9punkt - Die Debattenrundschau

Dieser postfaschistische Komödiantenstadl

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.09.2023. Constantin Schreiber hat sich in einigen Büchern kritisch mit dem Islam auseinandergesetzt. Nach Drohungen und einem Tortenattentat, sagt er in der Zeit: "Ich werde mich zu allem, was mit dem Islam auch nur im Entferntesten zu tun hat, nicht mehr äußern." Müssen sich die Deutschen wirklich um alles selber kümmern, sogar um ihre Entnazifizierung, fragt ein entnervter Maxim Biller ebenfalls in der Zeit. Die AfD-Politikerin Alice Weidel sagt, sie sei nicht queer. Die FAZ gibt ihr recht. Der Journalist Axel Brüggemann hat sich kritisch über den SWR geäußert - und verliert seine SWR-Kolumne.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 14.09.2023 finden Sie hier

Europa

Othmara Glas erzählt in der FAZ die alptraumhafte Geschichte der russischen Investigativ-Journalistin Jelena Kostjutschenko, die wohl im deutschen Exil vergiftet wurde - die Symptome waren massiv, ließen sich letztlich aber keinem Gift zuordnen. Die Berliner Polizei hatte ihr Vorwürfe gemacht, dass sie sich so spät an sie gewandt hatte - sie hatte zunächst an Covid-Langzeitfolgen geglaubt: "Kostjutschenko erklärt, sie habe sich einfach nicht vorstellen können, dass sie vergiftet worden sein könnte... Seit Februar 2022 sind Dutzende russische Journalisten nach Berlin umgesiedelt. Sie fühlen sich in Deutschland sicher. Ein Polizist, der im Tiergarten-Mord ermittelt hat, sagte Kostjutschenko deutlich, dass es auch in der deutschen Hauptstadt politische Morde gebe und russische Geheimdienste dort operierten."
Archiv: Europa
Stichwörter: Kostjutschenko, Jelena

Kulturpolitik

In der NS-Zeit wurden wahrscheinlich an die 600.000 Kunstwerke aus jüdischen Haushalten gestohlen, heute befindet sich ein Großteil immer noch in deutschen Museen. Um dieses Unrecht zu beseitigen, wurde 2003 die "Beratende Kommission zur Restitution von NS-Raubkunst" gegründet, erinnert Jörg Häntzschel in der SZ. Bisher erfolgreich bearbeitete Fälle: 23. Das liegt auch an der Machtlosigkeit der Kommission: "Sie wird nur aktiv, wenn beide Seiten der Behandlung des Falls zustimmen. Und sie ist kein Gericht, sondern spricht nur 'Empfehlungen' aus. Es ist, zugespitzt gesagt, als könne ein Bestohlener den Diebstahl seines Eigentums nur feststellen lassen, wenn der Dieb dem Verfahren zustimmt. Und selbst wenn die Schuld des Diebs festgestellt wird, kann niemand diesen zwingen, den gestohlenen Gegenstand zurückzugeben." Die Kommission fordert daher: "Rechtlich verbindliche Vorgaben, also ein Restitutionsgesetz".

In Italien amtiert seit einem Jahr eine neo-faschistische Regierung, und zwar überraschend stabil und mit hohen Beliebtheitswerten. Giorgia Meloni nutzt den Rückenwind, um die RAI und Kulturinstitutionen gleichzuschalten, berichtet Marc Beise in der SZ. Das hätten zwar auch andere Regierungen getan und "natürlich wünscht sich jede politische Mehrheit gleich gesinnte Begleiter. Der große Unterschied zu früher ist nur, und das wäre der wirkliche Paradigmenwechsel, dass liberale Geister mit Widerspruch leben können, ihn manchmal sogar suchen - Meloni und ihren Verbündeten aber jede Gelassenheit fehlt."

Außerdem: Die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten will die Bildergalerie im Schloss Sanssouci schließen, wo immerhin ein Caravaggio hängt. Es ist ein Coup, um bei Bund und Ländern die Rücknahme von Budgetkürzuungen zu erzwingen, ärgert sich Andreas Kilb in der FAZ. Die Stiftung müsse sich fragen lassen, "ob sie eigentlich noch bei Trost ist, wenn sie eines ihrer wichtigsten Objekte als Bilderkarte im Haushaltspoker benutzt".
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Gesellschaft

