9punkt - Die Debattenrundschau

Den Talentbegriff erweitert

Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.11.2019. Auch das noch: Die WamS hat die Stasi-Akten von Holger Friedrich ausgegraben, was die Berliner Zeitung in eine peinliche Situation bringt. Herausgeber Michael Maier ließ einst alle IMs entlassen, weil sich Spitzelei nicht mit Journalismus in einer Demokratie verträgt. Die SZ fragt mit Blick auf das überflutete Venedig, warum Italiens Politik das Land immer wieder im Stich lässt. Die taz trifft in La Paz die enttäuschten Anhänger von Evo Morales. Und Libération sieht nach 53 Samstagen noch immer Gelb.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 16.11.2019 finden Sie hier

Medien

Holger Friedrich, einer der neuen Eigentümer der Berliner Zeitung, hat als IM für die Stasi gearbeitet. Das gab Friedrich, nachdem die Welt am Sonntag ihre Recherchen in Auszügen veröffentlichte, in einer Stellungnahme zu. In der taz berichtet Alexander Nabert ausführlicher, dass die Akten den Verleger demzufolgen schwer belasten: "Demnach soll er während seines dreijährigen Wehrdienstes bei der Nationalen Volksarmee (NVA) über Kameraden an die Stasi berichtet haben. Einige davon seien durch Friedrich schwer belastet worden. In zwölf größtenteils handschriftlichen Spitzelberichten werden nach Angaben der Welt am Sonntag mehr als 20 Personen in identifizierbarer Weise genannt. Gegen einige der Betroffenen seien auf Grundlage der Berichte 'Maßnahmen' durch die Stasi verfügt worden. 'Er belastet in den Gesprächen Personen aus seinem Umgangskreis', zitiert die Welt am Sonntag eine schriftliche Beurteilung Friedrichs durch seinen Führungsoffizier. Von Dezember 1987 bis Februar 1989 soll Friedrich mit Stasi-Offizieren zu konspirativen Treffen zusammengekommen sein."

Holger Friedrich hat in der Berliner Zeitung den Fragenkatalog der WamS und seine Antworten veröffentlicht. Darin erklärt er unter anderem, dass er von der Stasi zu einer Mitarbeit gepresst worden war: "Ich wurde unter dem Verdacht der Republikflucht von der Militärabteilung der Staatssicherheit verhaftet. Da ich zu diesem Zeitpunkt Militärangehöriger war, stand zudem der Vorwurf im Raum, Fahnenflucht zu begehen. In den darauffolgenden Verhören wurde zudem der Vorwurf eines bewaffneten Grenzdurchbruchs erhoben."

Die Redaktion selbst verspricht eine "sachliche und angemessene" Aufarbeitung. Und Herausgeber Michael Maier, der als Chefredakteur einst die "Maierschen Säuberungen" durchführen ließ und jetzt in einer peinlichen Situation ist, erklärt seine damalige harte Linie: "Wir haben die Auffassung vertreten, dass Redaktionsmitglieder mit einer Stasi-Akte nicht in einer freiheitlich-liberalen Zeitung als schreibende Redakteure tätig sein können... Auf die detaillierte Würdigung der konkreten Schuld der Betroffenen haben wir verzichtet und uns ausschließlich auf das formale Kriterium der Existenz einer Akte beschränkt. Wir haben uns nicht als juristische oder moralische Instanz gesehen, sondern haben den Standpunkt vertreten, dass bestimmte Aktivitäten wie Bespitzelung oder Denunziation nicht mit dem Berufsbild eines Journalisten in einer Demokratie vereinbar sind."

In der NZZ hatte Felix Marc Serrao einen Tag vor Bekanntwerden der Vorwürfe Silke und Holger Friedrich interviewt. Darin verteidigt Friedrich auch seine Aussagen zu Egon Krenz: "Nee, lesen Sie bitte genau! Ich stelle die Frage, ob es groß war von der Bundesrepublik, diesen Mann in den Knast zu stecken... Ich stelle nichts von dem, was er vor 1989 getan hat, in ein positives Licht. Krenz hatte die Größe, sein politisches Scheitern zu akzeptieren. Auch das hat den friedlichen Systemwechsel möglich gemacht."
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Politik

Auch nach dem Sturz von Evo Morales ist Bolivien tief gespalten. Während sich die einen aus Angst vor dem Militär, der Rechten und dem religiösen Fundamentalismus verbarrikadieren, wollen andere wie Nadja Guevara nichts mehr von Morales wissen, wie Katharina Wojczenko in einer großen Reportage in der taz aus La Paz zitiert: "Der indigene Diskurs verschwand, der Antikapitalismus kam. Es ging nicht mehr um Leistung, sondern um Freund oder Feind. Die Partei wurde undemokratischer, Kritiker mundtot gemacht', sagt Guevara. Als im Sommer in Chiquitanía wochenlang der Wald brannte und der Präsident die Demonstranten, die ein Notstandsdekret zur Rettung forderten, auslachte, reichte es ihr endgültig. Sie ging auf die Straße."

Seit fünf Monaten protestieren die Hongkonger gegen Repression und Willkür. Im FAZ-Interview berichtet der Buchhändler Daniel Lee von der Lage in der Stadt und betont: "Das ist kein Aufwachen, wir Hongkonger sind seit Jahren hellwach, finden aber endlich die Kraft, für Demokratie und Freiheit aufzustehen und auf die Straße zu gehen. In unseren Herzen war das immer präsent. Aber jetzt sehen wir, dass wir nicht allein sind, dass die gesamte Gesellschaft zusammensteht, dass die Solidarität generationenübergreifend ist. Ältere Menschen bilden Ketten und stellen sich schützend vor junge Demonstranten."

