Vorworte

Leseprobe zu J. O. Morgans "Der Apparat"

Über Bücher, die kommen.

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9. AUSGESCHNITTEN

Die Verbindung ist schlecht, als Mrs Mulligan zum letzten Mal mit ihrer Tochter spricht. Ein böses Omen? Beim Transfer mittels der neuen Technologie geht auch das Mädchen selbst verloren. Als Leseprobe haben wir den ersten Teil des 9. Kapitels aus J. O. Morgans Roman ausgewählt.

"Wie war das, Anji? Es ist so laut bei dir. Sprich bitte direkt ins Mikro. Halt es näher ran."
     "Ich hab gesagt, alles okay, Ma. Ich bin am Telehafen. Ich … warte bloß. Wir alle-[ZISCHEN]"
     "Und war's schön? Hattest du Spaß? Hat's den anderen gefallen? Die Aufführung?"
     [UNVERSTÄNDLICHE STIMMEN; GELÄCHTER]
     "Anji? … Hallo? Ich … Ich hör dich ganz schlecht."
     "Ja, ja, war schön, Ma. Wir warten hier nur. Zieht sich."
     "Habt ihr schon ein Fenster? Die müssten euch doch längst einen Slot zugeteilt haben."
     "Ja, nee. Krass viel los hier. Miss Anders meint, das ist, weil [ZISCHEN], und das wird jedes Jahr schlimmer."
     "Aber komm direkt hierher, ja? Machst du das? Du hast deine Karte, oder? Schau nach, in deinen Taschen. Und die sollen die richtig scannen! Und du musst un-be-dingt nachprüfen, ob sie die richtige Adresse haben. Bei denen kann man nie wissen."
     "Das wird alles viel leichter, wenn [ÜBERTÖNT VON EINER LAUTSPRECHERDURCHSAGE] sind, tausendmal besser wird das."
     "Anji? … Hallo? … Das Letzte hab ich nicht verstanden."
     "Wenn das alles drahtlos wird, Ma. Wenn das mal alles läuft, dann [ZISCHEN], vor allem international. Dann kannst du einfach so, flutsch, über den Ozean springen. Direkt von [ZISCHEN] und superschnell."
     "Wenn ich wenigstens wüsste, wann du kommst, könnte ich schon mal das Essen machen."
     "[ZISCHEN] schon gegessen. Zumindest das [UNVERSTÄNDLICH] echt gut hier."
     "Anji? Die Verbindung wird immer mieser. Was war gut?"
     "[GELÄCHTER] … Ja … Alles okay, Ma. Echt. Erzähl dir alles in Ruhe heute Abend."
     "Na gut, aber wenn's spät wird, bin ich vielleicht weg. Ab acht Uhr bin ich bei deiner Tante. Ab acht, okay? Schreib's dir auf."
     "Alles klar, Ma. Alles klar. Ich bin-"
     [PLÖTZLICHE STILLE]
     "Hallo? … Anji?"



"… nein, uns wurde keine Störung gemeldet, nichts Ungewöh- Aber gern, Madam. Haben Sie die Travelcard-Daten? … Danke … Tut mir leid, aber unter diesem Code kann ich nichts finden, haben Sie vielleicht die … Ja, ich probiere gern andere Suchparameter, wenn … Okay, und von wo aus ist sie eingereist? … Nein, da wurde heute überhaupt nichts gemeldet. Oh, halt, außer … Entschuldigen Sie, könnten Sie mal kurz warten? … Nein, ich muss nur meinen Vorgesetzten was fragen, danke."
     [ELEKTRONISCHE KLAVIERMUSIK]
     "Hallo? Mrs Mulligan? … Vielen Dank für Ihre Geduld. Also, in unserem System ist heute nichts vermerkt … Nein, nichts unter diesem Namen … Das soll heißen, dass wir leider keinen Transfer bestätigen können … Nein, tut mir leid, das wird nicht angezeigt … Ehrlich, es tut mir leid, aber darüber habe ich keine Informationen … Es tut mir leid, aber … Nein, ich sehe da leider wirklich … Mrs Mulligan?"



