Tagtigall

Ein M summt auf

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
27.03.2023. Nico Bleutges neuer Gedichtband "schlafbaum-variationen" erzählt von Vaterglück, Vaterängsten und dem Tod des Vaters. "besuche im klinikum" hat Bleutge diesen Zyklus überschrieben. Vielfach mischen sich Summen und Lallen mit Rhythmen des Wiegens und Brüchen, ja Abgründen des Schmerzes. Sein poetisches Vorgehen macht untergründige Beziehungen hörbar.
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Wie eigentlich kommt man zur Sprache, und wie erst zu der eigenen? Wie findet man hinein in diese Welt, die auch eine der gemeinsamen Sprache ist. Wie findet man hinein, ohne sich seinerseits an die Sprache der anderen zu verlieren?

Mit den künstlerischen Fragen werden in der Dichtung auch immer existenzielle Fragen verhandelt. Nicht um sie zu lösen, bekanntlich, sondern um uns in Bewegung zu halten mit ihnen. Seit seinem ersten Gedichtband "klare konturen" im Jahr 2006 wurde Nico Bleutge von der Literaturkritik gefeiert - für seine Bildkraft und für seine Beschreibungsgenauigkeit, die uns Sedimenten von Sehen und Gesehenem, Hören und Gehörtem aussetzt. So unverbunden und sprachtraumartig manche der Bilder auf der rein semantischen Ebene sein mögen, die verschiedensten Klänge und Rhythmen und die verschiedensten Arten der Wiederholung (darunter auch Alliteration, Metapher, Reim oder Binnenreim) sorgen dafür, dass wir der Schönheit seiner Sprache gerne folgen. Da war sich die Kritik über die Jahre zunehmend einig. Und Bleutge hat inzwischen viele Bände vorgelegt. Die optischen und sinnlichen Eindrücke folgen in seiner Dichtung scheinbar keiner gedanklichen Absicht. Sie werden nicht politisch oder psychologisch oder metaphorisch beladen. Kurz- und Langgedichte mischen sich in allen seinen Bänden. Dystichen, Sonette, lyrische Prosa. Doch etwas in dem jüngsten Band, "schlafbaum-variationen", ist anders. Neu, so scheint es, denn erstmals stehen Begegnungen im Zentrum, Geburt und Tod: Es geht um Vaterglück, um Vaterängste, und außerdem um den Tod des (eigenen?) Vaters. "Anfangen, wieder" ist der erste Zyklus im Buch überschrieben, und das zweite Gedicht darin beginnt so:

nicht am kopf berührt

werden. vom arm nicht wollen, nicht
bepuckt sein wollen. beflügelt der anfang

wenn aus der ferne, so viel nicht mögen
heißen kann. als wäre es meer und land

und der alles deckende Himmel. (...)

Nur selten gibt es in Bleutges Gedichten einen dezidierten Anfang oder ein dezidiertes Ende. Auch hier nicht. Fast schwebend gerät man in den im Gedicht fixierten Raum oder Augenblick hinein, hier in die sorgende Beobachtungs- und Fragewelt von jemandem, der ein Neugeborenes auf dem Arm trägt. Was braucht so ein Kleines, das sich noch nicht mit Worten äußert, scheinbar noch ohne Geschlecht ist und wie es aussieht - noch - im infiniten Infinitiv lebt. Im Gedicht erfährt man zuvorderst, was das Kleine nicht will: nicht am Kopf berührt, nicht vom Arm fortgelegt, und nicht zum Schlaf eng eingewickelt (gepuckt) werden. Wie kann man die Sprache des Körpers lesen, der noch nicht zur Sprache gekommen ist?

Oft sind bei Bleutge die Aggregatzustände im Ungeschiedenen angesiedelt. Im schlafbaum-Band mischen sich Summen und Lallen mit Rhythmen des Wiegens. Um die Sprache weiter ins Offene zu treiben, nutzt Bleutge auch hier gerne zusammengesetzte Worte wie "schneebeere" oder "lichtkäfig", die, indem sie sich bündeln, die Einbildungskraft in mehrere Richtungen öffnen. In dem Gedicht "nicht am kopf berührt werden" finden sich u.a. Wörter wie "milchräume", "mondkralle" und "mulchtau" neben meer, molchig, gäumlings und flaum - ein M summt auf.

Liest man weiter im Buch, wird klar, dass das Kleine eine Tochter ist. Das lyrische Ich schiebt Kinderwagen, reist ans Meer und hockt in jener Sand-Rand-Zone zwischen Land und Wasser, wo Kinder sich Sand in den Mund stopfen und sich mit Gräsern die Augen reiben. Auch Kinderreime werden variiert; einmal heißt es: "ich mach dir einen hut aus gras, aus sieben enden dreie, aus sieben enden stücker zehn, die schieb ich dir ins freie."

