Tagtigall

Es lichtet! Für Friederike Mayröcker

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
20.12.2019. Leben = Schreiben, hat Marcel Beyer das Werk Friederike Mayröckers auf eine Formel gebracht.  Heute, am 20. Dezember, wird sie 95 Jahre alt. Die Tagtigall gratuliert.
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Friederike Mayröcker, Für Vladimir Kafka

Das Kreuz, das Friederike Mayröcker hier in der Sprache herstellt, ist ein Gedicht des Dankes. Gewidmet ist es dem tschechischen Germanisten Vladimir Kafka. Kafka, geboren 1931, war u. a. ein großer Übersetzer deutschsprachiger Literatur. Er begann mit Franz Kafka. In den sechziger Jahren folgten zahlreiche zeitgenössische Autoren, darunter Böll, Grass, Johnson, Enzensberger, Mon und eben: Friederike Mayröcker. Als Vladimir Kafka mit nur 39 Jahren 1970 plötzlich starb, schrieb Mayröcker dieses Gedicht als Trauergabe für die Witwe. Ein Solitär im Lebenswerk?

Thema des Gedichtes ist die Übersetzung. Ähnlich wie im Schreiben, wirft der Übersetzer mit Mut und Schwung einen Kiesel - eine Silbe, ein Wort oder einen Sound vielleicht - in den Fluss der Sprache und der Zeit. Wenn die Kraft ausreicht, landet der Kiesel nicht mitten im Strom, wo er unmittelbar versänke, sondern näher zum anderen Ufer hin, also ein wenig näher ans Jenseitige heran. Der Satz selbst hat keinen Anfang und kein Ende, er ist unvollständig, selbst einem Fluss entrissen, und durch die Wiederholung ist er in seiner Aussage gedämpft. Das Verfahren tritt in den Vordergrund. "flusz / fluszb / fluszbe" - die Unerlöstheit, wie sie jedem Text und jeder Übersetzung eigen ist: nd / ett /d / tt.

Auch die zwei Wörter der Mittelachse "winkte / zurück", getragen von dem gemeinsamen Konsonanten "k", reflektieren den Prozess des Übersetzens, denn jede lebendige Übersetzung steht im stetigen Blickkontakt mit dem Original, und dort, wo der Kontakt gelingt, winkt das Original, und die Übersetzung winkt zurück. Und sei es mit einem zwinkernden Äuglein. Das mit dem Winken ist im Gedicht eine solide Angelegenheit, der Gleichzahl der Buchstaben wegen. Ein Gedicht ist schließlich immer auch eine physische Erscheinung.

Das Barock, das auf der Suche nach der Sprache war, kannte Gedichte, die aussahen wie Weingläser und vom Wein handelten; auch Klagegedichte, in Form einer Träne abgefasst. Im Werk von Friederike Mayröcker findet sich nur ein einziges solches Gestaltgedicht, wenn man den "Gesammelten Gedichten" glauben darf.

mondo nuovo

Übersetzungen schicken "Kiesel" auf Reisen. Die 1960er Jahre waren ein Jahrzehnt der Öffnung; viele neue Welten taten sich damals auf. Zur gleichen Zeit wie die Kafka-Hommage verfasste Friederike Mayröcker Anfang 1971 das Gedicht "mondo nuovo", neue Welt. In diesem Gedicht verwandeln sich Texte in "Texas", ferner ist von demolierter Sprache und vom heiligen Geist die Rede. Dazwischen die große Frage: "wohin? wohin?" Die neuen Welten, sie müssen angeschaut werden, sonst sind sie nur fremd.

mondo nuovo

(der Autor unsres Texas :
Liptov am Fusze der Tatra)

sfax fossvogi futapasz werden die neuen Welten sein.
Gegenfüszler werden rotieren.
Dünnkörperlichkeit : schnuppe, Sternschnuppen : die demolierten Sprachen.
Nachtigallen : Sahara und Sudan.
Strauszeneier : paar alte Pflanzstädte.
Spucke heiliger Geist.
Phantasie aus der Büchse.
Konsumgärten weisz nestlé in Dolden.
wohin? wohin?
Büraburg? Fritzlar? Australien?
Liptov am Fusze der Tatra.
Knüller : ein Mensch!

Ein merkwürdiges Gedicht. Wie lesen? Und wie übersetzen? Die ersten drei Wörter klingen wie Fremdsprache oder wie fremder Dialekt, aber sie weisen spontan nirgendwohin. Sie lassen sich kaum übersetzen. Heute jedenfalls nicht mehr. Vielleicht war das zum Zeitpunkt der Entstehung des Gedichtes anders. Schließlich ist die Poesie von Mayröcker aus Leben gemacht. Leben = Schreiben, hat Marcel Beyer einmal als Formel für ihre Dichtung geprägt.

