9punkt - Die Debattenrundschau

Ein Schatz an potenziellen Revolutionären

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
27.11.2023. Russlands Krieg gegen die Ukraine ist nicht zuletzt der Versuch, das eigene Geschichtsbild mit Bomben durchzusetzen, sagt Maria Stepanova in einer Rede, die die FAZ heute bringt. Im Tagesspiegel träumt Michail Chodorkowski indes von einer russischen parlamentarischen Bundesrepublik nach dem Krieg. Liegt die Zukunft der Palästinenser ausgerechnet in den Händen des 88-jährigen Mahmud Abbas, fragt die NZZ. In der taz erklärt Wilhelm Heitmeyer, wie die multiplen Krisen der Gegenwart den Höhenflug der AfD begünstigen. Und in der FAZ versucht der im Libanon geborene Autor Wajdi Mouawad dem Hass zu trotzen, den die Hamas sät.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.11.2023 finden Sie hier

Europa

"Russlands Krieg gegen die Ukraine ist nicht zuletzt ein Erinnerungskrieg, ein Versuch, mit Panzern und Bomben das eigene Geschichtsbild durchzusetzen", sagte die russische Schriftstellerin Maria Stepanova am 23. Oktober in ihrer Rede zur Verleihung des Berman Literature Preises in Stockholm, die die FAZ heute bringt. "Die Vergangenheit - der Versuch, sie zu kontrollieren, usurpieren, monopolisieren und nach dem eigenen Geschmack umzuschreiben - hat in den Wahlkämpfen und der Gesetzgebung einer ganzen Reihe von Ländern mittlerweile einen festen Platz. Für alle, die den Gedanken an unausweichliche Veränderung, an das Neue nicht ertragen können, ist sie nicht nur ein verlorenes Paradies, sondern auch eine Waffe im Kampf gegen die Zukunft. In der Folge kehren längst obsolet geglaubte Denkweisen zurück und nehmen von Jahr zu Jahr mehr Raum ein. Plötzlich spricht man wieder über inhärente Eigenschaften der verschiedenen Ethnien, über Blut und Boden, das Recht des Stärkeren, die gesunde Nation. Scheinbar moderne Gesellschaften fallen zurück ins frühe zwanzigste Jahrhundert - genauso rasant, wie sie sich einst davon entfernt hatten. Es ist kein Zufall, dass Russlands brutaler Krieg gegen die Ukraine so archaisch wirkt, sowohl hinsichtlich der militärischen Methoden als auch der Ideen, die dahinterstehen."

Putins Regime wird fallen, es sei nur eine Frage der Zeit, versichert Michail Chodorkowski. Im Tagesspiegel entwirft er eine Vision für ein neues, demokratisches Russland, das weder von "lokalen Kriminellen wie Ramsan Kadyrow" noch von einem neuen Zaren regiert wird. Stattdessen schwebt ihm eine geeinte russische Exil-Opposition vor. "Deshalb unterstütze ich die Idee, eine demokratische, parlamentarische Bundesrepublik zu schaffen. Wir brauchen eine von den Regionen Russlands getragene Bündnisstruktur und kein System, in dem ein starker Zar mit seiner Zentralmacht kleine Zaren in der Peripherie ermächtigt. Einer der größten Verluste Putins ist der Exodus vieler der besten und klügsten Köpfe Russlands. Aber unsere Exilanten sind ein Schatz an potenziellen Revolutionären, die - befreit von der Unterdrückung eines Polizeistaates - die Kraft haben, Russland in eine Demokratie zu verwandeln. Deutschland sollte die Entstehung einer Koalition der russischen Opposition konsequent unterstützen, statt dafür zu sorgen, dass verschiedene Kräfte durch den Konkurrenzkampf um finanzielle Unterstützung zersplittert bleiben."

Bevor am kommenden Wochenende das von Sasha Marianna Salzmann und Max Czollek kuratierte Festival "Utopie Osteuropa" im Berliner HKW stattfindet, hat die Berliner Zeitung bei Salzmann nachgefragt, wie sie den "Osten" definiert: "Ich denke …, dass der sogenannte Osten viel aus dem Kollektiv und aus der Gruppe heraus denkt - im Guten (Gemeinschaftssinn und Familienbande sind stärker) wie im Schlechten (die anderen entscheiden mit, was für einen richtig sein soll, und im schlimmsten Fall übernimmt das Denken für einen ein totalitärer Staat)."

