Tagtigall

Vom Lodern des Lebens

Die Lyrikkolumne. Von Marie Luise Knott
18.12.2020. Die italienische Bäuerin und Lyrikerin Roberta Dapunt schreibt in ihrem neuen Gedichtband "die krankheit wunder" über die Demenz der Bäuerin Uma. Prosa wechselt mit gebundener Sprache. Feine Beobachtungen wechseln einander ab mit Szenen der Verstörung über die jähe, so endgültig scheinende Fremdheit.
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Gedichte handeln, jedes auf seine Weise, vom Lodern des Lebens. So auch die Verse der Roberta Dapunt, die in Norditalien auf einem Bauernhof lebt, auf Italienisch wie Ladinisch schreibt und in Italien schon zahlreiche Preise für ihre Dichtung erhielt. Zuletzt für ihren Band "Sincope" 2018 den Viareggio-Preis. Auf Deutsch liegt bisher noch viel zu wenig von ihr vor, aber immerhin: 2012 erschien "Nauz", und die Kritiken stellten fest, dass selten so präzise, botschaftslos, über das Schlachten und das damit verbundene Schlachtfest geschrieben worden sei. Nichts werde in den Gedichten Roberta Dapunts geschönt, bei ihr gehe die Wirklichkeit in Poesie über. 2016 erschien der Band "dies mehr als Paradies", das von der Arbeit auf dem Bauernhof und dem Leben in Abtei, italienisch Badia, handelt.

Keine Fremdsprache, keine dir unbekannte Sprache Bauer ist dir die Welt.  /
Dasselbe Tuch um den Kopf und der zarte Feldspinat auch jenseits der Berge.


Ein Gedicht wie ein Haibun. Fremde, auch liturgische Formeln mischen sich bei Dapunt immer wieder in die äußerst weltlichen Beobachtungen hinein. Beim Lesen entsteht eine Welt für sich. Nun ist ein neuer Gedichtband auf Deutsch erschienen. Thema des Bandes ist die Demenz der Bäuerin Uma (ladinisch für Mutter), die einst "immer ruhelos tätig war", bis die Krankheit sie, wie es heißt, "sorglos" machte - ein "Grashalm, der um seine Wiese nicht weiß." Was kann die Sprache vermitteln von den verstörenden Begegnungen mit dieser Krankheit, was von der ihnen innewohnenden Trauer wie Schönheit? Aus dem Titel "Le beatitudini della malattia" (Die Glückseligkeiten der Krankheit") wurde auf Deutsch "Der krankheit wunder", wohl um die religiöse Dimension von "beatitudine" zu stärken.

Eingangs findet sich ein Erinnerungsbild.

"Wer gerufen ward an diesen tisch ein mal, den riefen wir wieder im gebet, im gedenken an Maria. Wir saßen darum gewölbt beim essen zu vielt, die tafel ein geviert das kaum ausreichte und zählte nicht die teller. Es waren in die mitte des tischs die richtigen mengen essen gestellt und keiner urteilte das gericht ... An der tafel bildeten wir ein vollkommenes geschöpf (...)Am grund der stille trug ein jeder von uns einen kübel dumpfer gedanken. Am grund der stille malmte ein jeder ungeschmückt von worten, bis in dem auslaut jedes mahls du mit zaghafter stimme erhobst das gedenken an Maria. Unsicher setzten wir ein."

"Am Grund der Stille" - Mittagsmahlzeit auf dem Hof. Jedes Wort wiegt hier. Und die Stille wiegt mit. Mit "gerufen ward" ist Gott mit am Tisch; das eingefügte "ein mal" erschafft die Gemeinschaft der Lebenden mit den Toten. Die Menschen sind von der Arbeit nicht niedergedrückt, sondern "gewölbt"; so bilden sie ein unteilbares, harmonisches Ganzes ("zu vielt"), wie das Stubengewölbe, in dem sie sitzen. Geurteilt wird nicht. Das Schweigen - der bäuerlichen Wortkargheit ebenso wie dem Hunger geschuldet - endet, wie es begann: mit dem von der Bäuerin, Uma, angestoßenen Marien-Gebet, in das alle einfallen. Im Einklang lassen sie das Mahl "auslauten", als seien sie eine Kehle, eine Stimme.

Dieses erste Prosagedicht des Bandes ist von frappierender Intensität - wie eine Szenerie aus einem Gemälde von Carpaccio. Eine spontane und zugleich altertümlich anmutende Sprache.

Nicht mich anschauen indem du isst, nicht heben den blick,
könntest meinem urteil begegnen und es billigen,

heißt es einmal über die durch die Krankheit in ihrem Fundament berührte Beziehung, wo man zum Blick des Anderen nicht mehr vordringt. Die Sprache spiegelt auch die Zerrissenheiten; wann immer man glaubt, Inseln des Verstehens zu erreichen, bricht das Verständnis im nächsten Moment wieder zusammen. Infinitive durchsetzen viele der Texte und geben Zeugnis davon, dass in der Krankheit die Linearität der Zeit aufgelöst scheint: anschauen, heben, begegnen, billigen. Immer wieder stößt man auf Momente der Schönheit:

Hast du dich nie gefragt ob dort, wo der schnee endet,
glücklichere gräser wachsen.

