9punkt - Die Debattenrundschau

Augenblicke, in denen die Realität auch wirklich ist

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.09.2023. "Als Russe wird man mit Gewalt gestopft wie eine französische Gans", schreibt Boris Schumatsky, der in der FAS den Zusammenhang von Gewalt und "Heimatliebe" schildert. In der NZZ schreibt Asli Erdogan über die Schmerzen des Exils. Seit Corona ist das Grundvertrauen in unsere Welt zerstört, diagnostiziert Hartmut Rosa in der SZ. Und bei vielen AfD-Wählern führt das zu einer "nihilistischen Wut", meint der Soziologe Philipp Rhein in der taz. Mit der Titanic steckt das nächste linke Medium in der Krise, den rechten Blättern geht's dagegen prächtig, warnt die taz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.09.2023 finden Sie hier

Europa

"Als Russe wird man mit Gewalt gestopft, überfüttert wie eine französische Gans mit Mais und Schweineschmalz", schreibt der russische Schriftsteller und Publizist Boris Schumatsky in einem FAS-Essay, in dem er von der Gewalt nicht nur in der russischen Armee erzählt: "'Heimatliebe' kann im Russischen 'Prügel' bedeuten, jeder kennt dort die Drohung 'Wir bringen es dir schon bei, deine Heimat zu lieben!'. Das heißt: 'Wir werden dich jetzt so lange misshandeln, bis du dich fügst', bis du die Regeln deiner Heimat befolgst. In der Armee musst du dich den Großvätern beugen, dich entwürdigen lassen und dann selbst andere misshandeln. In der Familie - nicht in allen, nicht in meiner - musst du dich als Kind den Eltern, als Frau dem Mann fügen, dich sogar schlagen lassen, denn 'wer schlägt, der liebt', sagt der russische Volksmund. Schätzungen zufolge stirbt in Russland jede Stunde eine Frau an dieser Liebe, wenn nicht noch öfter, genaue Zahlen sind geheim oder werden nicht mehr erhoben. Seit 2017 sind leichte und mittlere Körperverletzung in der Familie entkriminalisiert, damit alle lernen, ihre Heimat zu lieben."

"Der russische Kulturbetrieb produziert ununterbrochen Narrative, die die russische Kultur, Bildung, Krieg, Gewalt und das nationale Verständnis der Liebe miteinander verbinden", schreibt auch Nikolai Klimeniouk, der in der FAZ zudem darauf hinweist, dass die Ansicht, die Wiedervereinigung Deutschlands als Annexion zu betrachten, in Russland seit diesem Jahr Staatsdoktrin ist: "Im kürzlich erschienenen, staatlich abgesegneten, vom ehemaligen Kulturminister Wladimir Medinskij mitverfassten Lehrbuch 'Russische Geschichte 1945 - Anfang des 21. Jahrhundert' heißt es: 'Im Jahr 1989 begann der einseitige Abzug der sowjetischen Truppen aus Ost- und Mitteleuropa. Dies war eine besonders unüberlegte Entscheidung, denn die Schwächung der sowjetischen Militärpräsenz in den verbündeten Ländern führte zu einer drastischen Verschärfung nationalistischer und antisowjetischer Stimmungen. Der kollektive Westen nutzte dies aus. (…) 1990 annektiert die BRD Ostdeutschland. Die DDR wurde von der BRD einverleibt.' Die künftigen russischen Soldaten werden dieses Wissen mit sich tragen, ebenso wie die aus Büchern geschöpfte Idee, dass man für seine Liebe, für die verlorenen Teile des Ganzen kämpfen soll."

Im taz-Gespräch kritisiert die ukrainische Kriegsreporterin Katerina Sergatskova, dass Journalisten in der Ukraine der Zugang zu direkten Kriegsgebieten verweigert wird oder sie oft daran gehindert werden, mit dem Militär zu sprechen: "Das soll Informationslecks verhindern, führt aber dazu, dass in den Medien zu wenig über die Opfer des Krieges berichtet wird. Das bedeutet, dass es für die Menschen - sowohl in der Ukraine als auch in der ganzen Welt - schwierig ist, zu verstehen, welchen Preis wir für unseren Widerstand gegen die russische Invasion zahlen. Dieser Preis ist das Leben jedes einzelnen Menschen, der die Ukraine und Europa verteidigt, sowie das Leben von Familien, die ihre Angehörigen verloren haben."