Vom Narrativ des Protestwählers hält der Soziologe Wilhelm Heitmeyer nicht viel, unter anderem erklärt er den Höhenflug der AfD im taz-Gespräch als Folge "multipler Krisen": "Wir hatten nach 9/11 eine islamistisch-kulturelle Krise, 2005/06 gab es eine Hartz-IV-Krise, 2008/09 eine Finanz- und Wirtschaftskrise, 2015/16 gab es viele Geflüchtete und sozialkulturelle Verunsicherung. Und dann kam 2019 die Coronakrise. Während die anderen sektorale Krisen waren, war die Pandemie eine systemische Krise. Sie wirkt bis heute nach, wodurch wir jetzt multiple Krisen haben - denn gleichzeitig rückt die Klimakrise uns direkt auf die Pelle und auch die Ukrainekrise ist nah. (…) Krisen zeichnen sich dadurch aus, dass die politischen Routinen der Problembekämpfung nicht mehr funktionieren - schon gar nicht kostenlos und schnell. Vor allem können die eingelebten Zustände vor der Krise nicht wiederhergestellt werden. Daraus entstehen wahrgenommene oder erfahrene Kontrollverluste über die Zukunft. Teile der Bevölkerung haben das Gefühl, dass man die eigene Zukunft und den eigenen Status nicht beeinflussen kann. Viele fürchten Wohlstandsverluste und die Selbstwirksamkeit nimmt ab. Hier setzt die AfD an mit ihrer Parole der Wiederherstellung von Kontrolle."

"Armut und soziale Ungleichheit sind das Kardinalproblem unseres Landes, wenn nicht der ganzen Menschheit, denn aus ihnen resultieren ökonomische Krisen, ökologische Katastrophen sowie Kriege und Bürgerkriege", meint hingegen der Armutsforscher Christoph Butterwege, der in der SZ davor warnt, dass die Armut hierzulande eine neue Dimension erreicht: "Die soziale Ungleichheit ist Gift für die Demokratie, und zwar aus drei Gründen: Erstens beteiligen sich Armutsbetroffene immer weniger an Wahlen, die für das parlamentarische Repräsentativsystem konstitutiv und sein niedrigstschwelliges politisches Partizipationsangebot sind. Zweitens verlieren manche Angehörige der (unteren) Mittelschicht, die armutsbedroht sind oder besonders in Krisensituationen große Angst vor dem sozialen Abstieg oder Absturz haben, das Vertrauen in das politische Parteiensystem, was den Aufstieg eher ganz rechter, rechtspopulistischer oder rechtsextremer Organisationen begünstigt. Schließlich konzentrieren sich das Kapital und der Medienbesitz immer stärker bei wenigen Hochvermögenden, deren Machtgewinn es ihnen ermöglicht, staatliche Entscheidungen in ihrem Sinne zu beeinflussen."
Archiv: Europa

Politik

Die israelische Gesellschaft setzt die Regierung unter Druck, alle Geiseln zu befreien, berichtet Richard C. Schneider auf SpiegelOnline. Zugleich drängt eine Mehrheit der Menschen darauf, den Krieg gegen die Hamas fortzuführen: "Für die überwältigende Mehrheit der Israelis ist … klar, dass dieser 'schwarze Schabbat' an die schlimmsten Momente jüdischer Verfolgung vor der Entstehung des Staates Israel anknüpft - und sich ausgerechnet im jüdischen Staat wiederholt hat. Staat und Armee müssen aus ihrer Sicht also weiterkämpfen, um das Überleben des jüdischen Volkes zu garantieren. So wird das in Israel von der Mehrheit der Menschen empfunden, daran ändern westliche Relativierungen oder der Hinweis auf das Leid der Palästinenser nichts. Schon die israelische Premierministerin Golda Meir sagte vor rund fünfzig Jahren: 'Wenn wir vor der Wahl stehen, tot zu sein und bemitleidet zu werden oder am Leben zu sein und ein schlechtes Image zu haben, sind wir lieber am Leben und haben das schlechte Image.' Für die meisten Israelis gilt das heute mehr denn je."

Er habe von früh an gelernt, alles zu verabscheuen, was nicht zu seinem "Clan" gehört, schreibt der in einer Familie maronitischer Christen im Libanon geborene Autor Wajdi Mouawad in einem aus Liberation übernommenen FAZ-Artikel, in dem erzählt wird, wie er dem Hass, den die Hamas sät, trotzt: "In Zeiten, in der die Bilder aus Gaza in all ihrer Brutalität zu uns gelangen, wo die Toten in die Tausende gehen, in Zeiten, wo die Besiedelung des Westjordanlandes weitergeht, wo unmenschliche Absichten, geäußert von Rechtsextremen schlimmster Art, eine Stimme in einer offen rassistischen israelischen Regierung haben, für die militärische Gewalt die einzig mögliche Antwort ist, in Zeiten, wo Kräfte von irrem Obskurantismus auf beiden Seiten daran arbeiten, noch die geringste Hoffnung zu verhindern, wo das Mitgefühl sich den palästinensischen Zivilisten zuwendet, wo aber die Erinnerung an die israelischen Opfer aus dem Oktober im Begriff steht zu verwässern, da ist es lebensnotwendig, die Falle zu sehen, in welche die Hamas uns treibt, indem sie die Pflanze Abscheu düngt und gießt und überall den Antisemitismus zum Blühen bringt. Zweitausend Jahre Christentum, in denen ein Teil der Propaganda darin bestand, zu wiederholen, die Juden hätten Jesus ermordet, haben uns zu einem guten Nährboden gemacht."