Dem Journalisten, Tagesschausprecher und Autor Constantin Schreiber, der immerhin arabisch spricht und es gewagt hatte, sich kritisch über den Islam zu äußern, ist neulich bei einer Podiumsdiskussion an der Uni Jena eine Torte ins Gesicht gedrückt worden. Giovanni Di Lorenzo führt dazu auf den Wirtschaftsseiten (warum eigentlich dort?) der Zeit ein Gespräch mit Schreiber, der die Situation so erlebte: "Mir steckte der Kuchen in den Ohren und in der Nase, er klebte auf der Lederjacke, der Hose. Ich pulte mir das aus dem Gesicht, damit ich was hören und wieder atmen konnte. Währenddessen kam ein Vertreter der Veranstaltung - einer Kooperation zwischen der örtlichen Thalia-Buchhandlung und der Uni Jena - nach vorn. Er ergriff ein Mikrofon und sagte - ich zitiere jetzt aus meinem Gedächtnis -, es sei wichtig, dass 'wir die Meinung dieser Menschen nicht ausgrenzen'. Und der Moderator, der ja neben mir saß hat sich nicht geregt. Jemand aus dem Publikum schmiss mir eine Packung Taschentücher zu, Leute von der Uni haben die Tortenreste vom Boden gewischt. Dann drehte sich der Veranstaltungsvertreter um und sagte in Richtung Moderator in etwa: 'Zu den Vorwürfen oder Anschuldigungen werden wir ja später noch kommen.'" Auch von einem Taxifahrer wurde Schreiber bedroht ("nun weiß ich, wo du wohnst").

Schreiber hat aus dem Vorfall eine Konsequenz gezogen: "Ich werde mich zu allem, was mit dem Islam auch nur im Entferntesten zu tun hat, nicht mehr äußern. Ich werde keine Bücher dazu schreiben, ich lehne Talkshow-Anfragen ab, ich mache das nicht mehr. Da mögen jetzt manche feiern und vielleicht die Schampusflaschen aufmachen. Ob das ein Gewinn ist für die Meinungsfreiheit und für den Journalismus, ist eine andere Frage." Mehr im Tagesspiegel.

Seit Deutschland "leider nicht mehr von den Alliierten besetzt ist", müssen sich die Deutschen um alles kümmern, selbst um ihre eigene Entnazifizierung, stöhnt Maxim Biller, der in der Zeit auf die Aiwanger-Affäre zurückkommt: "So wie neulich Hubert Aiwanger, der mutmaßliche Hitlerdarsteller. Ob es wahr sei, lautete sinngemäß eine der 25 Fragen an ihn - nach dem Krieg waren es 131 -, dass er Hitlers Reden und dessen Bärtchen imitiert habe. Antwort, sinngemäß: Wenn ja, was ich nicht mehr genau sagen kann, würde ich darum bitten, heute nicht deshalb ständig genervt zu werden, weil es mir natürlich sehr leid tut, wobei ich aber gar nicht so genau weiß, was. Herrlich, dieser postfaschistische Komödiantenstadl."

Am Samstag soll der "Marsch für das Leben" der Abtreibungsgegner nach einer gewissen Schwächung in den Corona-Jahren wieder zu alter Stärke zurückfinden, berichtet eine Reportergruppe in der FAZ. "Traditionell sind CDU und CSU eng mit dem 'Marsch für das Leben' verbunden. Die den Unionsparteien nahestehenden 'Christdemokraten für das Leben' organisieren Busfahrten zur Demo, der Bundestagsabgeordnete Hubert Hüppe stand schon am Rednerpult, die Kölner CDU bewirbt den diesjährigen Marsch online. Auch die AfD versucht immer wieder, sich über den Marsch zu profilieren. (...) Der Marsch beschreibt sich selbst als 'überkonfessionell'. Tatsächlich aber gehören die Kirchen zu den wichtigen Unterstützer*innen, besonders die katholische Kirche. Die Deutsche Bischofskonferenz ruft regelmäßig zur Teilnahme auf. Ihr Vorsitzender Georg Bätzing schickte auch in diesem Jahr wieder ein Grußwort."

Die AfD-Politkerin Alice Weidel lebt zwar in einer lesbischen Beziehung, legte aber neulich Wert auf die Feststellung, sie sei nicht queer. Und auch Kira Kramer ist diese Unterscheidung in der FAZ sehr wichtig: Weidel sei nicht die erste, "die mit ihrer Aussage eine Differenz aufreißt zwischen den Menschen, die einfach bloß homosexuell leben, ohne sich als Teil einer Community zu begreifen, und jenen, die sich qua ihrer Sexualität dazu berufen fühlen, einen politischen Kampf für sich und andere auszufechten. Das Aufkommen des Begriffes 'queer' zeugt von ebendieser Aufspaltung. Weidel liegt also völlig richtig, wenn sie sagt, sie sei nicht queer."
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Geschichte

