Vorworte

Leseprobe zu Richard Wright: Der Mann im Untergrund

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Er blinzelte und ließ den Blick über den Boden wandern. Ja, da war die Metallschachtel mit den Ringen, das Glas mit den Diamanten, das blutige Hackmesser, das Radio, der Werkzeugkasten, und die Wände hingen voller grüner, im gelben Licht schimmernder Geldscheine. Er lachte, als er den Haufen Kupfer- und Silbermünzen neben sich glitzern sah. Er hatte diese Dinge ganz vergessen, und ein stilles Staunen erfüllte ihn, als er sie wieder sah. Sie schienen für Geschehnisse in einem anderen Leben zu stehen. Die alte Anspannung, die ihn dazu getrieben hatte, nach Erfahrungen zu suchen, war verschwunden, und er schien sich im Griff von Kräften zu befinden, die nicht aus seinem Körper kamen, sondern von außen, aus diesem gelben Licht, den glitzernden Münzen, den grün brennenden Wänden, der blutigen Stahlklinge, und er hatte das Gefühl, dass sich die wahre Identität dieser Kräfte langsam zu erkennen geben würde, nicht nur ihm, sondern auch anderen. Ein, zwei Mal bemühte er sich, sich zu fassen, zu befreien und in seinen alten Zustand zurückzufinden, denn er hatte Angst vor diesem unbekannten Land. Doch den neuen Kräften war kaum zu entkommen, und er zuckte kapitulierend mit den Schultern.

Er tastete in seiner Tasche nach einer Zigarette und staunte, als er eine Handvoll tickender, goldener Uhren hervorzog, die an glänzenden Ketten baumelten. Unschlüssig starrte er sie an und begann, sie aufzuziehen. Dabei versuchte er nicht mal, eine von ihnen auf eine bestimmte Zeit einzustellen, denn es gab jetzt keine Zeit für ihn. Nachdem er sie vorsichtig aufgezogen hatte, bewegte sich sein Blick über die grün tapezierten Wände, und ein spöttisches Lächeln formte sich auf seinen Lippen. […] Er schätzte die Stimmung höchster Teufelei nicht länger, die in ihm beim Bekleben der Wände gesprudelt hatte. Aber da die Uhren nun einmal in seinem Besitz waren, musste er sie auf irgendeine Art beseitigen. Er hielt sie in Händen, hörte ihr schreckliches Ticken, und er hasste sie. Diese Uhren maßen die Zeit und setzten die Menschen durch die Wahrnehmung vergehender Stunden unter Druck, machten sie nervös, erzählten Geschichten vom Tod und krönten die Zeit zum König des Bewusstseins.

Er wandte sich der Werkzeugkiste zu, nahm eine Handvoll Nägel und einen Hammer und trieb die Nägel in die tapezierten Wände. Er hängte die Uhren an ihnen auf, ließ sie an ihren glitzernden Ketten hin- und herschwingen, ließ sie geschäftig vor dem Hintergrund der grünen Geldscheine ticken, und der zitronenfarbene Schimmer des elektrischen Lichts verwandelte die metallenen Gehäuse in gelbe Scheiben, die zu flüssigen Klecksen wurden. Kaum hatte er die letzte Uhr aufgehängt, als sich der Gedanke, der ihn dazu verleitet hatte, weiter ausdehnte. Er holte mehr Nägel aus der Kiste, ging an den Wänden entlang und trieb sie durch das grüne Papier, nahm die Schachtel mit den goldenen Ringen, ging von Nagel zu Nagel und hängte sie an ihnen auf. Die weißen und blauen Diamanten funkelten mit einem stillen, spröden Lachen, als genössen sie ein köstliches Geheimnis. Der Raum bekam eine bizarre, gespenstische Note. Das gelbe Licht gab dem grünen Geld einen feurigen Schimmer, und vor seinem lodernden Hintergrund erwachten das Gold der Ringe und Uhren und das blau-weiße Lachen der Diamanten flammend zum Leben.

