent
 
Likembe

und sehr gerne auch

Zero G Sound

- wobei die Musik selbst, die hier entdeckt oder wieder ausgegraben wird, für mich häufig gar nicht im Mittelpunkt steht. Ich lese die Texte gerne, in denen Fan-Haltung und Erkenntnisinteresse zusammenfinden, die mir also, wie es ja immer geschieht, wenn man sich mit Musik näher auseinandersetzt, Einblicke in ästhetische, soziale, politische, historische Zusammenhänge geben. So habe ich vor einigen Tagen zu meiner Überraschung herausgefunden, daß die grundlegende Modernisierung des Highlife, der populärsten Musikart in Ghana, in den achtziger Jahren von Westdeutschland und Berlin ausging. Burger Highlife hieß das dann.

Manche schönen Musikblogs sind irgendwann eingegangen, andere haben sich zu Labels gewandelt, die Platten veröffentlichen und wiederveröffentlichen, so etwa Awesome Tapes From Africa oder Matsuli Music. Der reine Irrsinn. Und das beste Antidot gegen die aggressiv-griesgrämige Deutschmieferei, von der wir umgeben sind.

Herzlich!

Marcel