"Ja, das mag schon stimmen, aber die brauchen Beweise. Hieb- und stichfeste Beweise. Ohne werden die den Fall kaum weiterverfolgen, davon können wir ausgehen."
     "Und was ist mit der Lehrerin? Die zählt doch sicherlich als glaubwürdige Zeugin, oder? Hat sie nicht gesagt, sie hätte das Mädchen in den Transporter steigen sehen? Also definitiv rein?"
     "Moment … Miss Anders, meinen Sie? Ich glaube, die … Ja, genau, bei der ersten Befragung hat sie das noch gesagt. Aber bei der ausführlichen Vernehmung, nachdem man ihr erklärt hatte, was genau das juristisch nach sich ziehen kann, na ja, da war sie nicht mehr ganz so sicher. Da sagte sie nur, sie glaube, sie habe die kleine Mulligan einsteigen sehen. Aber es waren ja so viele Schüler, und sie hätte unmöglich alle im Auge behalten können."
     "Und die anderen Kinder? Die Freundinnen des Mädchens? Irgendjemand muss sie doch gesehen haben."
     "Nein. Sollte man meinen, stimmt, aber nein. Wurden alle befragt. Und sie alle würden schwören, dass sie vor ihr durch sind."
     "Na gut, aber ein Vergleich kommt keinesfalls in Frage. Können wir uns nicht leisten. Das wäre ja praktisch ein Schuldeingeständnis. Als würden wir zugeben, dass wirklich was passiert ist."
     "Ganz Ihrer Meinung. Und wir haben ihr ja was angeboten. Eine Geste. Eine ziemlich große sogar. Kostenlose Transporte. Für sie und neun weitere Personen. Freunde und Verwandte. Lebenslängliches Gratisabo für alle."
     "Das ist doch wirklich ausgesprochen großzügig. Ich hoffe, sie weiß auch zu schätzen, was das wert ist. In Geld umgerechnet, meine ich. Wie hat sie das denn aufgenommen?"
     "Na ja, ein bisschen komisch, ehrlich gesagt. Moment, steht hier irgendwo … Ah, genau, sie wollte wissen, wie lange lebenslänglich in unseren Augen ist."



[Sie kniet auf allen Vieren im Wohnzimmer und nimmt den Apparat mit einem Schraubenzieher auseinander. Stemmt die Frontblende heraus und leuchtet mit der Taschenlampe hinein, ehe sie sich weiter vorarbeitet. Sie zerrt das Innenleben hervor. Die Kargheit des Dings überrascht sie. Von außen sieht es so durchdesignt und solide aus, aber innen drin sind bloß Kabel und Plastik. Ein paar einfache Platinen. Dünne, vergoldete Kontakte. Nichts, was nach komplizierter Technik aussieht. Sie macht Fotos, lässt sie zweifach ausdrucken, geht mit einem Satz Bilder und ihrer Story zu einer Zeitung. Dort hört man ihr aufmerksam zu. Schreibt alles mit. Sagt, man würde sich bei ihr melden, sobald man weitere Nachforschungen angestellt habe, und man brauche noch mehr von ihr: Details über die Kindheit ihrer Tochter, Familienfotos.]