Sprache ist aus Verführung gemacht. In einem Essay erzählt Bleutge von der "konzentrierten Euphorie", die ihn beim Schreiben von Gedichten mitunter widerfährt. Einmal beschreibt er eine Gruppe Schafe und wie sie im Kreis mit dem Kopf nach innen zusammenstehen, wohl weil ein Gewitter in der Luft liegt. Ein andermal ist es nachts:

von einem fenster aus, plötzlich steht es
offen, durch einen strauch hindurch die sterne
wie sie verschwinden, mit einem schnellen
wischen. vielleicht wie immer ohne geräusch
tauchen falter auf, deren flügel leuchten
ameisenklein von der brechung des lichts
in ihren röhren beginnt luft zu knistern
vielleicht sind es gar keine sterne, was
hinter den zweigen vorbeiwischt /

Eindrücke, die sich im nächsten Moment wieder auflösen, und doch: sie hinterlassen etwas in uns. Bleutges poetisches Vorgehen macht untergründige Beziehungen hörbar. Man kann die Bilder nicht fassen, und hat sie doch gesehen.

Einmal in diesem neuen Band aber ist alles anders. Der frischgeborene Vater (das lyrische Ich) sieht sich mit dem Tod des eigenen Vater konfrontiert. Jeder konkrete Tod, zumal der Tod der eigenen Eltern oder der eigenen Kinder, ist unfassbar. Wie nähert man sich solch einem bedrohlichen Einbruch? "besuche im klinikum" hat Bleutge den Zyklus überschrieben. Um diesen Gang mental überhaupt wagen zu können, hat er sich bei der großen amerikanischen Dichterin Elizabeth Bishop Rat und Tat geholt. Im Englischen gibt es ein Kindergedicht, das sich aus der Anfangszeile "This is the house that jack built" immer weiter fortschreibt. Nacheinander tauchen u.a. eine Ratte, eine Katze, eine Milchkuh ein Pfarrer und ein Mädchen auf, doch jede Strophe führt zurück in das Haus, "that Jack built". Die einfache, wiederkehrende Struktur des Gedichtes befriedigt das Verlangen des Gehirns nach Rhythmus und Wiederholung; so können Kinder memorieren, auch was sie nicht begreifen.

Bishop hatte 1950 den Kinderreim abgewandelt und ihre Version als "Visits to St. Elizabeths" überschrieben. Der Vers "This is the man that lies in the house of Bedlam" fixiert scheinbar unbeteiligt, den Schrecken eines Besuches in der Washingtoner Irrenanstalt von St. Elizabeth, wo der Dichter Ezra Pound nach dem Krieg von 1945 bis 1958 weggesperrt war und Bishop ihn mehrfach besuchte. Offensichtlich lieh sich Bleutge von Bishop die Form und verfasste "Besuche im Klinikum": "das ist der mann / der liegt in der klinik, Regensburg" und als nächstes folgt: "das ist der rau  / für den mann, sechs tage lang / der liegt in der klinik Regensburg". Wo in Bishops Gedicht ein Seemann, eine Uhr, ein Junge, ein Plankenmeer und ein Sargbrett vorkommen, findet sich bei Bleutge ein Film der Erinnerung, mit einer Landschaft, einer Dampflock, und einem Jungen mit Cowboyhut. Reminiszenzen der Kindheit. Irgendwann reißt der Super-8-Film, irgendwann werden die Bilder rückwärts gespult.

das ist ein kopf der bewegt sich kaum
das ist eine welt aus gesetzen, verschenkt
an den jungen mit dem cowboyhut
der schnell die lok versenkt
die durch die landschaft fällt
an den projektor denkt
in dem der film, der fluß schon rückwärts spult
auf daß der plan erscheint
der zeigt den raum
und kurz den mann
der liegt in Regensburg sechs tage lang.

Die unbeteiligte Genauigkeit seiner Beobachtungen, die er auf Reisen mit seiner Familie erlebte, muss, so erzählte er einmal, der Ursprung seines Schreibens gewesen sein. Im letzte Zyklus des Bandes ("schlafbaum variationen" betitelt) verweben sich hochkonzentriert Erinnerungen an den Vater, der so gerne am Tisch saß und Tiere malte, mit eigenen Tierbildern und mit einem Nachdenken über das Schreiben. Was hat sein Schreiben mit dem väterlichem Zeichnen zu tun? Überall jedenfalls pfeifen und sirren und keckern hier Tiere durch die Zeilen, allen voran Vögel: Krähen ebenso wie Stare, die des Nachts zuhauf die Schlafbäume besiedeln. Außerdem viele Falken, die, so will es ihre Natur, den Staren nach dem Leben trachten. Väterliche Zeichenblätter quellen aus Schubladen hervor und mischen sich mit den Beobachtungen des Sohnes. Der große Lichtkäfig am Himmel, zitiert der Text Elizabeth Bishop, ist geborsten und hat Tausende von Vögeln in die Freiheit entlassen. Diese Dichtung tut es ihnen nach: sie entlässt Bilder und Worte ins Freie.

noch einmal durchlebt. in die töne
geschrammt. in falten, falkenwellen wie lücken gedacht
wie arbeiten. für. eine art. von sehen. aus. klängen

Eine Art von Sehen aus Klängen, das ist Bleutges Kunst.

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Zum Weiterlesen:

Nico Bleutge, schlafbaum-variationen. Gedichte, C.H. Beck Verlag, 2023, 117 Seiten, 22 Euro.
ders., Auf der Glasfläche. Vom poetischen Sehen.
ders.: Drei Fliegen. Über Gedichte, C.H.Beck, 2020, 326 Seiten, 24 Euro.
Elizabeth Bishop, "Visiten in St. Elizabeth", dt von Barbara Köhler in dies., Neufundland, edition korrespondenzen, 260 S., 24 Euro, hier S. 163 - 169.