9punkt - Die Debattenrundschau
Die Regierung sitzt im Aufsichtsrat
Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Europa
The graduates of Kharkiv School 134 still decided to take photos in front of their school that was destroyed by Russians. There are 111 schools that are completely destroyed by Russia in Ukraine. This number will grow unless Ukrainian army can stop them. pic.twitter.com/PNpZYvvZq2
- Andrei Kurkov (@AKurkov) June 7, 2022
Durch den Ukraine-Krieg steht die deutsche Russlandpolitik seit fünfzig Jahren in einem recht peinlichen Licht. Aber die Politiker wollen sie lieber nicht in Frage stellen, auch Angela Merkel nicht, die sich gestern zu einem plauschigen Interview mit Alexander Osang im Berliner Ensemble traf. Georg Ismar berichtet im Tagesspiegel: "Das Minsker Abkommen sei sicher nie perfekt gewesen, aber es habe ein Stück Ruhe reingebracht. 'Und es hat der Ukraine Zeit gegeben, sieben Jahre, sich so zu entwickeln, wie sie heute ist.' Diplomatie sei ja nicht, wenn sie nicht gelingt, falsch. 'Deshalb werde ich mich nicht entschuldigen.'" Über Merkels Eintreten für Nord Stream 2 und ihre Politik der Abhängigkeit von russischem Gas wurde offenbar erst gar nicht geredet.Ideen
Der Politologe Gert Krell prüft in der FR verschiedene politologische Theorien an der Realität von Russlands Krieg gegen die Ukraine. Weder die gepolitischen Ästhetiken der Kälte à la Münkler, noch der institutionalistische Ansatz ("Wandel durch Handel") schneiden dabei gut ab. Zu letzterer Theorie, in der es sich die Sozialdemokratie und ganz Deutschland gemütlich machte, schreibt Krell: "Nach wie vor ist richtig, dass Handelsbeziehungen tendenziell die Wahrscheinlichkeit gewaltsamer Auseinandersetzungen reduzieren; aber sie sind keine Garantie für Demokratisierung (China und Russland wollen beide Handel, aber keinen Wandel), und sie können zu heiklen Abhängigkeiten führen. Jetzt gibt es eine neue Debatte über die Risiken von Interdependenz, denn in dem Wort steckt ja nicht nur das 'inter', sondern auch die 'Dependenz'."
Ulrike Guérot, lange Zeit eine überall gefeierte Politologin, die auf keinem Podium zu europäischen Fragen fehlen durfte, steht seit kurzem in der Kritik, auch wegen impfkritischer Äußerungen und Kommentaren zum Ukraine-Krieg. Der Politologe Markus Linden warf ihr in der FAZ jüngst Plagiate in ihrem Bestseller "Wer schweigt, stimmt zu" vor (unser Resümee). Nun untersucht er ihren Band "Warum Europa eine Republik werden muss! Eine politische Utopie" auf nicht gekennzeichnete Zitate: "Diese Großflächigkeit nähert sich dem Guttenberg-Standard."
Gesellschaft
Kulturpolitik
Bundeskulturministerin Claudia Roth war auf Stippvisite in der belagerten Stadt Odessa, die wegen der Hafenblockade im Moment kaum funktionieren kann. Thomas Avenarius hat sie für die SZ begleitet: "Roth sichert .. auch in ganz grundsätzlichen Fragen Beistand und Hilfe zu. Die Bundesregierung werde Odessa bei der seit 2009 vorliegenden Bewerbung um einen Unesco-Welterbestatus helfen. 'Deutschland unterstützt diese Bewerbung', versichert die Kulturstaatsministerin. Wenn eine Stadt zum Weltkulturerbe gezählt werde, dann heiße das eben auch, dass 'die Welt Verantwortung für diese Stadt übernimmt'."
Politik
Die Journalistin und Aktivistin Marlene Förster, die sich im Irak für Jesiden einsetzt, wurde von irakischen Behörden entführt, kam aber glücklicher Weise wieder frei. Im interview mit Lisa Schneider von der taz erzählt sie von der Lage der Jesiden, die nach wie vor verfolgt werden: "Die JesidInnen und ihre Gebiete werden permanent angegriffen, immer wieder auch von der Türkei mit Drohnenattacken. Sie sind weiterhin Opfer von Repressionen, vom irakischen Staat, von der kurdischen Autonomieregierung. Und immer wieder werden wichtige Persönlichkeiten aus der jesidischen Community gezielt ermordet - zuletzt im Dezember der Co-Vorsitzende der jesidischen Selbstverwaltung Merwan Bedel... Und über all das soll möglichst wenig bekannt werden."