"Exil. Ein allmähliches, schmerzhaftes Untergehen, ein sich schier endlos hinziehendes Ertrinken in den Tiefen des Vergessens", schreibt die türkische Autorin Asli Erdogan, die die Türkei vor sechs Jahren verlassen musste, in einem persönlichen Text in der NZZ, in dem sie vom Gefühl der Verlorenheit berichtet: "Es gibt Augenblicke, in denen die Realität auch wirklich ist. Augenblicke, die sich schließen wie ein Sargdeckel. Es sind Momente, durch die du hindurchmusst wie durch ein Nadelöhr, mitsamt deiner gewaltigen Vergangenheit, deinen Schatten, all deinen Ichs. Nackt, gehäutet, beinhart erscheint dann die Realität. Bilder, Eigenschaften, Begriffe tröpfeln von ihr herab. Darunter finden sich Koffer mit abgerissenen Griffen, Ausweispapiere in Plastiktüten, zu beschaffende Dokumente, Genehmigungen, Visa. Dokumente sind einzureichen, Unterschriften müssen geleistet werden, Verträge abgeschlossen, Fingerabdrücke werden eingefordert. Es folgen Bewilligungen oder Ablehnungen und Demütigungen. Man erhält verschiedensprachige Anordnungen und Regeln, unerbittliche Gesetze werden einem zur Kenntnis gebracht. Antworten bleiben aus, Beschlüsse werden aufgeschoben und Sätze abgebrochen. Am Ende überwältigt einen das Gefühl eines zu langen, allzu gramvollen Erstickens."

Hätte Markus Söder nicht an Hubert Aiwanger festgehalten, wäre mit der CSU wohl auch die letzte Volkspartei zerfallen, glaubt Roman Deininger im Aufmacher des SZ-Feuilletons. Aber die CSU wird noch gebraucht, meint er: "Wer der These zustimmt, dass es neben Klientel- oder Programmparteien, die sich bewusst nur an einen Teil der Bürgerinnen und Bürger wenden, auch weiterhin Volksparteien geben sollte, weil sie dem politischen System Stabilität verleihen, der muss eigentlich die Augen zukneifen, die Zähne zusammenbeißen und der CSU alles Gute wünschen."

Außerdem: Die FR bringt einen von Günter Wallraff initiierten und von zahlreichen deutschen Kulturschaffenden unterschriebenen offenen Brief an Annalena Baerbock mit der Aufforderung, sich für die Freiheit von Julian Assange einzusetzen: "Wir erwarten, dass Sie als Mitglied der Bundesregierung bei Ihren bevorstehenden Gesprächen in Washington etwa mit Ihrem Amtskollegen Antony Blinken den Fall Assange zur Sprache bringen und sich deutlich für ein Ende der Verfolgung von Assange einsetzen. In Ihrem Einsatz für verfolgte Journalisten darf es keine doppelten Standards geben."
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Gesellschaft

Im taz-Gespräch warnt der Politologe Philipp Rhein, der auch ein Buch zum Thema geschrieben hat, davor, AfD-Wähler als "Populisten oder Nostalgiker" zu verharmlosen, viele treibe vielmehr eine "nihilistische Wut": "Sie entzündet sich an einem Unvermögen, sich eine Zukunft vorzustellen. Die Zukunftsvorstellungen meiner InterviewpartnerInnen umfassen keine konkreten politischen Visionen oder Utopien, sondern sind äußerst bilderarm. … Die Jetzt-Zeit wird durchwegs als Katastrophe wahrgenommen. Für meine InterviewpartnerInnen ist die 'Normalität', die meist auf die Lebensform einer heterosexuellen Kleinfamilie bezogen ist und auf weißen, deutschen Identitätsprivilegien beruht, abhandengekommen; Krise ist zum Dauerzustand und Zukunft zu einem Bedrohungsszenario geworden. Sie blicken auf die Welt mit apokalyptischen Bildern und vertreten Endzeitdystopien. Auf narzisstisch hohle Weise begreifen sie sich als Teil einer Elite, die als vermeintlich auserwählte Gruppe den Untergang der Gesellschaft durchschaut."

"Corona hat stark dazu beigetragen, unser Grundvertrauen in die Welt zu zerstören", sagt der Soziologe Hartmut Rosa im SZ-Gespräch über den Druck und Stress, der in der Gesellschaft nach der Pandemie und in Folge des Kriegs in der Ukraine spürbarer geworden ist: "Vielleicht ist das eine Folge neoliberaler Politik, aber ich glaube, es gibt einfach keine sicheren Räume mehr, wo wir wissen: Hier sind wir angekommen, hier können wir einfach sein. Jede Sicherheit muss man sich heute ständig performativ erarbeiten. Familie wäre ja so ein traditioneller Anker. Aber gerade Beziehungen sind so unsicher und prekär geworden, müssen immerzu performativ befriedigt werden. Der Wohnort ist fraglich geworden, das Berufliche sowieso. Meine Schüler und Studenten haben gar nicht mehr die Hoffnung, dass sie den Job finden, den Wohnort, die Familie oder vielleicht sogar die Religion, wo sie hingehören. Dieses sichere Gefühl, ich habe einen Anker in der Welt, ist abhanden gekommen. Das hat sich noch einmal radikalisiert. Jederzeit kann jetzt der Virus kommen oder der Krieg."
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Religion

