9punkt - Die Debattenrundschau

Kniefall vor Provokateuren

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.08.2023. In Buxtehude wurde einer Kindergärtnerin gekündigt, weil sie aus der Kirche ausgetreten ist - für hpd.de Gelegenheit, das kirchliche Arbeitsrecht zu beleuchten. In der Zeit erläutert die  Verfassungsrechtlerin Suzie Navot die etwas unfertige Verfassungsordnung Israels. Ahmad Mansour gewinnt jetzt gegen die Verleumdungskampagne der britischen Website Hyphen wohl auch juristisch, berichtet die NZZ. Ralf Heimann hat in der MDR-Kolumne "Altpapier" ein gewisses Verständnis dafür, dass die Zeit an Fabian Wolffs jüdische Identität glaubte. In der NZZ beharrt Hamed Abdel-Samad: Der Staat darf die Meinungsfreiheit nicht einschränken, in der Hoffnung, die Gefühle der Muslime zu schützen.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.08.2023 finden Sie hier

Religion

In Buxtehude sind gerade 381 Stellen für ErzieherInnen in Kindergärten ausgeschrieben. In der Kindertagesstätte "Wilde Hummeln" wurde einer Mitarbeiterin dennoch fristlos gekündigt. Grund war keineswegs mangelnde Qualifikation, sondern die einfache Tatsache, dass sie aus der Kirche ausgetreten war, berichtet Helmut Ortner bei hpd.de. Dazu muss man wissen, dass die kirchlichen Unternehmen Diakonie (evangelisch)  und Caritas (katholisch) zu den größten Arbeitgebern in Deutschland gehören. Die Kirchen betreiben Tausende von Kindergärten und anderen Einrichtungen - und diese werden nicht aus Kirchensteuern finanziert. Als "Tendenzbetriebe" haben sie ein eigenes Arbeitsrecht, das Kündigungen gestattet: "Ob Kita oder Einrichtungen in anderen sozialen Bereichen, etwa in der Jugendarbeit, der Sucht-Prävention, der Altenpflege sowie den vielfältigen Beratungszentren in kirchlicher Trägerschaft: der Staat bezahlt. Warum aber wird das kirchliche Arbeitsrecht dann dem staatlichen Arbeitsrecht nicht angeglichen? Tatsache ist: An die 1,5 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in kirchlichen Einrichtungen sind auch im Jahre 2023 noch immer Beschäftigte minderen Rechts. Ein unhaltbarer Zustand."
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Stichwörter: Kirchliches Arbeitsrecht

Europa

Koran-Verbrennungen sind "vulgär", aber doch als freie Meinungsäußerungen von der liberalen Verfassung geschützt, wendet Hamed Abdel-Samad in der NZZ gegen Pläne ein, Koran-Verbrennungen zu verbieten. "Muslime beanspruchen die Glaubensfreiheit in Europa, lehnen aber andere freiheitliche Grundrechte ab. So etwa das Recht der Muslime auf Autonomie des eigenen Körpers und sexuelle Selbstbestimmung sowie das Recht der Islamkritiker, die Religion zu kritisieren. Schweden und Dänemark erwägen nun Schritte, um Koran-Verbrennungen in Zukunft strafrechtlich verfolgen zu können. Einerseits wollen sie die Gefühle der Muslime nicht verletzen, andererseits geht es ihnen um die innere Sicherheit und um die politischen wie auch wirtschaftlichen Beziehungen zu islamischen Staaten. Das ist die falsche Antwort, sie öffnet das Tor zur Hölle. (…) Der Staat darf die Meinungsfreiheit nicht einschränken, in der Hoffnung, die Gefühle der Muslime und die innere Sicherheit zu schützen. In diesem Kampf um die Meinungsfreiheit darf die Grundlage nicht verlorengehen. Denn wenn der Staat das Demonstrationsrecht zum Schutz der inneren Sicherheit einschränkt, ist das ein Kniefall vor Provokateuren und radikalen Islamisten."
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Gesellschaft

"Die Bundesregierung nimmt die medizinischen Langzeitfolgen der Coronapandemie ernst, aber nicht die psychischen und sozialen", klagt der Sozialforscher Klaus Hurrelmann, der eine Studie zum Thema durchgeführt hat und herausfand, dass die gesamte Gesellschaft an einer Art posttraumatischen Belastungsstörung leidet. Im Interview mit Sabine am Orde von der taz erläutert er seine These so: "Da weiß man, dass das wahre Ausmaß einer Belastung sich erst zeigt, wenn man die akute Krise eigentlich schon hinter sich hat. Einen solchen Effekt beobachten wir in allen Altersgruppen, bei jungen Leuten besonders stark. Wir haben es mit einer psychisch sehr belasteten, sehr erschöpften Bevölkerung zu tun. Die bräuchte jetzt eigentlich Ruhe. Aber stattdessen stehen wir vor den nächsten Krisen: Klima, Krieg, Inflation, vielleicht auch noch eine Fluchtbewegung. Auch diese Krisen können von einem Individuum nicht mit eigenen Ressourcen bewältigt werden. Es ist die nächste Überforderung." Ist natürlich ein Ding, dass sich die Regierung nicht darum kümmert.

