Vorworte

Leseprobe zu C. A. Davids: "Hoffnung & Revolution"

Über Bücher, die kommen.

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Unter dem Gelben Berg

Fünfundvierzig Jahre ist es her, dass ich mein Dorf gesehen habe. Für einen Mann, der in diesen langen Jahrzehnten an nichts anderes denken konnte, eine Ewigkeit. Ein Gedanke, der sich nicht verdrängen ließ: Mutter.


Meine Reise von der Stadt zurück in mein Heimatdorf fing in einem Bummelzug an, auf dessen Sitzen man sich vorkam, als wäre man in Ungnade gefallen. Die ganze Nacht über atmete ich Fremde ein und atmete ihr trauriges Leben aus. Nicht einmal eine Flasche Wein konnte diese lange, abenteuerliche Reise retten. Ich habe es versucht.

Nichts blieb mir von diesem Ort in Erinnerung. Schreckliches wurde von Hoffnungslosigkeit verdrängt. Die verdorrten Bäume waren alle verschwunden, von Strom- und Telefonmasten ersetzt worden, die alten Gebäude hatte man abgerissen, der Fluss war ausgetrocknet, wo einst Weizenfelder gewesen waren, standen jetzt Fabriken, die bonbonbunte Wolken in die Luft pumpten.

Ich wartete auf ein Taxi, zehn, zwanzig Minuten lang, bis eine Straßenverkäuferin mit dem Dorftrottel Mitleid bekam und meinte, zu Fuß wäre ich schneller. Die Rikschafahrer ständen um die Ecke, fügte sie lachend hinzu und als reichte das nicht: Was wollen Sie hier? Haben Sie sich verirrt?

Eine Rikscha brachte mich zum Motel, wo ich meine paar Sachen auspackte, meine Gepäckstücke verstaute und meine Bücher auf den kleinen Schreibtisch legte, von dem aus man Blick auf die Straße hatte. Plötzlich überkam mich heftige Sehnsucht nach meiner Schreibmaschine, alter Nostalgiker, der ich bin. Auch nach meiner Freundin. Wäre sie nicht eines Tages plötzlich aufgetaucht und hätte Hoffnung mitgebracht, hätte ich den Mut gehabt, mir diesen Plan auszudenken?

Ich fand ein Versteck für die wenigen Notizbücher, die ich immer bei mir trage (die anderen sind sicher verstaut). Die durch den Smog gesiebte Sonne brannte unerbittlich, als ich mich gegen Mittag aufmachte, um zu sehen, was aus meinem Dorf geworden war. Nach einer Minute war ich außer Atem. Die Luft war so geschwängert von einer Neonwolke, die unablässig aus einer Reihe Fabriken am Stadtrand aufstieg, dass mir ein bitterer Geschmack auf der Zunge lag, der nur mit einem Gift meiner Wahl verdrängt werden konnte. Innerhalb einer Stunde rauchte ich mich durch ein Päckchen Zigaretten. Die Imbissstände hatten bereits geöffnet und ich entdeckte ein uraltes Paar, das heiße, nach Kindheit schmeckende Bohnennudeln verkaufte. Ich ging an aufgereihten Hühnern vorbei, denen die Überraschung, dass sie den Kopf verloren hatten, an den hochgereckten Beinen abzulesen war und die mir ein stummes Rette-mich zukreischten, an Erdnussverkäufern, an kandierten Pflaumen am Spieß und an Maisreis, den ich nicht mehr gesehen hatte, seit ich ein kleiner Junge gewesen war. Ich schritt die Hauptstraße zweimal ab und fand trotzdem nirgendwo eine Tasse aufgebrühten Kaffee.

Der Ort trug seine Verwahrlosung wie einen Anzug aus zweiter Hand, geteerte Straßen hin, Strom- und Telefonleitungen her. Vielleicht gab es hier mittlerweile Schulen und möglicherweise rannten altkluge Kinder durch die Straßen, aber es war ganz klar, dass der Boom anderswo Halt gemacht hatte. Es gab keine Hochhäuser, nur niedrige, fensterlose Zementblöcke, die Straßen waren schlammig, die Autos alt und die Menschen hatten sich mit einem minderen Leben abgefunden.

Ich ging weiter, bis ich auf eine Gruppe Rentner traf, die Mah-Jongg spielten. Wenigstens das hatte sich nicht geändert, in jeder Stadt trifft man jeden Tag an jeder Ecke eine Gruppe alter Menschen, die Mah-Jongg spielt oder Gewichtiges, wie die letzte Folge von "Ich bin Sänger" diskutiert. Als ich näherkam, wurden Gespräch und Spiel unterbrochen. Von den drei Frauen und vier Männern, die sich vor einem Friseurladen aufhielten, musterten mich alle bis auf einen von oben bis unten und taten anschließend so, als wäre ich Luft. Nach einer Minute trat ich näher.