Der Band ist eine poetische Erzählung, aus lauter kleinen Szenen gebaut. Die Sprache des Originals setzt sich den Brüchen aus.  Doch statt diese um eines besseren Verständnisses willen im Deutschen zu verkleinern, haben die Bruchlinien in der Übersetzung schärfere Konturen gewonnen. So schön und vor allem: so sanft die Sprache ist, manche Zeilen wirken fast wie Rohübersetzungen, als folgten sie zu streng dem italienischen Satzduktus. Das befremdet erst einmal. Doch dann erinnert man sich an Hölderlins Sophokles-Übertragungen, in denen der Dichter gegen alle zeitgenössische Kritik beharrlich danach suchte, der (eigenen) Sprache ihren üblichen Gebrauch auszutreiben - eine Rage ob der Vereinnahmung der Sprache für sprachfremde Zwecke, weshalb Anne Carson von "einer roten Sprache" spricht und davon, dass Hölderlin danach trachte, die Kommunikation zu "katastrophisieren". Eine ähnliche "Katastrophisierung" müssen auch die Übersetzer dieses Bandes im Blick gehabt haben. Manchmal überzeugt es dennoch nicht ganz.

Einige der Gedichte in "die krankheit wunder" sind kurz, andere füllen ganze Seiten. Prosa wechselt mit gebundener Sprache. Feine Beobachtungen wechseln einander ab mit Szenen der Verstörung über die jähe, so endgültig scheinende Fremdheit. Eine Waschung etwa wird zum Bild dafür, wie sehr in allen Momenten der Begegnung und in jeder Zeile des Bandes die Frage der Würde essentiell mitschwingt.

Oft geht die Demenz einher mit Sprachverlust, doch die Ausfälle erfolgen schleichend. Zunächst vergisst der Kranke Wörter, die er im Alltag selten benutzt, während häufig verwendete, vertraute Sequenzen und Klänge noch lange beibehalten werden. Das Erfahren von Abwesenheit wird zum ständigen Begleiter.

Mein sein bei dir ist immer, dein bleiben an meiner seite,
mein nichtswerden vor dir.

Worte wie "niemand" und "nichts" durchziehen die Texte wie eine Schleife der Angst: "A nulla io dico, nulla tu rispondi" lautet eine Zeile auf Italienisch. "Zu nichts spreche ich, und du antwortest nichts", schreiben die Übersetzer aus dem Versatorium - dem in Wien beheimateten Verein für Übersetzung und Sprache - die immer kollektiv arbeiten. Sie haben das Original nicht einfach übersetzt, sondern "übertragen", und zwischen den Gedichten finden sich Leerseiten, wohl auch um die Auflösung der Zusammenhänge zu inszenieren. "Es ist ein schmerzhafter Weg, eine Form von Mystik, der es an Wundern nicht mangelt", urteilte die Jury des Österreichischen Rundfunks, die das Buch im Dezember 2020 auf ihre Bestenliste setzte. Verstörungen dominieren nicht nur die Sprache.

Die du nie ruhe gesät hast, unaufhaltsames umsorgen
und nicht saßest am tisch zum essen
Bliebst stehn ich sagte dir nimm platz
und als wäre es ein gesetz hast dich gesetzt.

Die so oft beschworene Autonomie des Menschen ist aus vielen Gründen ein fragiles, ja, fragwürdiges Konzept, wie wir längst wissen. Nicht alle Gesetze, die das eigene Tun bestimmen, sind so offensichtlich wie hier, und es gibt keine Antwort auf die Frage der Würde, die - wie in diese Gedichten - permanent neu wachgehalten werden muss. In Roberta Dapunts Gespräch mit sich, mit der Krankheit und mit "Uma" weiß jedes Wort um die "verzagtheit des sagens". Die Fragen des Lebens lodern weiter.

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Roberta Dapunt, die krankheit wunder, Versatorium, Folio 2020, 163 Seiten, 20 Euro. Das Buch erschien 2013 auf Italienisch.

Noch ein Gedicht:

Der kalte hausgang und kranz und kranz aus blumen,
geschmack nach sommern zum trocknen gehängt.
Ruf mich wenn du fertig bist und gewaschen.
Ich zieh dir die Strümpfe an, die Pantoffeln stehen da und erwarten
deine füße mit den verkreuzten zehen.

Zum Weiterlesen:

Roberta Dapunt, dies mehr als paradies, aus dem Ladinischen von Versatorium, Folio 2016

Roberta Dapunt, Nauz, mit zahlreichen Bildern, aus dem Ladinischen von Alma Valazza, Folio Verlag 2012, Neuauflage 2019

Außerdem hat die Landesbibliothek in Bozen eine Autorenbegegnung mit Lesung und Gespräch mit Roberta Dapunt gefilmt - hier zu sehen auf Youtube.