9punkt - Die Debattenrundschau

Planetare Schönheitsoperation

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
24.06.2023. In Russland meutern Jewgeni Prigoschins Wagner-Truppen. Ob es sich bei dem Coup um mehr als nur eine Farce handelt, wagt noch niemand zu entscheiden. Die NZZ erinnert an den dunkel-schillernden Eduard Limonow, der als Punk, Bohemien und Nationalbolschewist Putins Russland leibhaftig verkörperte. Die SZ empfiehlt der CDU, mehr Arnold Schwarzenegger und weniger Claudia Pechstein. Die FAS fragt, ob uns nicht der Klimafuturismus aus der Klimanot helfen könnte. Die taz reist ins verarmte New Mexiko, in das sich Tausende von Frauen aus Texas vor drakonischen Abtreibungsgesetzen flüchten.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 24.06.2023 finden Sie hier

Europa



In Russland spitzt sich der Machtkampf zwischen Jewgeni Prigoschin, dem Chef der privaten Wagner-Truppe, und der Armeeführung in Moskau zu. In der NZZ sieht Markus Ackeret "kühnste Spekulationen" wahr werden: "Findet in Russland gerade ein Staatsstreich statt? Ein militärischer Aufstand? Jedenfalls ist es mehr als nur eine Farce, was seit Freitagnachmittag und -abend dramatische Züge annimmt. In den Straßen von Rostow am Don stehen gepanzerte Fahrzeuge und bewegen sich ungeniert Bewaffnete in Kampfanzügen. Videos in zahlreichen Telegram-Kanälen zeigen eine erstaunliche Zahl unerschrockener Schaulustiger, die das Geschehen vom Straßenrand aus verfolgen."

In einer Rede, die von Osteuropa inzwischen übersetzt wurde, wirft Wladimir Putin seinem einstigen Vasallen Prigoschin Verrat vor: "Denn das, womit wir es heute zu tun haben, ist genau dies: Verrat. Übermäßige Ambitionen und persönliche Interessen haben zu Verrat geführt. Verrat am eigenen Land, am eigenen Volk und an jener Sache, für die die Kommandeure der Gruppe 'Wagner' Seite an Seite mit anderen Einheiten und Gruppierungen gekämpft haben und gestorben sind... Nochmal: alle inneren Wirren bedeuten eine tödliche Gefahr für unsere Staatlichkeit, für uns als Nation. Sie sind ein Schlag gegen Russland, gegen unser Volk. Unser Vorgehen zum Schutz des Vaterlands vor einer solchen Gefahr wird hart sein. Alle, die bewusst den Weg des Verrats gewählt, einen bewaffneten Aufstand geplant, auf Erpressung und Terrormethoden gesetzt haben, werden unweigerlich bestraft, sie werden sich vor dem Gesetz und vor unserem Volk zu verantworten haben."
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Ideen

Benedict Neff erinnert in der NZZ ohne direkten Anlass an den dunkel-schillernden russischen Schriftsteller Eduard Limonow, dem bereits Emmanuel Carrère einen herausragenden Roman gewidmet hat (und dessen Adept Saschar Prilepin vor wenigen Monaten einen Autobombenanschlag in Nischni Nowgorod knapp übrelebt hat). Neff erkennt in Limonow, der Ikone der Nationalbolschewisten, einen Bruder Wladimir Putins: "Limonow ist: larger than life, sprengt alle Rahmen. Putins Eklektizismus grenzt schon an Wahnsinn, wenn er Zarentum, Sowjetunion, Nachkriegszeit und Orthodoxie zu einer großen nationalen Erfolgsgeschichte verschmelzen will. Aber Limonow ist radikaler. Während sich der Beamte Putin nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zeitweise als Taxifahrer herumschlagen musste, war Limonow ein gefeierter Autor in Frankreich. Ein Bohémien und Punk, der alle Freiheiten des westlichen Lebens genoss, der sich aber nichts so sehr wünschte wie die Rückkehr in die Stalin-Zeit seiner Kindheit. Die Freiheit war die Bedingung für sein Werk, aber er verachtete sie. Putin unterwirft und führt Russland, Limonow hingegen wirkt - mit all seinen Widersprüchen - wie eine Inkarnation des Landes. Er forderte den Gulag, um schließlich selbst im Gefängnis zu landen."
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Politik

In der SZ empfiehlt Nils Minkmar der CDU, anstatt mit antiwokem Kulturkampf und Claudia Pechstein Stimmung zu machen, sich lieber ernsthaft mit den Problemen der Zeit zu beschäftigen, zum Beispiel dem Klimawandel. Dann würde vielleicht auch nicht ihre intellektuell unterforderte Basis wegbröckeln: "Es gibt im Arsenal des europäischen Konservatismus einen reichen Vorrat an Konzepten, um dieses Thema politisch zu fassen. In Deutschland hat Meinhard Miegel, der Weggefährte Kurt Biedenkopfs und Chef der Stiftung Kulturelle Erneuerung, seit Jahren daran gearbeitet, die Union aus der Abhängigkeit von der Droge Wachstum zu lösen. Und ein legendärer amerikanischer Politiker, der zwei Mal auf dem Ticket der Republikaner zum Gouverneur von Kalifornien gewählt wurde, verdankt seinen Erfolg dem rechtzeitigen und vollständigen Schwenk zum Thema Klimawandel und Nachhaltigkeit: Arnold Schwarzenegger."

