9punkt - Die Debattenrundschau

Immer überaus sachlich

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.07.2023. Vor sechzig Jahren erfand Egon Bahr die Formel "Wandel durch Annäherung" - Heinrich August Winkler analysiert in der FAZ ihre Höhen und Tiefen. Auf Twitter tobt ein Streit um die Politologin Muriel Asseburg, die Israels Eingreifen in den besetzten Gebieten mit dem russischen Angriff auf die Ukraine gleichsetzte - wie legitim ist ihre Kritik am angeblichen Einfluss der israelischen Regierung auf Deutschland, fragen FAZ und Zeit online. Richard Herzinger warnt in seinem Blog vor neuen Kriegsgefahren aus Belarus. Im Observer konstatiert Kenan Malik das Versagen sowohl der amerikanischen als auch der französischen Integrationspolitiik.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.07.2023 finden Sie hier

Europa

Vor genau sechzig Jahren wurde die grandiose und fatale Formel vom "Wandel durch Annäherung" geboren. Sie stand zuerst in seiner berühmten Rede, die Egon Bahr 1963 in Tutzingen hielt. Heinrich August Winkler erinnert auf der "Ereignisse und Gestalten"-Seite der FAZ an dieses historische Ereignis. In der Formel ist im Kein die spätere Ostpolitik Willy-Brandts angelegt, so Winkler. Er macht aber auch auf die "zweite Phase" der Ostpolitk, aufmerksam, in der sich die SPD vor allem auf die Stabilisierung der Sowjetunion versteifte: "In diesem Sinn betrieb nicht nur Bahr, sondern auch die SPD in den Achtzigerjahren eine nationalistische Politik. Es war eine europäische Ordnungspolitik im deutschen Interesse: eine Formel, mit der sich Bahr im Rückblick einverstanden erklärte. Karsten Voigt hat ihn der repressiven Züge seines Ordnungsdenkens wegen nicht zu Unrecht den 'Metternich der Linken' genannt." Wer sich heute positiv auf die Ostpolitik beziehe, verkenne, dass die Sowjetunion unter Breschnew zu einer ausgelaugten Macht des Status quo geworden war, so Winkler: "Das Russland Putins hingegen ist eine revisionistische Macht, die vor Krieg nicht zurückschreckt, um so viel wie möglich vom Territorium der 1991 aufgelösten Sowjetunion zurückzugewinnen und von ihrem Einflussbereich wiederherzustellen."

Richard Herzinger drängt in seinem Blog darauf, dass die Lage in Belarus vom Westen intensiver wahrgenommen wird. Der eine Grund dafür ist die Lage der Kriegsgefangenen, die unter grausamsten Bedingungen festgehalten werden. Der andere Grund ist eine künftige Rolle von Belarus im Ukrainekrieg, nachdem Kriegsinfrastrukturen verstärkt wurden: "Der Verdacht liegt nahe, dass mit der angekündigten Installierung der Wagner-Truppe auf belarussischem Boden nicht nur die vollständige Einverleibung von Belarus in die 'Russische Föderation' vorangetrieben, sondern das Land auch in die aktive Kriegsteilnahme getrieben werden soll. Nach der russischen Ankündigung, dort Atomwaffen zu stationieren, ist die Transferierung der Söldner ein weiteres starkes Indiz dafür, dass Belarus als selbstständiger Staat faktisch zu existieren aufgehört hat und zur Verfügungsmasse des Kreml-Regimes und seiner genozidalen Eroberungsgelüste degradiert worden ist."

Auch der belarussische, in Deutschland lehrende Historiker Alexander Friedman versucht, sich in der taz einen Reim auf die neue Position Alexander Lukaschenkos zu machen - er möchte in seinen atomaren Drohungen ein verstecktes Gesprächsangebot an den Westen sehen.

Nein, Putin ist durch Prigoschins bizarren Coup nicht geschwächt, konstatiert Welt-Autor Thomas Schmid. Das liege auch daran, dass ihm weder eine Öffentlichkeit noch eine demokratische Opposition gegenüberstehe - auch Chodorkowski oder Nawalny mag Schmid nicht wirklich als Demokraten betrachten. Russland sei in den Begriffen des Westens nicht zu verstehen: "Das hartnäckige Missverständnis rührt auch daher, dass wir wohl keinen Begriff vom Zustand der russischen Gesellschaft haben. Ist sie gleichgeschaltet? Dann hätte sie vorher widerständig gewesen sein müssen. Danach sah es aber selten und immer nur kurz aus. Passiv, erstarrt, eingefroren, taub: Das alles trifft es nur zum Teil. Sicher ist, dass die russische Gesellschaft keine eigenständige Kraft ist, die eine politische Entwicklung anstoßen und in Gang setzen könnte. Das mag sich irgendwann ändern. Derzeit aber verharrt sie in passiver Formlosigkeit. Und nichts weist darauf hin, dass sich das demnächst merklich ändern könnte."