Was willst du, fragte eine unfreundliche Alte. Willst uns im Auftrag der Regierung ausspionieren?

Nein, nein, ganz und gar nicht. Guten Tag, erwiderte ich, verblüfft über das plötzliche Verhör, und kam mir wie ihr Untergebener vor, obwohl wir nur wenige Jahre auseinander sein konnten. Und dieser Bauernjunge musste sich eingestehen, dass sich in seinem Heimatdorf die in der Ferne verbrachten Jahrzehnte deutlich bemerkbar machten. Meine schwarzen Jeans und das graue T-Shirt waren fast neu, und so fremd mir die Westler waren, so fremd war ich diesen Dörflern.

Sie starrten mich an.

Ich stamme aus diesem Dorf, sagte ich in der Hoffnung, Eindruck zu schinden.

Name, fragte die grimmige alte Schachtel.

Ich nannte ihn und aus unerklärlichen Gründen, möglicherweise Angst, verbeugte ich mich.

Ha, sagte einer der Männer, der bisher nicht aufgesehen hatte. Er starrte mich angestrengt an, stand auf und kam herüber. Seine große Nase versuchte, mich zu erschnüffeln, seine Augen tasteten langsam jeden meiner Gesichtszüge ab. Ohne Vorwarnung packte er meine Hand und schüttelte sie heftig.

Ich kenn dich! Wir haben zusammen gespielt. Als Kinder haben wir Fang den Drachenschwanz gespielt, ich war allerdings viel jünger als er, sagte er entschuldigend zur lauschenden Gruppe, da er mittlerweile mit seiner schmutzigen Weste und der vom Kopf abstehenden Wollmütze zehn Jahre älter aussah als ich. Du bist der Dichter, sagte er und schüttelte mir derart heftig die Hand, dass ich fürchtete, sie könnte abfallen.

Daraufhin verflüchtigte sich die Feindseligkeit und sie machten mir Platz in ihrem Kreis.

Ich konnte mich nur verschwommen an den Mann erinnern, an seine ältere Schwester jedoch problemlos. Als ich mich erkundigte, wo sie lebte, wie es ihr ging, meinte er glucksend, das sei ein Thema für ein zweites oder drittes Gespräch. Der Rest der Bande, erfuhr ich an diesem Nachmittag, war im Laufe der Jahrzehnte aus den umliegenden Dörfern und Städten zugewandert.

Man bot mir den einzigen Stuhl mit Rückenlehne an und schenkte mir Tee in eine derart verfärbte Tasse ein, dass ich kurz innehielt, und dann mit dem ausgezeichneten Tee auch meinen Stolz herunterschluckte. Seit wann fürchtete ich mich vor den Menschen wie ein Westler?

Spielen wir Mah-Jongg, verlangten sie.

Zum ersten Mal seit Jahrzehnten saß ich mit Menschen meiner Generation zusammen. Genau gesagt mit Menschen aus meiner Provinz, meinem Dorf. Menschen, die ich die meinen nennen wollte.


Was für eine Reise von dem Augenblick, als ich 1989 aus meinem Schlummer erwachte, bis zum heutigen Tag, an dem ich in meinem Heimatdorf in einem Motel sitze. Die Aussage, dass meine Seele eine Art Revolution erlebte, ist keineswegs zu dramatisch (na gut, ist es doch). In diesen zwanzig Jahren ging ich in meine Vergangenheit zurück. Ich meldete mich freiwillig für Einsätze außerhalb Beijings, denn in den kleinen Städten, den Dörfern, den Orten am Arsch von Chinas stratosphärischem Wachstum lief mir die Geschichte gewissermaßen automatisch über den Weg. Die Partei hatte akribisch Archivmaterial gesammelt, aus dem man sehr viel erfahren konnte. Mit meinem weißen Kärtchen samt Foto, auf dem ich aussah wie der ehrliche, fleißige Journalist, als der ich mich noch erweisen musste, schwatzte ich mir den Weg zu den Annalen frei. Immerhin arbeitete ich für den staatlichen Pressedienst, dieses geschwätzige Parteisprachrohr, und hatte ich nicht einstens sklavisch Parolen zur Unterstützung unserer Revolution verfasst? Unter dem Deckmantel meines Berufs durfte ich daher tagelang ungestört die Unterlagen studieren.