In der FAS fragt Niklas Maak dagegen, ob uns der Klimafuturismus nicht helfen könnte, indem etwa mit gewaltigen Maschinen das CO2 aus der Atmosphäre absaugt oder das Schmelzen der Polkappen verhindert wird. Technologisch sei das alles leider wenig ausgereift, stell Maak fest, und ideologisch auch nicht: "Die Geo-Ingenieure glauben, allein Technologie im Weltmaßstab könne dafür sorgen, die Klimaziele doch noch einzuhalten. Sie vertreten eine Art Klima-Futurismus, einen optimistischen Glauben an Technologie, der die Permakulturalisten verdächtig an die klassische Industrie-Moderne erinnert, die der Welt die Probleme eingebrockt hat, welche nun mit Gigamaschinen gelöst werden sollen. Verleiten die neuen Klimarettungs-Supermaschinen nicht dazu, am klimaschädlichen Verhalten festzuhalten - nach dem Motto: Wenn ich viel Fleisch esse und viel fliege, ist es nicht so schlimm, lässt sich ja alles wieder absaugen wie bei einer planetaren Schönheitsoperation? Sind die Riesenstaubsauger, die mit enormen Mengen an Ökostrom erst mal hergestellt werden müssten, nicht bloß eine angegrünte Fortsetzung des Tech-Solutionismus der Moderne - neue Abgasabsauginseln, um das Verwüstungswerk der Ölbohrinseln zurückzudrehen? Wenn das ginge, sagen ihre Verteidiger, sei es doch gut."
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Gesellschaft

Vor einem Jahr kippte der Supreme Court der USA das liberale Abtreibungsrecht. Jetzt müssen die Frauen aus dem besonders drakonischen Texas ausgerechnet ins verarmte New Mexiko ausweichen, wenn sie ihre ungewollte Schangerschaft beenden möchten, wie Johannes Streeck in der taz berichtet: "'New Mexico ist eine Wüste, wenn es um medizinische Versorgung geht', sagt Kayla Harris von Planned Parenthood der taz. Die Nichtregierungsorganisation ist der größte Anbieter für Abtreibungen in den USA. Sie betreibt Hunderte Kliniken im ganzen Land. Harris leitet die Öffentlichkeitsarbeit für die Rocky-Mountain-Region, zu der auch New Mexico gehört. 'Wir rechnen mit rund 26 Millionen Menschen, denen in den USA bald durch Konsequenzen der Supreme-Court-Entscheidung der Weg zu einer Abtreibung verwehrt wird', sagt sie. 'Auf uns und unsere Partnerorganisationen kommen also immense Herausforderungen zu.' In New Mexico ist das Problem besonders zugespitzt, weil es vielen seiner Einwohner:innen schon an wichtigen Grundlagen mangelt. 'Es gibt hier viele Leute, die keinen Zugang zu gesundem Essen oder sauberem Trinkwasser haben', sagt Harris. 'Es wird also alles noch schwieriger, wenn plötzlich Tausende weitere Leute zur Gesundheitsversorgung dazukommen, die aus ihren eigenen Staaten verdrängt werden."

Ebenfalls in der taz bittet Sebastian Moll, die neue und in New York sehr angesagte Dime-Square-Szene nicht misszuverstehen. Sie hat sich aus Protest gegen die Coronamaßnahmen gebildet, ist anti-woke und hedonistisch bis libertär. Ihre Medien sind der Podcast Red Scare und die Zeitung Drunken Canal: "Vieles in den beiden Publikationen geht um Lifestyle, Mode, Musik und Literatur. Die beiden Hostessen von Red Scare, Anna Khachiyan und Dasha Nekrasova, die mittlerweile von einer hippen Modelling-Agentur vertreten werden, können sich beispielsweise ausgiebig über die Vorzüge von Sex unter dem Einfluss von Ketamin unterhalten. Sie können jedoch ebenso leidenschaftlich Camille Paglia und Slavoj Žižek zitieren und über 'leftist dirtbags' hetzen sowie über die Art und Weise, wie diese das Label 'weiße Suprematie' als universellen Totschlagknüppel verwenden. 'Ich kann den Bürgersteig entlanggehen und werde als Rassist beschimpft. Du hast keine Chance.'"
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Stichwörter: Abtreibung, Woke, Abtreibungsrecht

Geschichte

In der FAZ antwortet der Chemnitzer Historiker Alexander Gallus auf den Essay seiner Münchner Kollegin Hedwig Richter, die beklagt hatte, dass die ewigen Vergleiche mit Weimar zu politischer Hasenherzigkeit führten. Klar, plumpe Analogien bringen nicht weiter, meint auch Gallus, aber Weimar stehe ja gar nicht mehr einseitig für das Scheitern: "Die Weimarer Geschichte ist vor allem deshalb lehrreich, weil sie gerade nicht in einer überzeugenden Meistererzählung zu fassen ist, die von Richter beklagte 'populistische Angstdimension' ebenso wie die von ihr eingeforderte 'demokratische Aufbruchsdimension' umfasst. Wenn die Epoche heute noch interessant wirkt, dann liegt das an ihrem ambivalenten, schillernden und unsicheren Charakter. Wie im historischen Experimentierraum lassen sich daran, jenseits einer scheiterns- oder erfolgsgeschichtlichen Engführung, zentrale Probleme der Demokratiegestaltung in unruhigen Zeiten erörtern."
Archiv: Geschichte