Die russische Bevölkerung hat einfach nie gelernt, was Selbstverantwortung ist, meint im Interview mit dem Spiegel der russische Philosoph Alexander Zipko: Demokratie "hat ihren Ursprung in deutschen und französischen Städten, wo die Bürger schon früh eine Selbstverwaltung installierten. Das alles gab es in Russland nie, die Russen hatten die niedrigste Form der Selbstorganisation in Europa. Freiheit mag anziehend sein, macht aber auch Angst. Dem russischen Menschen hat sie immer Angst gemacht. In der Demokratie geht es um Wahlmöglichkeiten, um Alternativen, um den Wettbewerb von Ideen. Das Schrecklichste für einen Russen ist, nach Alternativen zu suchen. Das zeigte sich gleich nach der Perestroika in den Neunzigerjahren. ... Ministerpräsident Jegor Gaidar oder der Reformer Grigorij Jawlinski - die waren schnell weg. Der Ultranationalist Wladimir Schirinowski aber bekam 20 Prozent. Er schlug keine Alternativen vor, er schimpfte nur und spielte die Rolle des russischen Patrioten, der die UdSSR wiederherstellen wolle. Im Parlament saßen bald 20 Prozent Sportler, weil die Leute kein politisches Programm wählen wollten, sondern ihnen bekannte Gesichter: den bulligen Profiboxer Nikolai Walujew oder die schöne Sportgymnastik-Weltmeisterin Alina Kabajewa …"
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Politik

Der Nachwuchsjournalist Tilo Jung hat für seinen Videopodcast die Nahostexpertin Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) interviewt, die den israelischen Angriff auf die besetzten Gebiete mit Putins Krieg gegen die Ukraine verglichen hat. Seitdem läuft eine erbitterte Twitter-Debatte zwischen den üblichen Fraktionen. Asseburgs Position in der deutschen Debatte um BDS skizziert Jürgen Kaube in der FAZ so: "Asseburg behauptet, der BDS-Beschluss des Bundestags sei auf Druck der israelischen Regierung erfolgt. Sie behauptet, die Deutschen hätten Israel zum Schiedsrichter darüber gemacht, ob sie ihre Lektion aus der Geschichte gelernt haben. Das ist knapp davor, jüdische Strippenzieher am Werk zu sehen, wenn in Deutschland das Existenzrecht Israels ernst genommen und die Hamas sowie Boykottaufrufe als Gefährdungen dieses Rechts angesehen werden."

Das sieht Lea Frehse auf Zeit online ganz anders. Sie fand Asseburgs Argumentation "immer überaus sachlich, gemacht für eine echte Auseinandersetzung". Ganz anders ihre Gegner auf Twitter, allen voran Vertreter der israelischen Regierung: "Es geht nicht um die Sache. Es geht auch nicht um die einzelne Wissenschaftlerin Muriel Asseburg. Vielmehr geht es um den Ton, der gesetzt wird, um sie zu übertönen. Diesmal allen voran von der Vertretung Israels in Deutschland. Es ist ein Ton, der Angst verbreiten soll. Einschüchtern. Und der über die Jahre wesentlich mit dazu geführt hat, dass eine sachliche, empathische Debatte über den Nahostkonflikt kaum noch möglich ist."

In der Welt schreibt Shila Behjat über die drohende Hinrichtung des iranischen Rappers Toomaj Salehi, der seit Monaten in Isolationshaft sitzt. Politische Reaktionen des Westens lassen auf sich warten, so Behjat: "Zwar kommt aus der deutschen Politik öffentlich lautstarke Kritik am Regime. Tatsächlich jedoch gibt es keinerlei Druckmittel. Die gemeinsame Listung der iranischen Revolutionsgarden auf europäischer Ebene als Terrororganisation scheiterte an fehlender Einstimmigkeit. Weitere Sanktionen lassen auf sich warten."
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Gesellschaft