Die AfD-Politikerin Alice Weidel (schon wieder) hat sich neulich geweigert, den 8. Mai als Tag der Befreiung anzusehen und löste damit viel Empörung aus. Aber was sie sagte, lag im Grunde auf der Linie dessen, was Helmut Kohl lange Zeit sagte, sagt der Historiker Peter Hoeres im Gespräch mit Oliver Maksan von der NZZ. Und selbst Richard von Weizsäcker, der den 8. Mai in seiner berühmten Rede als Befreiung definierte, hätte nicht verschwiegen, wie zwiepältig das Datum war: "Das galt ja besonders für die sowjetische Besatzungszone, wo eine neue Diktatur errichtet wurde, mit der Fortführung von Konzentrationslagern wie Buchenwald. Die Rote Armee war mit hunderttausendfachen Vergewaltigungen und Morden einmarschiert, und es gab die millionenfache Vertreibung der Ostdeutschen. Zudem waren über drei Millionen deutscher Soldaten in Gefangenschaft, von denen eine Million nie zurückkehrte."
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Medien

Der Musikjournalist Axel Brüggemann hat in seiner Kolumne bei Crescendo mehrfach auf die äußerst innigen Beziehungen des Dirigenten Teodor Currentzis zu Waldimir Putin und den ihm nahe stehenden Oligarchen, die Putins Krieg und ihn finanzieren, hingewiesen (unsere Resümees). Currentzis ist auch Chefdirigent des SWR-Sinfonierorchesters, und auch auf die äußerst verschlossene Kommunikationspolitik dieses aus Gebührengeldern bezahlten Senders hatte Brüggemann wiederholt hingewiesen. Nun hatte Brüggemann auch eine Kolumne im SWR, und die ist ihm nun abgestellt worden mit der Begründung, dass er die Gesamtleiterin des SWR-Orchesters, Sabrina Haane "herabgewürdigt" habe. Obwohl ihm gegenüber vorher immer beteuert worden war, dass das Orchester mit der Redaktion unter Leitung des Intendanten Kai Gniffke nichts zu tun habe. "Das ist schon ein Skandal", kommentiert Moritz Eggert im Blog der Neuen Musikzeitung an die Adresse des SWR: "Nicht nur Brüggemann, auch andere kritische Fragensteller wie zum Beispiel unser Blogger Alexander Strauch werden seit nun schon einiger Zeit bei jeder Anfrage mit kryptischen kurzen Statements abgespeist, die Kafkas 'Das Schloss' in ihrer Hermetik und Rätselhaftigkeit nicht fernstehen. Kurzum: Kai Gniffke und auch seine Programmchefin Anke Mai wollen das exakt so. Sie wollen nicht antworten. Sie wollen nicht, dass diese Fragen gestellt werden. Leider wäre es aber Ihre Pflicht, darauf zu antworten, denn zu dieser notwendigen Transparenz verpflichtet Sie unser Rundfunkbeitrag."

Auch Brüggemann selbst hat sich in seiner letzten Crescendo-Kolumne zum Verhalten des SWR geäußert. Er erwarte von einem öffentlich-rechtlichen Sender eine transparente Kommunikation: "Beim SWR haben wir derzeit allerdings die Situation, dass das Sinfonieorchester von einem Dirigenten geleitet wird, der nebenbei Geld bei VTB und Gazprom verdient, der sagt: 'Wer Russland liebt, braucht Russland nicht zu fürchten' und dessen MusikerInnen bei 'musicAeterna' deutsche Journalisten 'Faschisten' nennen (Currentzis hat sich davon nie distanziert)."

Deutschland hat eine Klassenjustiz, legt der SZ-Journalist Ronen Steinke in seinem vielgelobten Buch "Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich" dar. Jochen Zenthöfer hat nachgeforscht und wirft Steinke in der FAZ arge Verknappungen vor. So schreibe Steinke in einer SZ-Kolumne und seinem Buch über einen Obdachlosen, er sei zu 540 Euro Strafe verurteilt worden, weil er in einem Bahnhof geschlafen habe. "Im SZ-Artikel bleiben zusätzliche Straftaten und weitere Ereignisse freilich unerwähnt: dass der Obdachlose eine Justizvollzugsbeamtin als 'dreckige Fotze, Nutte, Schlampe, Nazi und Schwänze lutschendes Dreckstück' bezeichnete und drohte, ihr ein Messer in den Körper zu rammen und ihr Gesicht mit Säure zu übergießen... Die erwähnte Strafe von 540 Euro gibt es am Ende für fast 90 Straftaten, eben nicht nur Schlafen im Bahnhof."
Archiv: Medien