9punkt - Die Debattenrundschau

Für Betroffene da sein, Nazis besuchen, whatever

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.12.2023. Die taz erzählt, wie Dänemark mit Zwangsumsiedlungen seine Einwandererghettos auflösen will. Die FAZ erzählt von russischen Soldatenehefrauen, die ihre Männer von der Front zurückfordern. In der NZZ unterhalten sich Mirna Funk und Abdul Kader Chahin über Antisemitismus in Deutschland und die westliche Sympathie für Palästinenser, die sofort endet, wenn diese von anderen als von Israelis getötet werden. Im Tagesspiegel erklärt der Historiker Konstantin Sakkas, was der Einsatz "menschlicher Schutzschilde" im Krieg völkerrechtlich bedeutet. Und in der taz erklärt die kenianische Klimaaktivistin Dianah Mugalizi, warum afrikanische Frauen in der Klimapolitik so wenig mitmischen: Sie arbeiten zwar auf dem Land, besitzen es aber nicht.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.12.2023 finden Sie hier

Europa

Dänemark will soziale Brennpunkte und Ghettos von Einwanderern unter anderem durch Zwangsumsiedlungen auflösen, berichtet Reinhard Wolff in der taz. Das betrifft Wohngebiete mit einem Bevölkerungsanteil von mehr als 50 Prozent "nicht-westlicher Einwanderer und ihrer Nachkommen". Dagegen gibt es viel Protest, selbst bei denjenigen, die eine bessere Durchmischung der dänischen Gesellschaft eigentlich wünschenswert fänden: "'Die Beschreibungen der Wohngebiete in Form quantitativer Daten birgt die Gefahr, dass die Vielfalt der Wohngebiete aus dem Blickfeld gerät', kritisiert [die Bau- und Wohnforscherin Mette Mechlenborg von der Universität Aalborg]. Deren negativer medialer Ruf entspreche oft gar nicht dem Alltagsleben, das die BewohnerInnen selbst empfinden. Begriffe wie Ghettos und Parallelgesellschaften trügen nur zu weiterer Stigmatisierung bei. Damit es gelinge, sozial gemischtere Wohnviertel zu schaffen, wäre es viel wichtiger, 'an der Reputation der exponierten Wohngebiete zu arbeiten'. Völlig ungeklärt sei auch, wie sich die Lebenssituation der BewohnerInnen gestalten werde, die man einfach umsiedle. Ohne ein Konzept für diese zwangsumgesiedelten Menschen zu haben, könne ein solches Programm der Segregation nicht entgegenwirken, meint Emma Holmqvist, Forscherin für Kulturgeografie an der Universität Uppsala."

In Russland setzen sich zunehmend Soldatenfrauen und -mütter für eine Rückkehr ihrer Männer von der Front ein. Putin gefällt das gar nicht, erzählt Irina Rastorgujewa in der FAZ. "Die Behörden versuchen sie zu ignorieren, zu kaufen, einzuschüchtern, oder sie werfen ihnen prowestliche Propaganda vor." Genützt hat es bisher offenbar nicht viel: "Im November erreichte die Unzufriedenheit der Frauen eine kritische Grenze. Am 7. November, dem Tag der nationalen Einheit, hielten sie eine Kundgebung auf dem Roten Platz ab und forderten die Rückkehr der Männer. Sie stellten sich neben die Kommunisten, die soziale Gerechtigkeit forderten. Die Verehrer des toten Lenin bekamen es mit der Angst und sagten, Gerechtigkeit gelte nur für diejenigen, für die sie notwendig sei, nicht für die Mobilisierten. Von außen sah alles nach Zirkus aus, wie eine Rekonstruktion der Sowjetzeit: Rote Sterne, junge Männer und Frauen in Militäruniformen, Kommunisten mit Hammer und Sichel auf den Fahnen, eine Menschenmenge am Mausoleum, Frauen mit Plakaten: 'Gerechtigkeit für die Mobilisierten - Demobilisierung'. Die Polizei trieb die Frauen auseinander, nahm aber niemanden fest."

Die NZZ hat den deutsch-palästinensische Comedian Abdul Kader Chahin und die jüdische Autorin Mirna Funk zum Gespräch über Antisemitismus in Deutschland geladen. Chahin, der Präventionsarbeit gegen Antisemitismus unter Muslimen leistet, erklärt: "Bei den Jugendlichen gibt es eine gewisse Toleranz für Extremismus. Aber sie sind nicht extremistisch. Unter den jungen Leuten in der Diaspora hat sich ein großer Frust aufgebaut. Sie fühlen sich nicht verstanden, nicht repräsentiert, und sie werden diskriminiert. Das führen sie auf die Nakba zurück. Das Gefühl, ausgeschlossen zu sein, ist der Nährboden, auf dem Extremismus gedeihen kann." Funk ist vor allem angewidert von Nicht-Muslimen, die "nur dann auf die Straße gehen, wenn Juden am Tod von Palästinensern beteiligt sind. (…) Als während des Bürgerkriegs in Syrien rund 4000 Palästinenser ermordet wurden, gab es keinen einzigen propalästinensischen Aufschrei aus der woken Ecke. Die Tatsache, dass über tausend Raketen von der Hamas und dem Islamischen Jihad in Gaza landen und zu Tod und Zerstörung führen, interessiert niemanden. Die Situation der Palästinenser in Libanon ist seit Jahrzehnten katastrophal. (…) Wir müssen uns die unangenehme Frage stellen, ob wir überhaupt von einer 'propalästinensischen' Position sprechen können, wenn es für Palästinenser außerhalb Israels keinen Funken Solidarität gibt."