"Naja, Mrs Mulligan, genau genommen sind die Apparate immer noch Eigentum der Firma, auch wenn sie in einer Privatwohnung installiert wurden. Daran rumzuschrauben, ist verboten. Und als die Zeitung uns ihre Fotos geschickt hat, also, da mussten wir-"
     "Wo ist meine Tochter? Wo ist Anji?"
     "Steht ja ausdrücklich im Kaufvertrag. Sehen Sie, hier sind die Formulare. Sie haben unterschrieben, dass-"
     "War sie noch am Leben, als ihr sie gefunden habt? Hatte sie Schmerzen?"
     "Was Sie da getan haben, kann nicht nur ein empfindliches Bußgeld nach sich ziehen, sondern ist obendrein extrem gefährlich. Für Sie selbst, aber auch fürs ganze Netzw-"
     "Was habt ihr mit ihr gemacht?"
     "Verstehen Sie doch, wir haben Milliarden User auf der ganzen Welt. Buchstäblich Milliarden-"
     "Wurde sie woanders hingeschickt? Irgendwohin, wo sie jetzt nicht mehr wegkommt?"
     "Statistisch gesehen ist das Netzwerk eindeutig die sicherste Art des Reisens. Man muss sich ja nur mal die Zahlen-"
     "Wie viele Vermisste gab es bisher?"
     "Das System ist stabil, sehr stabil sogar, aber nur, solange niemand eingreift. Und wir fürchten, was Sie da getan-"
     "War sie allein unter Fremden? Habt Ihr sie getröstet?"
     "Da Ihr Gerät aber ja schon ein deutlich älteres Modell war, sind wir gern bereit, es durch ein neueres zu ersetzen. Auf unsere Kosten, versteht sich-"
     "Hat sie mitbekommen, was mit ihr passiert ist?"
     "Und wenn wir landesweit auf unser neues, drahtloses System umstellen, werden wir Ihnen selbstverständlich auch das nötige Upgrade-"
     "Hat sie nach mir gerufen? Meine Anji? Hat sie geschrien?"
     "Vielen Dank, Mrs Mulligan. Wir melden uns dann demnächst wieder, wegen der Lieferung und dem Anschluss-"



"Oh, ja, die stand da. Vorm Parlament. Jeden Tag. Bei Wind und Wetter. Mit diesem großen, schlabberigen Pappschild. Und ja, klar hat die mir leidgetan. Ein trauriger Anblick. Ganz alleine stand sie da. War ja sonst kein Mensch auf der Straße. Und selbst wenn jemand sie vom Fenster aus gesehen hat, wenn irgendwer so weit gucken konnte, hat er sie ignoriert. Alle haben sie ignoriert. Bloß ich nicht. Ich hab mich einfach zu ihr gestellt. Also nur eine Weile, klar. Aus Solidarität eben. Kam mir irgendwie richtig vor. Und ich war ja ganz ihrer Meinung. Ehrlich. Also so allgemein. Mir war das ja nie richtig geheuer. Irgendwie suspekt. Als würde da irgendwas vertuscht, sozusagen. Und nicht bloß das mit ihrer Kleinen, nein, nein. Ich denke da noch an viel mehr. Wie viele sind wohl schon verschollen, ohne dass wir's je erfahren haben, hm? Ich mein, die behaupten zwar, das wäre viel sicherer als die Transportmittel von früher, aber was sollen sie auch sonst sagen? Und ich denke auch nicht bloß an unser Land. Was wird denn woanders erst los sein? In ärmeren Ländern? Das ist doch hundert Pro eine Verschwörung von der Regierung. Nur halt international. So eine, ähm, 'ethnische Säuberung', quasi. So nennt man das doch, oder? Da wirst du spielend eine Menge Leute los. Kriegst die Überbevölkerung in den Griff. Mit einem Schlag gleich ein paar Hunderttausend, einfach so futsch. Ruckzuck. Das hab ich ihr dann auch erklärt. Meine Theorie. Dass ich auf ihrer Seite bin, hab ich ihr gesagt. Keine Ahnung, ob die mich überhaupt gehört hat. Sie war ja meistens eher stumm. Gelassen, könnte man fast sagen. Stand einfach nur da und hat das Parlamentsgebäude angestiert. Und dieses bescheuerte Schild hochgehalten. Und nein, ganz ehrlich, ich glaub überhaupt nicht, dass das irgendwas bringt. Das System geht zu tief. Kommt man nicht gegen an. Aber hey, trotzdem, gut, dass sie das macht. Muss man schon bewundern, diese Ausdauer. Diese Entschlossenheit."