Liegt die Zukunft der Palästinenser ausgerechnet in den Händen des 88-jährigen Mahmud Abbas, fragt Rewert Hoffer, der in der NZZ den Werdegang des Palästinenserpräsidenten nachzeichnet. Dieser sei damals mit der Hoffnung auf einen Neuanfang vom Westen als Nachfolger Arafats begrüßt worden, hat sich seit 2007 aber keiner Wahl mehr gestellt: "Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2021 stimmten über die Hälfte der Palästinenser der Aussage zu, dass die Hamas es verdiene, für sie zu sprechen. Nur 13 Prozent sagten das Gleiche über die Fatah." Wer auf Abbas folgen soll, sei indes unklar: "Der Gazakrieg ist die letzte Chance des gescheiterten Palästinenserpräsidenten. Dass die Autonomiebehörde und damit Abbas die Macht in Gaza nach Kriegsende übernimmt, ist die derzeit realistischste Option - auch wenn er dort kaum mit Freude empfangen werden würde. Der greise Abbas könnte jeden Augenblick sterben, und keiner weiß, wer auf ihn folgt. Aus Angst vor einem Machtverlust hat er keinen Nachfolger aufgebaut. Auch bürgerkriegsähnliche Zustände seien nach seinem Tod nicht auszuschließen, sind sich fast alle palästinensischen und westlichen Experten einig."

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Im taz-Gespräch erklärt der nigerianische Autor Dipo Faloyin, dessen Buch "Afrika ist kein Land" vor kurzem erschienen ist, unter anderem weshalb aus den Sahelstaaten zunehmend Kritik an Frankreich laut wird, während aus Nigeria wenig Kritik zu hören ist: "Die Situation ist eine andere. Nach dem Ende der Kolonialzeit hat Frankreich versucht, seinen Einfluss in der Region weiter auszuüben, wogegen sich einstige Kolonien heute auflehnen. Das hat zu einer unterkühlten und seltsamen Beziehung geführt, wofür Frankreich die Verantwortung übernehmen muss. Die Probleme und Herausforderungen in der Region bleiben. Darum müssen sich nun die Verantwortlichen vor Ort und die Bevölkerung kümmern. Sie haben klargemacht, dass Frankreich sich nicht einmischen soll, was ihr gutes Recht ist. Jetzt müssen sie die Nationen so gestalten, wie sie es für richtig halten."

Die Organisation Black Lives Matter ist auch antisemitisch, stellt Lucien Scherrer wenig überrascht in der NZZ fest. Dies sei schon seit ihrer Gründung klar: "Bereits im Sommer 2020, als die BLM-Proteste nach dem Polizeimord an George Floyd eskalierten, zerstörten Randalierer in Los Angeles jüdische Geschäfte. Synagogen wurden mit Parolen wie 'Free Palestine!' und 'Fuck Israel' beschmiert." Dabei werden Juden als weiße Ausbeuter gesehen. "Das Bild vom ausbeuterischen Juden lebt bis heute in Teilen der BLM-Bewegung weiter; ihr zugetane Rapper wie Ice Cube verbreiten es, indem sie den Judenhasser Louis Farrakhan feiern oder Karikaturen von jüdischen Geschäftsleuten posten, die Schwarze ausbeuten. Nach dem Massaker vom 7. Oktober erklärte ein BLM-Sprecher in Philadelphia, dieselben Leute, 'die unsere Gemeinden gentrifizieren', würden in Palästina Land stehlen und 'beschissene Siedlungen' errichten."

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Ideen

Die Idee des Zionismus, die maßgeblich auf Theodor Herzl zurückgeht, wird des Öfteren von politischen Hardlinern in Israel missbraucht, schreibt Paul Jandl in der NZZ. "Mit dem Phantasten allerdings, der so kühn war, die Gründung Israels als eine Art Volksfest zu imaginieren, bei dem sich die Juden und die arabisch-muslimische Welt in die Arme fallen, ist heute kein Staat mehr zu machen", so Jandl. Dieser träumte in seinem Roman von dem friedlichen Zusammenleben aller Kulturen: "Für den Feuilletonjournalisten Theodor Herzl gab es einen fiebrigen kulturellen Traum, der schwer mit dem jetzigen politischen Wachzustand des Nahen Ostens in Verbindung zu bringen ist. Seine naiven Visionen am Übergang zum 20. Jahrhundert gingen weit über die Idee politischer Landkarten hinaus. Sein neues altes Land sollte in der 'Cultur ein Wunderland' sein, das man besucht wie Lourdes, Mekka oder das chassidisch-bukowinische Sadigura. 'Neu Judäa soll nur durch den Geist herrschen', hat Theodor Herzl geschrieben und sich eine entmilitarisierte Zone gewünscht, in der alle Menschen in Frieden leben."