In der NZZ rollt Oliver Maksan detailliert die Rufmordkampagne gegen Ahmed Mansour nochmal auf (unsere Resümees). Mansour droht, rechtliche Schritte gegen die Website Hyphen Online einzuleiten - sie hatte den Mansour-Text von James Jackson veröffentlicht. Mansour fordert Hyphen auf, den Text zu depublizieren, das Magazin ist dem bislang aber nicht nachgekommen. Jetzt hat die Website dem Unterlassungsgesuch zwar in allen Punkten zugestimmt,  allerdings nur unter der Bedingung: Mansour soll nicht darüber reden. "Für den Integrationsexperten, dessen Reputation tagelang am seidenen Faden hing, ist das nicht annehmbar, wie er der NZZ sagt", kommentiert Maksan. Damit wären zwar die Behauptungen über ihn aus der Welt, aber er würde einen Maulkorb zu seinem eigenen Fall verpasst bekommen. Gleichzeitig hat Mansour an viele Medien ein Dossier geschickt, das die Anschuldigungen gegen ihn widerlegt. "Das überzeugt immer mehr Medien. Die Gewichte neigen sich zu Mansours Gunsten."
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Stichwörter: Mansour, Ahmad, Hyphen, Inflation

Politik

In kaum einem Land ist es so leicht, die Demokratie auszuhöhlen wie in Israel, erklärt die Verfassungsrechtlerin Suzie Navot auf ZeitOnline: Israel hat zwar eine Menge Grundgesetze, aber keine Verfassung im eigentlichen Sinne. Zudem mangele es an Checks and Balances: "In vielen Ländern besteht die Legislative etwa aus zwei Kammern; in manchen Fällen verfügt der Präsident des Landes über ein Vetorecht bei der Gesetzgebung; oder eine föderale Struktur sorgt für die Dezentralisierung der Macht. Dazu kommen internationale Organisationen und Gerichte wie der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. (…) Unter den sogenannten freiheitlichen Staaten ist Israel der einzige, in dem politische Macht nicht auf verschiedene Institutionen verteilt ist. Die Knesset hat 120 Sitze, und um ein Grundgesetz umzuschreiben, sind lediglich 61 Mandate nötig. 61 Stimmen sind alles, was man braucht, um die politische Struktur des Landes zu verändern, in die Autorität der Gerichte einzugreifen, Israel in ein undemokratisches Land zu verwandeln und Menschenrechte einzuschränken oder sogar abzuschaffen."
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Medien

Auf die Frage Lukas Pazzinis im Perlentaucher, warum niemand in der Zeit schon nach dem ersten Text Fabian Wolffs überprüft hat, ob sein behauptetes Judentum echt sei, antwortet Ralf Heimann in der MDR-Kolumne "Altpapier": "Muss ein Jude, der über seine Perspektive als Jude schreibt, erst mal belegen, dass er überhaupt Jude ist? Das kann man Zeit Online zugute halten. Wolff hat sich nicht einfach eine Website zusammengezimmert, auf der ein geschönter Lebenslauf zu finden war. Er hat sich ein Merkmal zugelegt, mit dem Menschen in Deutschland aus gutem Grund sensibel umgehen, so hat er mehrere Redaktionen bewusst oder unbewusst getäuscht. Und wenn jemand regelmäßig für den Spiegel oder die Süddeutsche Zeitung schreibt, dann nehmen Redaktionen auch das als Beleg dafür, dass man Texte von diesem Menschen wohl ohne größere Bedenken drucken kann."

Ingar Solty  möchte im Freitag in Wolffs Hochstapler-Geschichte eine spezifisch ostdeutsche Charakteristik erkennen. Das "Ostdeutsche" sei als Identität nach der Wende diskreditiert worden: "Mit der bloßen Identität als ostdeutsches Kind einer Kommunistin, das mit diesem Erbe nicht ganz und gar bricht, wäre Wolff für Zeit, Deutschlandfunk, SZ und Co. gänzlich uninteressant gewesen. Deren Redaktionen hätten ihm mit dieser Sprecherposition niemals ihre Zeilen geöffnet."

Der Bayerische Rundfunk war ja im Grunde der letzte öffentlich-rechtliche Sender (vom Deutschlandfunk abgesehen), der noch einen eher klassischen Kulturbegriff hatte - nun wird auch hier gekürzt und portioniert, berichtet Patrick Guyton in der taz, der interne Papiere einsehen konnte. "Renommierte Reihen sollen eingestellt werden, wie etwa die 'Kulturwelt', das Büchermagazin 'Diwan' oder das 'Kulturjournal'. Stattdessen finde gemäß der gesamten ARD-Reformagenda eine 'umfassende Zentralisierung' statt." Die Reform betrifft aber nicht nur den BR, es läuft auf eine Zentralisierung der Anstalten hinaus, so Guyton: "Ein Schema für das gegenwärtige Bayern-2-Programm und wie es künftig sein könnte, zeigt deutlich, wohin die Reise geht: Die vielen sich abwechselnden Sendungen zu bestimmten Themen gibt es demnach nicht mehr. Dafür lauten die Programmtitel bei den Sendungen über Stunden hinweg: 'Bayern 2 am Morgen', 'Bayern 2 am Vormittag', 'Bayern 2 am Abend'. Eingestreut werden sollen Kultur- und Literaturbeiträge, die ARD-weit erstellt und in einem zentralen 'Kulturregal' angeboten werden, so die Kritiker. Die Vielfalt der Kulturberichte verschwinde - 'Lesungen, Kommentare, Feuilletons, Essays'."

Für die SZ berichtet Anna Ernst: "Sollte 'Diwan' wie befürchtet komplett wegfallen, würde sogar die einzige Sendung im gesamten Angebot des BR gestrichen, die sich explizit mit Literatur und Literaturkritik auseinandersetzt." Stellenkürzungen soll es nicht geben, sogenannte "Feste Freie" stehen aber natürlich zur Disposition.
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