9punkt - Die Debattenrundschau

Antidot gegen das Dingfeste

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.07.2023. Eva Menasse rechnet in der Zeit mit den Holocaust-fixierten Deutschen und der partikularistischen jüdischen Gemeinde ab - und BDS, hat sie von linken Israelis, die nach Berlin emigrierten, gelernt, ist die friedliche Alternative zur Hamas. Fabian Wolffs Geschichte ist schrecklich und tragisch, findet Sebastian Leber im Tagesspiegel, nur schade, dass er in seinem ausufernden Zeit-Text kein Wort darüber verliert, "was er mit seinen provokanten politischen Äußerungen angerichtet hat". Hat Egon Bahr mit den reaktionärsten Betonköpfen in Moskau konspiriert, um die Bürgerbewegungen in Osteuropa und dann gar die Wiedervereinigung zu sabotieren? Gerhart Baum says so!
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.07.2023 finden Sie hier

Europa

Nach seinem Wahlsieg hat der türkische Präsident Erdogan seine national-islamistische Versteifung fallen lassen und seinen Widerstand aufgegeben, dass Schweden in die Nato aufgenommen werden kann. Selbst in die EU will er wieder aufgenommen werden, staunt Bülent Mumay in seiner FAZ-Kolumne. Alle verlangten Freiheiten gebe es in der Türkei bereits. Und gleichzeitig redet der von Erdogan eingesetzte Bildungsminister "davon, Schulen nur für Mädchen aufmachen zu wollen. Ein Politiker aus Erdogans Bündnis schlug vor, getrennte Krankenhäuser für Frauen einzurichten. In einer Stadt am Schwarzen Meer wurde Alkoholkonsum im Freien verboten. Eine Ausstellung im Zentrum von Istanbul wurde mehrfach von extremistisch-islamistischen Gruppen überfallen. Ein Konzert der Popsängerin Hande Yener, die für ihre Unterstützung der LGBTI+-Bewegung bekannt ist, wurde verboten. Doch ich will niemandem Unrecht tun. Nicht alle Freiheiten sind eingeschränkt: Der Vorstandsvorsitzende von Turkish Airlines verkündete die frohe Botschaft, man werde der Crew ermöglichen, im Cockpit zu beten."
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Stichwörter: Mumay, Bülent, Türkei, Nato

Ideen

Vielleicht auch nicht ganz unironisch, dass der post-foucaldianische Philosoph Joseph Vogl seine Abschiedsvorlesung an der HU der Wolke widmet, also einem Ding, das nicht dingfest zu machen ist. Die Vorlesung erinnerte selbst an Foucaults berühmte überfüllte Vorlesungen am Collège de France, findet Andreas Bernard in SZ. "Wenn die Wolke weniger Gegenstand als flüchtiges 'Ereignis' ist, wie Vogl sagt, kann das Schwebende als Credo der wissenschaftlichen Arbeit insgesamt aufgefasst werden - nicht als ein zu überwindendes und fixierendes Defizit, sondern als Tugend, so ähnlich wie er es 17 Jahre zuvor im Hinblick auf die Geste des Zauderns beschrieben hat. Eine Wissenschaftsethik des Schwebenden wäre das Antidot gegen das Dingfeste, gegen die Statik und Machtfülle reiner Datenerfassung etwa..., deren perfide Metapher der 'cloud' allem widerspricht, was Vogl an diesem Abend über die Wolke sagt."

"Das Ephemere soll ein Paradigma des Paradigmatischen selbst werden", nimmt Tagesspiegel-Redakteur Gregor Dotzauer aus der Vorlesung mit.
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Stichwörter: Vogl, Joseph

Politik

Im Moment ist für Europa bezüglich des Ukraine-Kriegs die Welt noch in Ordnung: Unter Biden hat Amerika wieder die Führungsrolle in der Nato eingenommen. Dass das so bleibt, wäre unter einem wiedergewählten Trump aber keineswegs garantiert, mahnt Nikolas Busse in der FAZ: "In seiner üblichen Großsprecherei hat er gesagt, er könne den Ukrainekrieg an einem Tag beenden. Was das genau bedeuten würde, weiß er vermutlich nicht mal selbst. Nach einer fortgesetzten Unterstützung der Ukraine klingt es aber nicht. Auch Trumps aussichtsreichster Rivale in der eigenen Partei, Ron DeSantis, ist schon mit ukrainekritischen Äußerungen aufgefallen. Man sollte sich nicht darauf verlassen, dass das nur Wahlkampftaktik ist, schon gar nicht bei Trump. Unter republikanischen Wählern wächst die Ablehnung der Ukrainehilfe. Europa hatte in den vergangenen Jahren mehr ein Bündnis mit Biden als mit Amerika."
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Stichwörter: Nato, Ukraine-Krieg

