9punkt - Die Debattenrundschau

Der Rand des Abgrunds

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.10.2023. Die Welt hat Angst vor diesem Freitag. Die israelische Armee ruft die Bewohner des nördlichen Gaza-Streifens auf, ihn in Richtung Süden zu verlassen. Die Bilder, die aus dem Gaza-Streifen kommen, sind grauenhaft. In der taz schildert der Militärsoziologe Yagil Levy das tragische Dilemma der israelischen Armee. In Deutschland fürchtet man nach Aufrufen der Hamas zu neuer Gewalt Demonstrationen und Attentate: Wo bleibt das Zeichen der Solidarität der Mehrheitsgesellschaft auf den Straßen, fragt die Jüdische Gemeinde. In Paris feiern Tausende die Morde der Hamas.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.10.2023 finden Sie hier

Politik

Die israelische Armee fordert die Bewohner des nördlichen Gaza-Streifens auf, diesen in Richtung Süden zu verlassen. Le Monde zitiert ausführlicher aus dem Kommunikee der Armee: "'Die Terrororganisation Hamas hat einen Krieg gegen den Staat Israel geführt und Gaza-Stadt ist ein Gebiet, in dem militärische Operationen stattfinden', wird in dem Text ausgeführt. 'Die Hamas-Terroristen verstecken sich in Gaza-Stadt in Tunneln unter Häusern und in Gebäuden, die von unschuldigen Gaza-Zivilisten bewohnt werden', heißt es weiter. 'Halten Sie sich von den Hamas-Terroristen fern, die Sie als menschliche Schutzschilde benutzen', heißt es weiter. 'Sie dürfen erst dann nach Gaza-Stadt zurückkehren, wenn eine weitere Ankündigung vorliegt, die dies erlaubt', so die Armee."

Laut neuesten Meldungen, die alle in Le Monde zitiert werden, kritisiert die UNO Israel für diese Aufforderung und fürchtet "verheerende Auswirkungen". Israel wirft der UNO vor, Israel im Stich zu lassen: "Anstatt an der Seite Israels zu stehen, dessen Bürger von Hamas-Terroristen massakriert wurden, und das versucht, den Schaden für die Beteiligten so gering wie möglich zu halten, halten die UN Israel eine Lektion." Die Hamas fordert die Bevölkerung des Gaza-Streifens auf, der Anordnung der israelischen Armee nicht zu folgen.

Nun sind es die Bilder aus Gaza, die die Weltöffentlichkeit in Atem halten. Hier eine Channel 4-Reportage aus dem Gaza-Streiifen:

Der Militärsoziologe Yagil Levy schildert im Interview mit Susanne Knaul von der taz die tragische Situation: "Ein Einmarsch bedeutet sicher eine große Zahl von verletzten und gefallenen Soldaten einerseits und auch auf palästinensischer Seite viele verletzte und tote Zivilisten. Die Regierung befindet sich in einem ungeheuer schwierigen Dilemma, auch mit Blick auf die Operation 'Starker Fels' 2014, die mit zahlreichen Opfern und letztlich ohne Ergebnis endete. Die Führung lässt sich Zeit. Auf der anderen Seite wäre es auch kein gutes Signal, wenn die große Zahl der rekrutierten Reservisten wieder nach Hause geschickt wird, ohne zum Einsatz gekommen zu sein."

Wenn es in Berlin ein paar Dutzend Menschen sind, die ihrer großen Freude über die Morde an über tausend Juden Ausdruck geben, sind es in Paris (wie in London, unser Resümee) gleich Tausende. Die französischen Medien berichten bisher so gut wie gar nicht über die Ereignisse gestern Abend.

Auch in Berlin ist die Lage am heutigen Freitag, an dem es nach Aufrufen der Hamas auch hier zu Gewalt kommen könnte, angespannt, berichtet Gareth Joswig in der taz: "Die Jüdische Gemeinde Berlin forderte angesichts von Gewaltaufrufen Solidarität ein: 'Jüdisches Leben ist nach dem Massaker in Israel nun weltweit in Gefahr! Juden in Israel und weltweit brauchen jetzt die Unterstützung der Mehrheitsgesellschaft dringender denn je. Lasst eure jüdischen Bekannten, Verwandten, Freunde und Mitbürger sehen, dass ihr zu ihnen steht und dass Antisemitismus, Hass und Terror nirgendwo auf der Welt akzeptiert werden dürfen.'"