Warum ist es so schwer, Ungleichheit zwischen ethnischen Gruppen zu beseitigen, fragt Kenan Malik im Observer angesichts der Entscheidung des Supreme Courts, Affirmative Action zu streichen, mit der amerikanische Regierungen seit den 1960er Jahren unterrepräsentierte Gruppen wie Frauen und nicht weiße Amerikaner in Universitäten und öffentliche Einrichtungen holen wollte, und der Ausschreitungen in Frankreich, das immer einen Kurs der Farbenblindheit vertreten hat. Beide Ansätze sind gescheitert, meint Malik: Affirmative Action habe immer nur der schwarzen Mittelklasse genützt und dazu beigetragen, dass Afroamerikaner heute "die ungleichste rassische oder ethnische Gruppe in der Nation sind. Weiße Amerikaner im obersten Einkommensquintil verfügen über das 21,3-fache des Vermögens von Weißen im untersten Einkommensquintil. Bei den Schwarzen liegt diese Zahl bei erschütternden 1.382. Die ärmsten Schwarzen verdienen nur 1,5 Prozent des Medianeinkommens der Schwarzen. ... Affirmative Action ist vor allem eine Aktion für die schwarze Elite." Frankreichs universalistischer Ansatz der Farbenblindheit wiederum sei zwar ein "ein wertvoller Grundsatz. In der Praxis hat die französische Politik jedoch dazu geführt, im Namen der 'Farbenblindheit' blind für Rassismus zu sein", so Malik. "Der französische Staat weigert sich nicht nur, Rassenunterschiede anzuerkennen, sondern verbietet auch die Erhebung rassenbezogener Daten, was die Bewertung des Ausmaßes der Rassendiskriminierung erheblich erschwert und gleichzeitig einen Freifahrtschein für die Leugnung dieser Diskriminierung darstellt."

Der niederländische Autor Arnon Grünberg ist für die NGO von Joanna Sarnecka in ein polnisches Festhaltelager gereist und hat dort mit zwei Flüchtlingen gesprochen, einem Iraker und einem Kameruner, die dort festgehalten werden, erzählt er im Standard: Spencer, dessen Vater in Kamerun ermordet wurde, "ist von Kamerun nach Belarus geflogen und von dort nach Donezk weitergereist. Dort wollte er Informatik studieren und hat ein paar Wochen in einer Jugendherberge gelebt. Als der Krieg ausbrach, verließ er Donezk, ging zurück nach Belarus und landete in einem Lager. 'Es war die Hölle. Wir bekamen nur Brot und Wasser', sagt er. Dann ging er über die Ukraine nach Polen, allein und zu Fuß. In Polen schloss er sich einer Gruppe an, die Deutschland erreichen wollte: 'In der Nähe der deutschen Grenze wurden wir verhaftet.' Auf der Polizeiwache legten sie ihm Handschellen an. 'Wie ist das möglich?', fragt sich Spencer, 'ich bin freiwillig mitgegangen. Und jetzt legen sie mir Handschellen an.' Sein Stottern wird schlimmer."

Im SZ-Interview mit Peter Laudenbach spricht der Soziologe Wilhelm Heitmeyer über den Wahlerfolg der AfD. Mit ihrer Agenda eines "autoritären Nationalradikalismus" grenze sie sich scheinbar vom Rechtsextremismus ab und wird dadurch für eine breitere Öffentlichkeit attraktiv: "Dadurch ist sie anschlussfähig und akzeptabel für ein Milieu, das ich rohe Bürgerlichkeit nenne. Hinter einer glatten Fassade bürgerlicher Respektabilität wird dort ein Jargon der Verachtung gepflegt. Der autoritäre Nationalradikalismus verstärkt und bedient dieses Ressentiment gegen Fremde, aber auch zum Beispiel gegen sozial Schwache, gegen Homosexuelle und andere Minderheiten."
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Internet

Im Welt-Interview mit Jakob Schirrmacher spricht der amerikanische Informatiker Jaron Lanier über Virtual Reality und die Vorzüge und Gefahren von KI. Die Angst vor einer bewussten KI, die den Menschen kontrolliert, findet er paranoid. Regulierungen in diesem Bereich hält er aber trotzdem für wichtig und plädiert für einen neuen Ansatz: "Einen, bei dem wir die Quellen und Einzelpersonen im Auge behalten, die Texte, Bilder oder andere Dinge bereitgestellt haben, die letztendlich einen Einfluss auf eine bestimmte Ausgabe eines KI-Programms hatten. Denn das ist etwas Konkretes. Ich glaube, dass Personen, die Daten hinzufügen, die zu beliebten Ergebnissen führen, in Zukunft anerkannt und sogar bezahlt werden könnten. Und ich denke, dass die Rückverfolgung derjenigen, die zu einem bestimmten Ergebnis beigetragen haben, ein Weg sein könnte, um letztendlich die Qualität zu kontrollieren, sowie auch wirtschaftlichen Schaden für die Gesellschaft zu vermeiden."
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