Plötzlich wurde er sich der Waffe bewusst, die an seiner Hüfte hing, und er zog sie aus ihrem Halfter. Er hatte Männer in Filmen schießen sehen, aber irgendwie hatte ihn sein Leben nie in Kontakt mit Feuerwaffen gebracht. Es überkam ihn der Wunsch, das Gefühl zu erleben, das andere beim Benutzen einer Pistole hatten. Leute könnten es hören ... Aber wenn, würden sie nicht wissen, woher der Knall kam. Nicht mal in ihren wildesten Träumen würden sie denken, dass er aus dem Untergrund gekommen war. Er legte den Finger auf den Abzug, drückte ab, es gab einen ohrenbetäubenden Knall, der gesamte Untergrund schien auf seine Trommelfelle einzustürzen, und im gleichen Moment blitzte ein orange-blauer Feuerstrahl auf, der sofort wieder erstarb, ihm aber als lebhaftes Nachbild vor Augen blieb. Er spürte, wie ihm der beißende Geruch des verbrannten Pulvers die Lunge füllte. Sofort ließ er die Waffe fallen.

Die heftige Gefühlswallung verebbte, und er hob die Pistole auf und hängte sie an einen der Nägel, anschließend auch den Patronengurt. Sein Blick fiel auf das Glas mit den Diamanten, und gleich kam ihm eine weitere Idee. Er ergriff es, drehte es um, und sein gesamter Inhalt fiel auf den Boden. Einzeln hob er die Diamanten auf, löste sie aus ihrem Seidenpapier und formte ein ordentliches Häufchen damit. Er wischte sich die verschwitzten Hände an der Hose trocken, steckte sich eine Zigarette an und begann ein neues Spiel. Er war ein reicher Mann, der im schwarzen Sonnenschein über der Erde lebte, und spazierte an einem Sommermorgen durch einen schönen Park, lächelte, nickte den Nachbarn zu und saugte an seiner wie gewohnt nach dem Frühstück angesteckten Zigarre. Viele Male durchquerte er die Höhle und vermied es, mit den Füßen gegen die Diamanten zu stoßen, bemaß seine Schritte jedoch geschickt so, dass seine nassen, mit Abwasserschleim bedeckten Schuhe in einem unbestimmten Moment auf die Diamanten treffen würden. Nach fünfminütigem Bummeln trat sein rechter Fuß gegen das ordentliche Häuflein, und die Diamanten lagen jetzt überall und funkelten ihm mit einer Million winziger, eisiger Gluckser zu. Oh, was solls, murmelte er mit gespieltem Bedauern, fasziniert von dem Schaden, den er angerichtet hatte, ging weiter auf und ab und ignorierte das brüchige Feuer. Er hatte das Gefühl, tief in seinem Herzen einen glorreichen Triumph eingefahren zu haben.