Was war das Ergebnis meiner Bemühungen? Sie werden mir wohl vertrauen müssen, wenn ich sage, die Vergangenheit war ein anderes Land als das mir bekannte.

In ganz China waren Menschen verhungert, doch bezeugten die Archive, dass die Kornkammern voll waren wie der Bauch des Parteichefs. In einem Dorf nach dem anderen immer wieder der gleiche Anblick. Dort wie auch im Dorf meiner Jugend waren die Menschen zu Tausenden gestorben oder verschwunden. Das alles ergab keinen Sinn: Gewaltige Anstrengungen der Bauern, Kornkammern, die zum Bersten voll waren oder hätten sein sollen, Volksküchen für die Verköstigung der Menschen, gutes Wetter, aber keine Nahrung.

Die Dorfbewohner selbst füllten diese Leerstellen, dazu bedurfte es kaum der Aufforderung, als ich mich als geübter Eckensteher zu Mah-Jongg, Tee und Klatsch unter die Rentner mischte. Vielleicht werden eines Tags Geschichtsbücher und gebildetere Gelehrte als ich diese Geschichte mit der gebührenden Sorgfalt erzählen. Dies hier sind bloße Erinnerungen, die Suche nach einer verschwundenen Mutter und ich kann nur weitergeben, was ich zusammengetragen habe.


Der Vorsitzende, gelobt sei er (meine Zunge trieft), hatte entschieden, dass der Weg aus jahrhundertelanger Hungersnot über gesteigerte Landwirtschafts- und Stahlproduktion führte. Wo andere nach der Entdeckung von Gold, Diamanten oder Öl den Sprung nach vorn taten, würden wir dank der größten natürlichen Ressource unserer Nation in eine neue Welt befördert: dem Volk. Und so wurden die Menschen im ganzen Land gedrängt: Gebt alles, steckt euch hohe Ziele!

Die Provinzen erhielten Befehle, was angepflanzt, hergestellt oder gebaut werden sollte, unter Vorgaben von Plansolls, festgelegt mit einem Federstrich in Behörden, die weit entfernt waren von Land und Leuten.

Zähmt die Winde und brecht die Wellen!

Verdoppelt den Reisertrag, verdreifacht den Weizenertrag, verhüttet alles zu Stahl!

Diese Leute haben noch nie einen Damm gebaut? Dann werden sie es in einer Woche lernen!

Wir wurden nicht nur vom Gigantismus, sondern auch vom Gigantizismus heimgesucht, der bald den gesamten Staat erfasste. Was geschah als nächstes?

Zur Erfüllung des unmöglichen Plansolls mussten Menschen lügen, betrügen und manipulieren, nicht nur einander, sondern auch die Zahlen (wenn wir keine zweihundert Millionen Tonnen produzieren können, sagen wir einfach, wir können das, aber jemand wird leer ausgehen).

Zur Erfüllung des phantastischen Plansolls mussten die Menschen arbeiten, arbeiten, arbeiten. Leiber, die unter der Last zusammenbrechen, bringen der Nation ein Opfer!

Zur Erfüllung des unmenschlichen Plansolls nahmen die Verantwortlichen den Bauern das Essen aus dem Mund und schickten es nach Beijing. Oder vielleicht schlossen sie es in Kornkammern ein, wo es sicher war.

Zur Erfüllung des übertriebenen Plansolls wurde alles eingeschmolzen: Töpfe, Hacken, Rechen, sämtliche Arbeitsstunden wurden für die Stahlverhüttung aufgewendet. Was blieb für die Bauernhöfe? Nichts und niemand. Kein Werkzeug und niemand zum Anbau von Nahrungsmitteln. Schließlich keine Nahrungsmittel.

Zur Erfüllung der Strafmaßnahmen mussten persönliche Gedanken und Freiräume geopfert werden und Kommunen waren die neuen Familienverbände der Nation. Keine Küchengeräte, nicht unser Problem!

Zur Erfüllung des teuflischen Plansolls wurde absolute Loyalität von Körper und Geist gefordert. Sollte dieses Plansoll nicht erfüllt werden, wäre zu Tode prügeln angebracht.

Zehn Millionen? Zwanzig Millionen? Fünfundvierzig Millionen Menschenleben? Was kostete dieser Wahnsinn? Das wissen nur die Archive und sie schweigen größtenteils.

Haben sich alle demütig verbeugt und ihren Kratzfuß gemacht? Nein. Sie starben.


Mit freundlicher Genehmigung des Verlags Das Wunderhorn

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