David Grossman zieht in der FAZ die bittere innenpolitische Bilanz der Ereignisse: "Was heute geschieht, zeigt uns den Preis, den Israelis zu zahlen haben, weil sie sich jahrelang von korrupten Politikern verführen ließen, die den Staat nach und nach an den Rand des Abgrunds trieben, das Justizwesen, das Erziehungswesen wie auch die Armee unterhöhlten und bereit waren, uns alle existenziellen Gefahren auszusetzen, um den Ministerpräsidenten vor einer Gefängnisstrafe zu bewahren." Und dennoch verlangt Grossmann in einem Punkt Klarheit: "Die Gräueltaten dieser Tage sind nicht Israel zuzuschreiben. Sie gehen aufs Konto der Hamas. Wohl ist die Besatzung ein Verbrechen, aber Hunderte von Zivilisten zu überwältigen, Kinder, Eltern, Alte und Kranke, und dann von einem zum anderen zu gehen und sie kaltblütig zu erschießen - das ist ein viel schwereres Verbrechen. " Grossmann nennt übrigens einen Namen für die Ereignisse: der "Schwarze Schabbat".

Bitter die Erwägungen des grünen EU-Abgeordneten Sergey Lagodinsky, ebenfalls in der FAZ: "Der Traum platzt. Er platzt wie die Wunden der Opfer, weil die Angriffe auf das Menschliche unerträglich sind und weil die Empathie des Menschlichen sich in unserer Umgebung so schnell erschöpft. Was bleibt, ist bestenfalls Achselzucken, schlimmstenfalls - Verständnis für die Vergewaltiger. Der Frust über das Leben ohne Zukunft sei einfach zu groß gewesen in Gaza. Oder der Frust über die Ausdehnung der NATO im Kreml."

Die Hamas muss zerstört werden, fordert der französische Philosoph Bernard-Henri Lévy, der in der SZ aber vor allem die Frage stellt, wie die Hamas so schwer bewaffnet einen der besten Sicherheitsdienste der Welt umgehen konnte: "Ich denke an das Treffen zwischen Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und dem Chef des politischen Büros der Hamas, Ismail Hanija, am 27. Juli in Ankara, das von einem Erdogan organisiert wurde, der an geraden Tagen mit Israel verhandelt und an ungeraden Tagen beschließt, dass der jüdische Staat ein Krebsgeschwür sei. Ich sehe Sergej Lawrow vor mir, wie er Monate zuvor in Moskau mit großem Pomp denselben Ismail Hanija empfing: Was gab es zu besprechen? Hat Russland, das in den Krieg in der Ukraine verwickelt ist, ein Interesse an einer zweiten Front, die den Westen zwingt, einen Teil der wertvollen militärischen Ressourcen, die eigentlich für die Ukraine reserviert waren, für Israel bereitzustellen? Und wie glaubwürdig sind diejenigen, die hier im Süden Israels, wo ich mich gerade aufhalte, versichern, dass die Segelflieger, mit denen die Mörder an Putins Geburtstag über den Grenzzaun flogen, den Flugzeugen des Modells Poisk-06 MSN, die der russische Grenzschutz häufig einsetzt, zum Verwechseln ähnlich sehen?"

Israel ist "im Schockzustand, aber im Schmerz vereint und steht zusammen", kommentiert Alexandra Föderl-Schmidt ebenfalls in der SZ die Entscheidung Netanjahus, eine Notstandsregierung mit der Opposition zu bilden: "Die Einbindung der Opposition ist aber auch ein Eingeständnis, dass die von ihm vor zehn Monaten gebildete rechts-religiöse Koalition nicht in der Lage ist, der Anforderungen Herr zu werden. Wie sollte er sich im Kriegsfall auf seine Koalitionspartner verlassen, die nur ihre eigenen Interessen im Blick haben? Den ultraorthodoxen Parteien ging es in der Regierungsverantwortung immer darum, ihre eigene Klientel vom Wehrdienst zu befreien. Und Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir war schon mit 18 Jahren so extremistisch, dass die Armee ihn nicht haben wollte. Für Finanzminister Bezalel Smotrich existieren die Palästinenser gar nicht, wie er jüngst kundtat."
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Medien