Er verstreute die Diamanten gleichmäßiger auf dem Lehmboden, und sie sandten satte Funken aus und arbeiteten mit ihm zusammen. Er wanderte herum und trat die Steine gerade tief genug in den Boden, dass sie noch schwach sichtbar waren, so als wären sie sorgsam in die Fassungen Tausender Ringe eingefügt. Ein unheilvolles, eisig grelles Licht erfüllte die Höhle. Er setzte sich auf die Kiste, steckte sich eine Zigarette an, legte die Stirn in Falten und schüttelte den Kopf. Vielleicht ist alles richtig, murmelte er. Ja, wenn die Welt, so wie die Menschen sie gemacht hatten, richtig und gerecht war, war alles andere auch richtig und gerecht. Ganz gleich, was einer tat, um sich zu befriedigen - ob er stahl, mordete oder folterte -, es war richtig. Um derlei Gedanken zu vertreiben, schaltete er das Radio ein. Ein melancholisches Musikstück ertönte. Über den Diamanten auf dem Boden zu grübeln war, wie hinauf zu einem Himmel voller Sterne zu sehen. Die Illusion schmolz in ihr Gegenteil: Er war hoch in der Luft und sah hinab auf die funkelnden Lichter einer ausufernden Stadt. Die Musik endete, und ein Mann trug die Nachrichten vor. In gleicher Haltung, wie er die Stadt betrachtet hatte, sah er jetzt, da er den kultivierten Ton hörte, hinunter auf Land und Meer, wo Männer kämpften, Städte gebaut wurden, Armeen vordrangen, Flugzeuge Bomben auf Orte und Siedlungen warfen, lange Fronten wankten und brachen. Er hörte die Namen von Generälen, von Städten, von Flüssen, hörte die Namen und Nummern von Divisionen, die sich an verschiedenen Frontabschnitten Gefechte lieferten. Er sah schwarzen Rauch über Kriegsflotten aufwallen, die über Wasserwüsten aufeinander zufuhren, und hörte sie die Sprache des Todes sprechen, während Flammen aus ihren riesigen Kanonen spuckten und rot glühende Granaten über die Oberfläche nächtlicher Meere kreischten. Er sah Hunderte Flugzeuge dröhnend durch die Luft rasen, hörte Maschinengewehrfeuer, als sie aufeinander losgingen, sah sie explodieren und rauchend zur Erde stürzen. Er sah stählerne Panzer durch Weizenfelder brechen, um andere Panzer anzugreifen, hörte das laute Krachen, als Stahl auf Stahl traf und sie miteinander kollidierten. Er sah Truppen mit aufgepflanzten Bajonetten in Wellen gegen andere Truppen mit aufgepflanzten Bajonetten anrennen, hörte Männer stöhnen, als Stahl in ihre Körper drang und sie zu Boden gingen, um zu sterben ... Die Stimme im Radio erstarb, und er betrachtete die funkelnden Diamanten vor sich auf dem Boden.

Als der Bann sich löste, stellte er fest, dass er aufgestanden war, mit Grauen in seinem Blick. Hoch aus der Luft blickte er hinunter auf das vernunftlose menschliche Leben, und er begriff, dass kein Mitgefühl, zu dem das menschliche Herz fähig war, bei diesem fürchterlichen Anblick ausreichen würde. Außerhalb von Zeit und Raum blickte er auf die Erde und sah jeden flüchtigen Tag als einen Tag des Todes, sah, dass die Menschen mit jedem vergehenden Moment wie in einem Krieg langsam dahinstarben und menschliche Trauer und Klage für dieses riesige, düstere Spektakel nie und nimmer ausreichend waren.

Seine Unfähigkeit, dem, was er sah und fühlte, gerecht zu werden, sein Gefühl von Leere angesichts dieser völligen Katastrophe kulminierte in einer allumfassenden leidenschaftlichen Schuld. Er war so schwach, die Herausforderung so groß, dass er sich von einer grenzenlosen Beschämung verurteilt und zerfressen fühlte. Ja, das einzige Wesen, das auf ein so heilloses Spektakel hinabsehen und dessen ganze Sinnlosigkeit erfassen konnte, musste ein Gott sein. Das war es! Vielleicht hatte der Mensch Götter erfunden, um zu empfinden, was er nicht empfinden konnte, und Trost im Mitleid seiner Götter mit ihm gefunden ...! Denn die Menschen wurden von Scham und Schuld überwältigt, wenn sie auf die unabänderliche Schwäche ihrer Leben hinabsahen.

Er hatte das Gefühl, bald aus dem Untergrund hinauskatapultiert zu werden oder mit dem Kopf in wilder Verzweiflung gegen die grün tapezierten Wände rennen zu müssen. Er vergrub das Gesicht in seinen schmutzigen Händen.


Mit freundlicher Genehmigung des Kein & Aber Verlags.
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