Doch um welches Leben geht es hier? Bei Recherchen zur ersten Zeile von "mondo nuovo" fand ich heraus: Sfax liegt in Tunesien, und bis zum Kriegsgräber-Abkommen vom 28. März 1966 waren dort deutsche Soldaten aus dem Tunesienfeldzug von 1942 begraben. Auf dem Friedhof im isländischen Fossvogi liegen deutsche Flieger, die zwischen 1941 und 1943 über Island abgeschossen wurden. Und am Futapass befindet sich der größte deutsche Kriegsgräberfriedhof Italiens. Mayröckers neue Welten also sind die letzten Ruhestätten der Toten jener Macht, die einst der Welt ihre Neuordnung mit Krieg und Terror aufzwingen wollte. Doch ob die Autorin bei der Nennung der drei Namen dergleichen im Sinn hatte? Und was bedeutet der Wechsel in der Groß- und Kleinschreibung?

Wohin? Wohin? Längst sind wir Zugvögel geworden ("Sahara und Sudan"); wir gelangen weit, bis zu den Gegenfüßlern, den Antipoden. Wir bauen Burgen und errichten Pflanzstädte. Stoßen im Garten des Konsums auf weiße Dolden neben Nestléprodukten. Woher nur stammen all die Namen und Bilder, die das Gedicht hier versammelt, fragt man sich. Aus Zeitungsmeldungen? Sind es Tagesreste, wie Freud das nennt? Oder handelt es sich um Assoziationen eigener Reisetätigkeiten? Das werden wir vorerst nicht klären können.

"Phantasie aus der Büchse." Diese Zeile hat es in sich. Sie bündelt: Einerseits ist die Phantasie längst normiert und existiert nurmehr als Konserve, wie bei Warhol; andererseits kommt sie aus Gewehrläufen (Schießbüchsen) und bringt womöglich drittens, einmal freigelassen, wie die Büchse der Pandora diverse Übel in die Welt.

Lichtungen

Der letzte Vers des Gedichtes wirkt leicht; er ist voller Ironie und wirft uns die Frage unserer Existenz vor die Füße. Das größte Rätsel ist der Mensch sich selbst, wusste Novalis. Wie kommt er nur dazu, sich für einen Knüller, eine Sensation zu halten?

Wie keine versteht es diese Dichterin, das Leben in Wörter zu verwandeln, Kiesel gen Jenseits auszuwerfen und uns in der Sprache Fährten zu legen, die nicht zu neuen Welten führen, wohl aber in "clairières", in Lichtungen, wo sich die Wörter frei sonnen können. Dafür sollte man Friederike Mayröcker tagtäglich ehren, vor allem aber heute, da sie 95 Jahre wird.

Friederike Mayröcker, Gesammelte Gedichte 1939-2003, hrsg. von Marcel Beyer, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt 2003. Die zitierten Gedichte finden sich dort auf den Seiten 238 und 239. Friederike Mayröcker schreibt weiter. 2018 erschien: Pathos und Schwalbe, mit der Widmung: "du! Geistlein! E.S :! / durch die Wälder!"

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Zum Weiterlesen:

die Regenträne des Andy Warhol

erstens ich habe alles eingebracht und herangeschafft
zweitens um der Sache gerecht zu werden
drittens ich habe mir die neueste Platte von George Harrison gekauft
viertens ich habe mir die Vierte Brahms live angehört
fünftens ich folge den Gesprächen von Straszenpassanten mit meinem Ohr
sechstens ich spreche mit meinem Hauswart über das Wetter
siebentens ich sammle Notizen aus Manteltaschen Buchseiten Traumanfängen
achtens ich erfahre von einem alten Freund dasz er immer noch so ist
neuntens ich schneide ein found-poem mit dem Titel KÜNSTLICHER REGEN aus einer Zeitung
zehntens ich finde es am nächsten Morgen nicht gut genug
elftens ich schaue aus dem Fenster und sehe dasz der Himmel dunkelgrau ist
zwölftens ich schaue ein weiteres mal aus dem Fenster um zu sehen ob es endlich regnet
dreizehntens es regnet nicht so sehr ich es mir auch wünsche
vierzehntens ich erblicke eine riesige dunkelgraue Regenträne von Andy Warhol an meinen Horizont gepinselt
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