[Sie kniet im Wohnzimmer auf dem Fußboden, eine große Schere in der Hand. Rings um sie liegen ausgebleichte Zeitungen und aufgeschlagene Zeitschriften. Sie schneidet Berichte, Artikel und Fotos aus, legt die Schnipsel in eine Schuhschachtel. Die Texte liest sie nicht. An den Fotos bleibt sie eine Weile hängen: daran, wie sie die Wirklichkeit von etwas behaupten, das es gar nicht mehr gibt. Der Fernseher läuft, die Lautstärke herabgedreht zu einem dünnen Winseln. Eine Expertenrunde sitzt vor Studiopublikum auf einem schummerig beleuchteten Set.]

"… allerdings, wenn eine Person mal eben so zu existieren aufhört … so richtig ganz und gar weg ist … Woher wollen wir dann wissen, dass sie je wirklich da war? Wie ließe sich das beweisen?"
     "Oder: Wenn sie sich wirklich in Partikel verwandelt hat, diese Partikel aber weiterexistieren, kann man dann überhaupt sagen, sie sei wirklich weg? Andererseits: Auf welcher Grundlage könnte man diese Partikel noch als die Person ansehen?"
     "Soll also heißen, sie ist nicht im eigentlichen Sinne 'weg', sondern hat nur die Form geändert? Ist zu etwas anderem geworden?"
     "Exakt. Und das sogenannte 'Leben', das wir kannten, wäre dann quasi nur ein Aspekt ihrer Existenz. Ja, vielleicht sogar nicht einmal 'ihrer' Existenz!"
     "Insofern sie sozusagen nur die Fortsetzung der Existenz einer anderen Person war? Oder sogar eines anderen Dings?"
     "Genau, und jetzt hat 'sie' sich weiterentwickelt, eine neue Existenzebene erreicht. Man neigt eben immer dazu, die Dinge nur aus unserer begrenzten Perspektive wahrzunehmen, nicht aus der Perspektive der elementaren Materie."
     "Aber wenn das, was wir Existenz, was wir 'Leben' nennen, also alles jenseits der schnöden Materie, wenn das unsere Existenz ist - oder in Ermangelung eines besseren Begriffs auch das 'Leben' -, dann könnte man doch, unter diesen Voraussetzungen, durchaus behaupten, dass sie aufgehört hat zu-"
     "Ah, aber von 'schnöde' kann ja keine Rede sein! Wir sollten aufpassen, dass wir uns mit unseren menschlichen Befindlichkeiten nicht den Weg zu tieferer Wahrheit verbauen. Mit welchem Recht sollte man schließlich den einen Zustand, die eine Seinsweise für wertvoller als alle anderen halten? Behaupten, A sei Leben, B hingegen nicht?"
     "Und dennoch reden hier ja wir. Das sind unsere Worte, unsere Kommunikationsweisen, und kraft unseres schöpferischen Umgangs damit erwerben wir uns auch das Recht, ihre Bedeutung festzulegen - sofern sie überhaupt etwas bedeuten. Wenn wir also sagen wollen, dass-"
     "Moment, dann soll das alles nur eine Frage der Semantik sein? Das ganze Argument bloß an der läppischen Bedeutung von Wörtern hängen? An unserer empirischen Erkenntnis statt an der radikalen? Daran, was wir einem Haufen Buchstaben zuschreiben dürfen? Einem Geräusch? Einem Blickwinkel? Einer Meinung?"
     "Nein, ich bin nur überzeugt, dass Wahrheitsfragen per definitionem kommunizierbar sein müssen, und wenn man die Kommunikation verzerrt, indem man sie aus dem Bereich unserer möglichen Erfahrung verschiebt, wenn man also die Wirklichkeit des Behaupteten nicht mehr kommunizieren kann …. Ja, was will man dann überhaupt noch erreichen mit seinem-"


Mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt Verlags

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