Gesellschaft

Der eigentliche Streit um Israel und BDS tobt im Grunde innerhalb der jüdischen Gemeinde, meint Eva Menasse, deren Familie teils selbst jüdisch ist, in einem Zeit-Essay. An der Positionierung zum Holocaust ließen sich die Streitlinien profilieren: "Wem darf so etwas 'nie wieder' geschehen, den Juden (die partikularistische Sicht) oder egal welcher Gruppe (die universalistische)?" Die jüdische Gemeinde schlägt  Menasse der partikularistischen Seite zu, die "israelkritischen" Juden, die oft aus Israel eingewandert sind, und für die die Muslime "heute die meistdiskriminierte Gruppe in Deutschland" seien, seien die Universalisten. "Mit ihnen kommt es nun zum cultural clash. Für hiesige Juden klingt manch scharfe Kritik der Zuwanderer an israelischer Politik geradezu verstörend, die Israelis und andere 'linke' Juden halten hingegen die festgefahrene Politik der dortigen Regierung und die Situation in den besetzten Gebieten für unerträglich. Deshalb können sie der BDS-Bewegung im Vergleich mit Terror und Hamas-Raketen zumindest etwas abgewinnen. In Deutschland stoßen sie nun auf - in ihren Augen - Holocaust-fixierte Deutsche und deutsch-jüdische Funktionäre, die im selben Takt schwingen: unverbrüchlich loyal zu Israel, gleichzeitig in bequemer Distanz zur blutigen Realität des Konflikts. Deshalb ist es möglich, dass wie zuletzt sogar eine ausgewiesene Nahost-Expertin wie Muriel Asseburg zum Zentrum einer persönlich diffamierenden Kampagne werden konnte."

Fabian Wolff behauptet in einem endlosen Zeit-online-Artikel (unser Resümee) von seiner Mutter über die eigene Herkunft belogen worden zu sein, erst nach langer Recherche hätte er herausgefunden, dass er doch kein Jude sei. "Diese Geschichte ist schrecklich und tragisch, sollte sie stimmen", meint Sebastian Leber dazu im Tagesspiegel, "der Autor verdient Mitgefühl und großen Respekt für den Versuch einer Richtigstellung. Das Problem ist allerdings, dass Wolff in seinem sehr langen Essay zwar ausführlich eigene Ängste und Sorgen beschreibt, sein Verhältnis zur Mutter und deren Leben in der DDR ausbreitet, jedoch kein Wort darüber verliert, was er mit seinen provokanten politischen Äußerungen angerichtet hat. Wie er unter falschen Voraussetzungen auf den Diskurs einwirkte. Dass er eben kein deutscher Jude ist, der - warum auch immer - um Verständnis für den Al-Quds-Marsch wirbt. Sondern dass Fabian Wolff ein nicht-jüdischer Deutscher ist, der den Quds-Marsch als Ausdruck "friedlicher Palästinasolidarität" verharmlost. Ein sehr bedeutender Unterschied." Wolff hatte Kritikern des Al-Quds-Marschs nahegelegt, sie "sollten besser schweigen. Schließlich seien diese - im Gegensatz zu ihm - nicht jüdisch".

Max Czollek, der tatsächlich jüdische Ahnen hat, erhält aber auch viel Solidarität:

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Geschichte

Hat Egon Bahr mit den reaktionärsten Betonköpfen in Moskau konspiriert, um die Bürgerbewegungen in Osteuropa und dann gar die Wiedervereinigung zu sabotieren? Gerhart Baum says so! Daniel Friedrich Sturm zitiert im Tagesspiegel ausführlich aus einem Leserbrief des ehemaligen Bundesinnenministers Baum an die FAZ, in dem er Bahr stark kritisiert. Der Leserbrief bezieht sich auf einen Artikel  Heinrich August Winklers über das zwiespältige Erbe der SPD-Ostpolitik. "Ein Hauptziel von Breschnew war die Anerkennung der bestehenden Grenzen durch den Westen, wie Winkler das auch beschreibt. Genscher war empört, dass Bahr in Helsinki der Forderung Breschnews nachgeben wollte, auch die innerdeutsche Grenze als endgültig anzuerkennen. (...) Es gab heftige Kontroversen. Die Missachtung der Freiheitsbewegungen war, vor allem im Hinblick auf Polen, auch Helmut Schmidts Position. Für uns, die wir schon längst auf Solidarność in Polen zugegangen waren, war dies ein Ärgernis. Bahr ist der sozialliberalen Koalition auch mit seiner Kritik am Nato-Doppelbeschluss in den Rücken gefallen. (...) Ins Bild passt auch, dass er nach 1989 alles versucht hat, um den Zwei-plus-vier-Vertrag zu verhindern. Er war der Vertrag zur Einheit und der eigentliche Friedensvertrag. Bahr konspirierte mit der Gorbatschow feindlich gegenüberstehenden Falin-Gruppe in Moskau. Gut, dass Bahr für den zweiten Teil der Ostpolitik, so wichtig seine Rolle am Anfang war, keine Rolle mehr gespielt hat."

Rixa Fürsen unterhält sich für die Welt mit Ulrich-Wilhelm Graf von Schwerin, dessen Vater zum Widerstandskreis des 20. Juli zählte. Er erzählt, wie er und sein Bruder nach dem Attentat in ein Kinderheim gesteckt wurden. Dass ihr Vater an dem Anschlag beteiligt und zu diesem Zeitpunkt schon hingerichtet worden war, wusste er nicht: "Ich habe den Tod meines Vaters geträumt, ehe ich es wusste - den ganzen Prozess im Detail bis zu seiner Kleidung. Erst später erfuhr ich, dass es diesen Prozess tatsächlich vor dem Volksgerichtshof gegeben hatte. Als ich meine Mutter nach der Entlassung aus Bad Sachsa am 8. Oktober 1944 wiedersah, erzählte sie mir von seinem Tod, aber ich wusste ja bereits alles."
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