Im Tagesspiegel-Gespräch mit Claudia Reinhard hält die Medienethikerin Claudia Paganini es nicht für nötig, die brutalen Bilder aus Israel zu zeigen: "Dazu kommt ja noch der wichtige Punkt, dass die dargestellten Menschen, ob lebendig oder tot, nach wie vor Persönlichkeitsrechte haben. Niemand hat die Opfer gefragt, ob sie so dargestellt werden wollen. Ob sie in einer derart entwürdigenden Form millionenfach zur Schau gestellt werden wollen. Das kann man nicht einfach rechtfertigen, indem man sich auf einen Nutzen beruft, der aus einer wissenschaftlichen Perspektive letztlich sehr unklar ist. Das halte ich für extrem problematisch." Hoffentlich liest die Hamas das.
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Stichwörter: Paganini, Claudia, Hamas

Gesellschaft

"Wir sollten weniger den Antisemitismus der anderen, sei es in Neukölln, sei es in Kassel, als den Antisemitismus in der Mitte der deutschen Gesellschaft skandalisieren", meint der Antisemitismusforscher und Generalsekretär der Evangelischen Akademien in Deutschland Klaus Holz im FR-Gespräch mit Harry Nutt: "Die AfD zum Beispiel trägt eine vermeintliche Unterstützung Israels als Schutzschild vor sich her, hinter dem sie den grassierenden Antisemitismus in ihrer Partei, ihrer Ideologie und Wählerschaft verbirgt. Und sie verknüpft die pro-israelische Haltung mit ihrem zentralen Feindbild: den Fremden, den Migranten, den Muslimen. Diese allein seien die Antisemiten. Die vermeintliche Ablehnung des Antisemitismus dient als Begründung des Rassismus. Dieses Muster stelle ich inzwischen weit über die AfD hinaus fest: Rassismus begründet sich im Verweis auf Antisemitismus unter Migranten und Muslimen."

"Nie in der Geschichte der Bundesrepublik saßen so viele Neonazis und Rechtsradikale in den Parlamenten", ergänzt Heribert Prantl in der SZ: "Das alte 'Nie wieder' zieht immer weniger. Gewiss: Einen Bodensatz von Extremisten gab es immer. Aber immer mehr Wähler nehmen das 'Schon wieder' billigend in Kauf. Die Angstparolen von der Fremdheit im eigenen Land verbinden einen radikalen Mob, der die Humanitas verachtet, mit dem Teil der verunsicherten gesellschaftlichen Mitte, der das Gefühl hat, entheimatet zu sein..."

Ebenfalls in der SZ dreht sich Meredith Haaf der Magen um angesichts einer Linken, die dem Massaker der Hamas zujubelt: "Es zeigt sich jetzt der destruktive Erfolg jener äußerlich betonharten, aber analytisch butterweichen Ideologie, die bei der Linken unter 'Israel-Kritik' läuft. Federführend ist dabei die 'Boycott, Divestment, Sanctions'-Bewegung (BDS), die in ihrem Bestreben, Widerstand gegen die Siedlungspolitik zu zeigen, die Gleichsetzung von Staat und sämtlichen Bürgern Israels sowie die Vermischung von politischer Kritik und Antisemitismus vorangetrieben hat. Hinzu kam jahrelang das Schlagwort der 'Apartheid', auch von Amnesty International breitenwirksam im Nahost-Konflikt-Jargon des Westens verwendet. Der Staat Israel wird so auf Basis verdrehter post-kolonialer Diskurse und im Namen der Freiheit praktisch zum bösesten Staat der Welt erklärt."

In der Welt geht Bari Weiss noch weiter: "Jetzt wissen wir, was für Menschen auf die in Viehwaggons gepferchten Juden geschaut und gesagt hätten: 'Nun, sie haben die deutsche Wirtschaft untergraben.' Nämlich die Menschen, die heute sagen: 'Das ist eine gerechtfertigte Antwort auf die Provokation, dass Israel existiert.' Jetzt wissen wir, wessen Politik nicht auf Konservatismus, linker Überzeugung oder was auch immer basiert, sondern auf nacktem Judenhass beruht. Jetzt können wir genau sehen, wie Menschen es immer wieder schaffen, einen Grund zu finden, warum die Juden es verdient hätten. Die Menschen, die jetzt jubeln und Fahnen schwenken, feiern auch nicht die Befreiung der Palästinenser. Der Angriff der Hamas, der am 7. Oktober begann, wird nicht zu einem freien Palästina führen - sondern zu einer schrecklichen Eskalation mit vielen weiteren Toten auf beiden Seiten (das tut es bereits). Die Menschen, die jubeln, feiern den Tod."

