Tagtigall

Wildpark, Hirschpark, Einsiedelei

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
18.11.2019. Ruft neue Neuigkeiten wach: Eliot Weinberger versammelt in seinem Band "Neunzehn Arten Wang Wei zu betrachten" 19 - in der deutschen Ausgabe sogar 29 - Betrachtungen der 1200 Jahre alten Naturgedichte des chinesischen Lyrikers Wang Wei.
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"Dichtung ist das, was wert ist, übersetzt zu werden", beginnt der titelgebende Essay   "Neunzehn Arten Wang Wei zu betrachten" von Eliot Weinberger. Der Text handelt von einem berühmten Vierzeiler des Meisterdichters Wang Wei. Vor 1200 Jahren  entstanden, führt er seither ein "nomadisches Leben": Mit jedem Hören und jedem Lesen übersetze und realisiere das Gedicht sich neu und anders, zettele Gedanken an, so Weinberger: "Große Dichtung lebt im Zustand beständigen Wandels, beständiger Übersetzung. Kann es nirgendwo hin, stirbt das Gedicht." Lesen und Übersetzt-Werden sind somit Elixir der Dichtung.

      鹿柴  
空山不見人,
但聞人語響。
返景入深林,
復照青苔上。

Ein Berg, ein Wald, das Licht der untergehenden Sonne, das auf eine moosige Stelle fällt, fasst Weinberger gleich eingangs die Szene zusammen. Wer wie ich des Chinesischen nicht mächtig ist, fühlt sich bei der Ansicht des Gedichtes verloren. Mit den neunzehn  Betrachtungen werden Zugänge geschaffen, gleichsam Türen des Verstehens aufgestoßen. "Kann eine Sprache einen Ozean überfliegen?", fragte die japanisch-deutsche Dichterin Yoko Tawada einmal. Und: Wie viele Ideogramme liegen bereits am Meeresgrund?

Weinberger beginnt seine "Betrachtungen" mit ersten Annäherungen: Was erkennt das westliche, nur in lateinischer Ausgangsschrift geschulte, aber mit Piktogrammen vertraute Auge in den chinesischen Schriftzeichen des Gedichtes? Eines der Zeichen gleicht einem Berg, ein anderes vielleicht einem stilisierten Menschen. Erste kleine Hinweise? Es folgt eine Transliteration. Intuitiv spürt man eine Gefahr, der man sich bei jeder Begegnung mit dem Fremden aussetzt: Wie viel kann man überhaupt verstehen und wie leicht liest man in Fremdes aus Ignoranz etwas hinein, was nicht vorhanden ist?

Weinberger hat Chinesisch studiert, sich mit der chinesischen Klassik befasst und erst kürzlich eine Anthologie . Dabei interessiert er sich weniger für Kulturanthropologie. Wo etwa der Franzose François Billeter beim Betrachten des Fremden immer den eigenen (westlichen) Blick mitführt ("Geht man vom Gemeinsamen aus, zeigen sich die Unterschiede von selbst."), beschränkt sich Weinberger auf Wahrnehmung und Fürwahrnehmung dessen, was vorhanden.

Auch Künstler übersetzten die Werke Wang Weis: Dong Qichangs "Land-scapes in the Manner of Old Masters" (Wang Wei) Nelson-Atkins Museum
Der Essay, "Neunzehn Arten Wang Wei zu betrachten", 1987 erstmals veröffentlicht, bildet den Grundstock des vorliegenden Bandes. Eine grandiose Studie über das Übersetzen von Dichtung, die der Frage nachgeht: Was haben frühere Übersetzer in dem Gedicht wahrgenommen? Wie haben sie sich angenähert? Schließlich sind Übersetzer, und Weinberger ist ein Übersetzer, die genauesten Leser, und sie wissen: es gibt sie nicht, die eine, richtige Fassung, nicht die eine, richtige Lesart. Große Lyrik, so Weinberger, zeichnet sich dadurch aus, dass ihre "Neuigkeit ... über Jahrhunderte hinweg neu bleibe". Und nicht nur das: Jede Übersetzung müsse ihrerseits neue Neuigkeit wachrufen - weshalb der Übersetzer sein eigenes Übersetzer-Ego aufgeben und das Gedicht in der eigenen Sprache freisetzen müsse.

Weinbergers dritte der 19 Annäherungen ist eine "Zeichen für Zeichen"-Übersetzung. Leer -- Berg/Hügel -- (negativ) -- sehen -- Mensch(en), lautet die erste Zeile; und die zweite: Aber - hören - Menschen - Worte/Gespräch - Klang/echoen? Lauter Einzelwörter. Es fehlen die uns geläufigen grammatischen Bezüge wie Einzahl oder Mehrzahl; außerdem Hinweise auf Subjekt und Zeit. Hinzu kommt: Wang Wei war Buddhist und pflegte eine universelle und unpersönliche Naturdichtung.