Auf geschichtedergegenwart.ch zeichnet der Historiker Felix Schürmann die Begriffsgeschichte des Wortes "Clan" nach. Heutzutage wird der Begriff besonders für kriminelle Strukturen benutzt, was meist unpassend und falsch sei. "Die geballten Probleme werfen die Frage auf, ob es sich überhaupt lohnt, am Clan-Begriff festzuhalten. Eine abwägende Antwort lautet: Ja - sofern man ihn als Modell begreift und nicht mehr von ihm erwartet, als er leisten kann. Ein Modell reduziert die Komplexität der Wirklichkeit, um ihre Grundzüge greifbar zu machen. Weil Modell und Wirklichkeit nicht identisch sein können, verhält es sich mit keinem Clan exakt so, wie Theorien Clans beschreiben. So verstanden kann der Clan-Begriff durchaus helfen, sich in den komplexen Landschaften sozialer Verwandtschaften, Zugehörigkeiten und Affinitäten zu orientieren. Doch je näher in eine solche Landschaft hineingezoomt wird, desto stärker greifen die Vorteile kontextspezifischer Eigenbezeichnungen. Wie man verwandt sein kann, das lässt sich aus der Binnensicht einer Gesellschaft besser verstehen als mit einem universalistischen Dachkonzept."
Archiv: Ideen
Stichwörter: Zionismus, Gründung Israels

Medien

Völlig absurd findet es Steffen Grimberg in der taz, dass die BBC ihren Mitarbeitern untersagt hat, an einer Demo gegen Antisemitismus teilzunehmen. Wer in den "factual journalism"-Redaktionen der BBC arbeitet, "sollte nicht an öffentlichen Demonstrationen oder Zusammentreffen zu kontroversen Themen teilnehmen", heißt es in den Leitlinen, so Grimberg: Aber eine Demonstration gegen Antisemitismus als "Kontroverse" einzustufen erweise der Sachen einen "Bär*innendienst: "Die ganze Mär vom unpolitischen oder neutralen Journalismus ist ohnehin überholt (falls sie überhaupt je gestimmt hat). Gerade die Zeiten, in denen Populist*innen und Demagog*innen aller Couleur die Errungenschaften der Aufklärung wieder einreißen wollen, verlangen klare, transparente Kante. Journalist*innen sollten ihre Position offenlegen und gleichzeitig fair und ausgewogen arbeiten. Die Trennung von Bericht und Meinung hilft da schon eine ganze Menge weiter. So zu tun, als stehe man außen oder über den Dingen, ist Quatsch. Wer das von sich behauptet, ist jedenfalls keinE Journalist*in. Was vor allem in den USA namhafte Medienmenschen nicht daran hindert, sogar zu postulieren, Journalist*innen sollten besser gar nicht erst wählen gehen."

Im Tagesspiegel-Interview mit Jana Ballweber spricht die Kommunikationswissenschaftlerin Elke Grittmann über die mediale Darstellung von Geschlechterrollen und erklärt, wie Stereotype durchbrochen werden können. "Was die Quantität betrifft, mag die Darstellung und Realität in einer gewissen wechselseitigen Beziehung stehen, das sieht man am zunehmenden Anteil von Frauen in der Berichterstattung. Es gibt mehr Frauen, die in der Gesellschaft ganz unterschiedliche Rollen übernehmen, die nicht auf das Private reduziert werden wollen und dann auch nicht so dargestellt werden. Emanzipation und Gleichberechtigung in der Gesellschaft wird auch in die Redaktionen getragen, das wirkt sich auch auf die Geschlechterbilder in den Medien aus. Die konkrete Darstellung von Männern und Frauen trägt mit zu Vorstellungen gesellschaftlicher Geschlechterordnung bei, die wiederum der Orientierung dienen. Wir werden in Bildern ständig damit konfrontiert, wie Männer und Frauen 'sind', was sie tun und wie sie zu sein haben. Gleichzeitig sollten wir diese heteronormative Darstellung hinterfragen, über andere Geschlechtsidentitäten haben wir dabei noch gar nicht gesprochen."
Archiv: Medien