In der taz ruft Claus Leggewie dazu auf, nicht nur an die Revolutionen von 1989 zu erinnern, sondern auch die Demokratie heute zu verteidigen: "So scharf man die Opposition gegen Antidemokraten markieren muss, so wichtig sind Mechanismen der Konkordanz, des parteiübergreifenden Zusammenwirkens."
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Kulturpolitik

Der Frankfurter Ethnologe Karl-Heinz Kohl glaubt, dass vielen Ländern an einer Rückgabe geraubter Artefakte nicht unbedingt gelegen komme, wie er in der FAZ schreibt. So hätten viele etwa gar kein Nationalmuseum, und wenn dann eines mit völlig veralteten Konzepten. "Vorbehalte anderer Art beziehen sich auf die meist besonders sorgfältig gearbeiteten und ästhetisch hochwertigen sakralen Objekte, die in europäischen Sammlungen als Prachtstücke afrikanischer Kunst gelten. Sofern sie in einigen Regionen bei religiösen Zeremonien immer noch Verwendung finden, werden sie von Nichtinitiierten ferngehalten und im Geheimen aufbewahrt. Ihre öffentliche Zurschaustellung stellt daher eine Profanierung dar. Afrikanisches Kulturerbe wird durch seine Musealisierung europäisiert. Widerstände kommen gegenüber der Präsentation von Masken, Zauberfiguren und anderen Kultobjekten aber auch von religiöser Seite. Strenge Muslime und fundamentalistische Christen sehen in ihnen heidnisches Teufelswerk, das man nicht öffentlich zeigen sollte.
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Europa

Venedig bekommt nach dem großen Hochwasser mit Elisabetta Spitz eine Supercommissaria, die der Stadt helfen soll, die Schäden so schnell wie möglich zu beheben. Denn immer wieder lässt der italienische Staat nach großen Katastrophen im Stich, etwa nach den Erdbeben von L'Aquila oder Amatrice, nach dem Einsturz der Brücke in Genua, wie Oliver Meiler in der SZ erinnert: "Spitz wurde schon berufen, da hatte sich das Hochwasser, das alles überflutet hatte, die ganze Pracht, die Basilica San Marco und das Opernhaus Fenice, noch gar nicht ganz zurückgezogen. Venedig ist nun mal eine perfekte und deshalb gefährliche Metapher für das chronische Unvermögen des italienischen Staates und seiner Vertreter, das großartige Land auch groß zu denken. Und zu beschützen. Ganzheitlich, mit Zukunfts- und Gemeinsinn. Venedig ist eine Karikatur davon. Und so muss nun alles schnell gehen. 'Subito', sofort. Kein Wort hört man öfter. Jeder Einwohner erhält 5.000 Euro, jeder Laden 20.000. Subito!"

Seit 53 Samstagen gehen die Gelben Westen in Frankreich auf die Straße, für den 5. Dezember haben sie zu einem Generalstreik aufgerufen. Libération liefert ein ABCdaire der Bewegung und befragt Aktivisten der ersten Stunde: "'Das mittelfrsitige Ziel war, die Leute wieder zu politisieren und das Bewusstsein zu schärfen, sagt François Boulo, Anwalt aus Rouen. Zu Beginn versuchte Boulot, auf der Gelben Linie, einer Internet-Plattform zur Strukturierung der lokalen und regionalen Gruppen, ein Abstimmungsmodul zu schaffen: 'Eine Art digitales Volksbegehren, um den Leuten zu ermöglichen Volksentscheide in die Wege zu leiten, um abszustimmen und wesentliche Fragen der Politik zu debattieren'. Jetzt sei das Ziel, den Prozess der Reformen zu stoppen. Es gibt heute 500.000 arme Menschen mehr als 2018. Es wird Zeit, das das aufhört.'"
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Gesellschaft

In der NZZ preist der Kommunikationsforscher Jeetendr Sehdev Unbefangenheit und Freigeist als die neuen Qualitäten, mit der uns die Celebrities von heute in die Welt von morgen führen. Und weiter schwärmt er: "Dass heute jeder ein Star werden kann. Dass die sozialen Netzwerke zu einer Demokratisierung von Prominenz geführt haben: Welche Augen- oder Haarfarbe jemand hat, spielt keine Rolle mehr, um eine faire Chance auf Erfolg zu haben. Dass das Bedürfnis nach öffentlicher Anerkennung nicht das Ergebnis von Naivität, Narzissmus und Oberflächlichkeit sein muss. Und dass die neue Form von Prominenz den Talentbegriff erweitert hat. Früher wurde Talent damit gleichgesetzt, ob jemand Violine spielt oder eine Schauspielschule besucht hat. Heute spielen junge Leute vor laufender Kamera Videogames und machen Belfie-Aufnahmen (Selfies vom eigenen Gesäß). Damit lässt sich ein Milliardengeschäft aufbauen, wie Kylie Jenner beweist."

In der NZZ seufzt Paul Jandl, dass die Wiener Verkehrbetriebe jetzt per Soziale Medien gegen das Manspreading vorgehen. "Im wienerischen O-Ton: 'Sei ein Ehrenmann und halt deine Beine zam.'"
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