In der SZ glaubt Heribert Prantl, dass die Politik bei der Entscheidung über die Ablösezahlungen an die Kirchen einfach auf Zeit spielt: "Die Länder wollen keine Ablösezahlungen; lieber lässt man die bisherigen Jahreszahlungen vorläufig weiterlaufen und lässt die Zeit arbeiten: Die öffentliche Stimmung entwickelt sich schlecht für die Kirchen; der Zeitgeist heute ist kirchenkritisch. Rückblickend hätten die Kirchen wohl lieber vor fünfzig Jahren, als sie gegen das Papier der FDP agitierten, über Ablösezahlungen verhandelt. Sie befürchten heute, nach den Missbrauchsskandalen, eine Art moralische Inflation bei den ihnen juristisch zustehenden Geldern."
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Medien

Nach Neues Deutschland, Missy Magazine, Jacobin und Oxi stecken nun auch Katapult und Titanic in der Krise, berichtet Caspar Shaller in der taz und warnt: "Wenn fortschrittliche Medienalternativen verloren gehen, dann verschwinden wichtige Themen aus der Öffentlichkeit. Wer berichtet über Armut oder Arbeitskämpfe, wenn nicht linke Medien? Wer berichtet über Machtmissbrauch und Korruption, wenn nicht linke Medien? Wer recherchiert über illegale Pushbacks und rechte Gewalt, wenn nicht linke Medien?" Dem entgegen steht die Finanzkraft rechter Medienprojekte: "Neben einem florierenden Blätterwald rechter Presse von Compact bis Junge Freiheit sind die Gegner von Freiheit, Gleichheit und Fortschritt nun auch crossmedial unterwegs. Seit Sommer ist Nius online, ein Projekt des ehemaligen Bild-Chefredakteurs Julian Reichelt, das vom CDU-nahen Multimilliardär Frank Gotthardt unterstützt wird. Selbst aus dem Ausland drängen reaktionäre Stimmen auf den deutschen Markt."

"Auf seiner Homepage erklärt die Redaktion, die Titanic sei 'pleite wie nie', und um weiter Hefte produzieren zu können, brauche man umgehend 5000 neue Abos", berichten Anna Ernst und Felix Stephan in der SZ: "Jenseits der Abo-Einnahmen hat die Titanic kaum weitere Einnahmen. Der Anzeigenschwund, mit dem viele deutsche Medien zu kämpfen haben, ist bei der Titanic hingegen schon deshalb nicht das größte Problem, weil Unternehmen das Magazin schon immer eher gemieden haben. Geschmacklosigkeit gehört dort zum ästhetischen und ethischen Prinzip, jede Werbeanzeige, die man bei der Titanic schaltet, läuft Gefahr, sich neben einer Hitler-Karikatur wiederzufinden."

Außerdem: Sobald das ZDF was wagt, haut das Publikum ab, klagt Joachim Huber im Tagesspiegel: "Dieser Programm-Stalinismus entzieht forcierter Programm-Entwicklung den Boden. Folgerichtig traut sich das Zweite nur bei ZDFneo und noch mehr in der Mediathek was."
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Politik

Demografischen Prognosen zufolge schrumpft die japanische Bevölkerung in den nächsten Jahren massiv, laut einem von der Regierung finanzierten Forschungsinstitut könnte die Bevölkerung von derzeit 125 Millionen Japanern bis 2060 auf rund 90 Millionen sinken, schreibt der in Japan lebende Schriftsteller Leopold Feldmair in der NZZ. Und trotzdem sind Zuwanderer nicht willkommen: "Sowohl unter Politikern als auch in der japanischen Bevölkerung betrachtet man es als Selbstverständlichkeit, dass diese Ausländer als Gäste hierherkommen und früher oder später in ihr Land zurückkehren. Gäste akzeptiert man und behandelt sie höflich, lässt sie aber nicht ins eigene Haus, weil man davon ausgeht, dass die kulturellen, sprachlichen und ethnischen Unterschiede eine Teilnahme der anderen unmöglich machen. (...) In Japan wurden zahlreiche brasilianische Arbeitskräfte in der Automobilindustrie nach der globalen Finanzkrise 2008, als die Produktion zurückgefahren wurde, dafür bezahlt, dass sie in ihr Herkunftsland zurückkehrten, mit der Auflage, künftig nicht mehr japanischen Boden zu betreten."
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Stichwörter: Japan, Bevölkerung, Zuwanderung