Das Rätseln geht weiter. Wie eigentlich lautet der Titel des Gedichts? Wildpark? Hirschpark? Einsiedelei?  Sechzehn verschiedene Übertragungen wählte sich Weinberger für seine "Neunzehn Betrachtungen", darunter neben Englischen vereinzelt auch Französische und Spanische. Die früheste stammt aus dem Jahr 1919, die meisten Beispiele allerdings aus den 1970er Jahren.  In knappem und elegantem Stil kommentiert er jede dieser Übertragungen und hebt als Schlusspunkt die "besonders gute" Übersetzung des Dichters Gary Snyder hervor, mutmaßend, dies läge sicher an dessen lebenslanger Walderfahrung.

Empty mountains
no one to be seen
Yet -hear
Human sounds and echoes.
Returning sunlight
Enters the dark woods
Again shining
On the green moss, above.

Snyder, das fällt sofort auf, auch wenn er nicht der einzige ist, hat aus vier Zeilen acht gemacht, wohl wegen der klanglichen Zäsur zwischen dem zweiten und dem dritten Ideogramm im Original, die zwar im Vortrag zu hören, aber im Schriftbild nicht zu sehen ist. Jedes Wort Wang Weis ist hier übersetzt, nichts hinzugefügt, freut sich Weinberger. Zudem könne Snyders Übertragung - und darauf komme es schließlich an - als eigenes Gedicht bestehen.

Wang Shimin: "After Wang Wei's 'Snow Over Rivers and Mountains'". Qing Dynasty.
Das enge Ineinander von Kunst und Wissenschaft, von dichterischem Denken und Tatsachenneugier kennzeichnet die Gattung des Essays, den Montaigne einst begründete. Tastend formt sich und entwickelt sich darin der Gedanke; der Schreibprozess ist ein Denkprozess. Die Gattung wird hierzulande noch immer zu wenig geschätzt, möglicherweise der losen Enden wegen. Weinberger ist ein begnadeter Essayist - einer, der sich seinen jeweiligen Gegenstand weniger von der Spekulation, als von der Beobachtung her aufschließt, so auch in den "Neunzehn Arten". Eine Ruhe geht von diesem Essay aus und gerne hält man beim Lesen zwischendurch inne und erfreut sich an dem knappen und eleganten Stil, den Beatrice Fassbender, die Herausgeberin der deutschsprachigen Ausgabe, überzeugend übertragen hat. Zudem entschied sie, weitere Texte hinzuzufügen, um die Publikation anzureichern. Als erstes gibt es ein wunderbares Nachwort von Octavio Paz, den Weinberger schon in jungen Jahren verehrte und übersetzte und der sich seinerseits aus eigener schriftstellerischer Neugier schon früh mit klassischer chinesischer Dichtung befasst haben muss. Darin preist Paz den Weinberger-Essay als große Studie über die Entwicklung der Übersetzung von Dichtung, vor allem aber über die Entwicklung der poetischen Sensibilität. Außerdem berichtet er, dass er selbst seine eigene Übersetzung des Wang Wei-Gedichtes nach der Lektüre von Weinbergers Betrachtungen verändert habe. Man sieht: Ein Gedicht ist nie abgeschlossen, nur aufgegeben.

Ferner hat die Herausgeberin dem schmalen Büchlein jene Erweiterungen beigefügt, die Weinberger selbst im Jahr 2016 publizierte, und zur Abrundung bat sie zehn zeitgenössische deutschsprachige LyrikerInnen um Nachdichtungen. "Leere Berge, niemand zu sehen", schrieb Ilma Rakusa, wo Monika Rinck "Menschenleere ungesehne Berge" und Uljana Wolf "der leere berg: kein mensch zu sehen" notiert. Ob in einer Nachdichtung eines klassischen chinesischen Gedichts Licht "lodern"(Hans Jürgen Balmes) darf oder ein geschmuggeltes Wort wie "moosdisplay" (Uljana Wolf) erlaubt ist, um das Schillern des Mooses im Abendlicht zu beschreiben, darüber werden sich die Sinologen wohl noch eine Weile streiten. Wie man's macht, man macht's sowieso anders, so viel ist sicher. Die gute Nachricht jedenfalls lautet: die "Neuigkeit" Wang Weis ist neu geblieben.

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Zum Weiterlesen

--- Eliot Weinberger, Neunzehn Arten Wang Wei zu betrachten (mit erweiterten Arten); aus dem Englischen und herausgegeben von Beatrice Fassbender, 112 Seiten,

--- Hier die englische Ausgabe und eine englische Fassung im Netz, in der sich auch der Octavio-Paz-Text befindet: 

--- Ferner die von Eliot Weinberger herausgegebene Sammlung "The New Directions Anthology of Classical Chinese Poetry",  aus dem klassischen Chinesisch übersetzt von David Hinton, Kenneth Rexroth, Ezra Pound, Gary Snyder und William Carlos Williams

--- Eliot Weinberger, Orangen! Erdnüsse!, aus dem Englischen von Peter Torberg, Berenberg Verlag 2011. Nur noch antiquarisch erhältlich.