"Wer kann guten Gewissens einen totalitären palästinensischen Staat an Israels Grenze bejahen, wenn seine Vertreter Terroristen als Märtyrer feiern, Erwachsene und Kinder auffordert, zu Messern und Schusswaffen zu greifen, um den angeblich illegalen zionistischen Apartheitsstaat von der Landkarte zu tilgen?", fragt im Tagesspiegel der Diplompsychologe Louis Lewitan, der vor allem aber die Frage stellt, wo Juden heute noch sicher sind: "Erschrocken wache ich auf und kenne die Antwort: Nicht in Halle, nicht in Paris, nicht in Buenos Aires, nicht in Brüssel. Und dann noch die letzten Wahlergebnisse in Bayern und Hessen? Kants Imperativ geht freiwillig baden, die Wähler geben einer Partei ihre Stimme, die völkisches, antisemitisches Denken gutheißt. Jetzt, wo die AfD sich im Höhenflug befindet, müssen wir Juden wieder die Koffer packen, bevor es in Deutschland mit Anfeindungen in den Parlamenten losgeht? Doch wohin, nicht mal Israel ist heutzutage sicher. Israel, das mir bisher ein Gefühl von Stärke und Sicherheit vermittelte, erlebt gegenwärtig sein 9/11. Es ist ein kollektives Trauma, das in die Geschichtsbücher eingehen wird."

"Die deutsche Islampolitik ist gescheitert", konstatiert in der NZZ die Ethnologin Susanne Schröter mit Blick auf die verdrucksten Reaktionen aus den muslimischen Verbänden: "Weder die Deutsche Islamkonferenz noch andere Kooperationen haben dazu geführt, dass israelfeindliche, antisemitische, demokratie- und menschenfeindliche Ideologien abgenommen hätten. Zu groß war stets die Angst, es sich mit den einflussreichen Verbandsfunktionären zu verderben und als Islamfeind gebrandmarkt zu werden. Statt Probleme anzusprechen, hat man sich von Vertretern des politischen Islam die Agenda diktieren lassen. Ein Symbol dieses Scheiterns ist die Auflösung des Expertenkreises Politischer Islamismus durch die Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) unmittelbar nach ihrem Amtsantritt. Eine andere Kommission, die sich mit Muslimfeindlichkeit befasste, konnte, bestens ausgestattet, weiterarbeiten."

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Die Autorin Sibel Schick will - so auch der Titel ihres neuen Buches - "Weißen Feminismus canceln". Denn der weiße Feminismus konzentriere sich nur auf Sexismus als Diskriminierung, erklärt sie FR-Gespräch mit Cihan Cakmak: "Er vertritt die Interessen einer vermeintlichen 'Normfrau', die weiß, christlich sozialisiert, akademisiert, nicht chronisch krank und nicht arm ist. Dieser Feminismus agiert aber nicht systemkritisch. Das Ziel ist nur, dass die 'Normfrau' von diesem System besser profitiert. Sie soll jenen Männern gleichgestellt werden, die ganz oben in der gesellschaftlichen Hierarchie stehen. Auf dem Weg nach oben beutet sie aber unvermeidbar andere Menschen aus, und diese Ausbeutung gilt dann als 'Kollateralschaden'. Die ausgebeuteten Menschen gelten nach dieser Logik also nicht als Frauen, die es zu vertreten gilt. Frauen, die von Rassismus betroffen sind, trans Frauen und anderweitig mehrfach marginalisierte Frauen werden davon ausgeschlossen, und dieser Ausschluss führt zu direkter Diskriminierung."

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Europa

"Nicht wir Ostdeutschen sind gefährlich, sondern wie über uns geredet wird", findet die im Brandenburgischen aufgewachsene Antje Rávik Strubel in der FAZ. Sie stört vor allem, dass den  Ostdeutschen ihre Erinnerungen ans eigene Leben vergrämt werden: "Die berühmte Madeleine, die halbwegs belesene Menschen gern zitieren, wurde ihnen nie zugestanden. Es sei denn, es ging um den tatsächlich düsteren Schatten der Stasi, in dem allerdings das gesamte vergangene Leben als 'Ballast' galt, der abzuwerfen war."

Außerdem: Bülent Mumay schildert in seiner FAZ-Kolumne die Türkei als Mafia-Staat.
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