Der italienische Soziologe Francesco Marolla hat zur Frage "Warum unterstützen Europäer den Populismus geforscht". Viele Bürger können, "unabhängig von ihrer materiellen Lage, mit den Normen und Werten, die von den Mitte-Parteien vertreten werden, nichts mehr anfangen", erklärt er im SZ-Gespräch: "Die soziale Identität, die früher Institutionen wie Gewerkschaften oder eben auch die Mitte-Parteien herstellten, ist schwächer geworden. In Italien spielten die traditionellen Parteien immer eine sehr wichtige Rolle bei der Hinführung der Bürger zur Politik. Das gibt es so gut wie nicht mehr, höchstens noch ein wenig bei Mitte-links, aber längst nicht im Ausmaß wie noch in den achtziger Jahren. Viele Wähler suchen eine soziale Identität, es gibt einen großen Markt dafür."

Die deutsche Erinnerungskultur sei "zu einer Legitimationsfolie geworden, die eigene politische Agenda zu rechtfertigen", wiederholt der Autor Max Czollek die These seines Buches "Versöhnungstheater" im FR-Gespräch, in dem er etwa der SPD vorwirft, wieder einen "militärischen Führungsanspruch" der Deutschen zu erheben. Auch der Aufstieg der AfD werde heruntergespielt, meint er: Man muss nicht sagen, "sie wäre eine Nazipartei, es genügt doch schon, dass sie an bestimmte völkische Denkweisen und Ideen von Hierarchie und Homogenität anknüpft, an Traditionen also, von denen wir im Rahmen der deutschen Erinnerungserzählung eigentlich behaupten, dass wir das überwunden hätten."
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Ideen

In der taz hat Lotte Laloire die Nase voll von halbgaren, taktierenden Aussagen zum 7. Oktober und seinen Folgen. Warum nicht einfach mal die Klappe halten, wenn man nichts Substanzielles zur Sache zu sagen hat? "Ein Diskurs mündiger Menschen setzt eben nicht nur voraus, dass sie sprechen dürfen, sondern auch, dass sie etwas zu sagen haben. ... Gingen Bekennerschreiben früher nicht mal Aktionen voraus? Ja, Terror und Krieg lähmen. Und niemand kann zaubern. Das Dilemma 'Nie wieder Krieg' oder 'Nie wieder Auschwitz' ist für viele real. Aber würde all die Energie statt in bedeutungslose Statements ins Lesen, Denken, Handeln fließen, wären zumindest kleine Verbesserungen möglich. Für Betroffene da sein, Nazis besuchen, whatever. Warum besetzen Linke nicht weltweit ägyptische Botschaften, bis der Grenzübergang in Rafah geöffnet wird, damit Zivilist*innen aus Gaza flüchten können?"

Vergangene Woche hatte unter anderem der Philosoph Leander Scholz in der Welt einen Abgesang auf den Universalismus angestimmt und geschrieben, die Welt unterteile sich heute in den Globalen Norden und den Globalen Süden, der Westen werde lernen müssen, "mit geringeren Ansprüchen an eine internationale Ordnung auszukommen". (Unser Resümee) Heute widerspricht ihm Alan Posener, ebenfalls in der Welt: "Das hätte die Hamas gern. Und die Mullahs in Teheran und Kabul, die Führung in Peking und manche rechten Identitären und linken Postkolonialisten. Dem ist aber nicht so. Israels Überleben beweist, dass es nicht darauf ankommt, wo die meisten Menschen leben, sondern auf das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche System. Die Migration nach Europa und in die USA zeigt die Attraktivität dieses Systems. Die Menschen im 'Globalen Süden' sind nicht durch 'tiefe kulturelle Gräben' von uns getrennt: auch sie wollen gut leben, ihren Familien Sicherheit und ihren Kindern Bildung und Aufstieg ermöglichen, sie wollen dort leben, wo, wenn es morgens klingelt, Amazon vor der Tür steht, nicht die Geheimpolizei. Der 'Globale Süden' ist eben nur eine Konstruktion."
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Gesellschaft

In der FAZ stellt Kira Kramer das Visual History Archive vor, auf dem nicht nur Opfer der Schoa sondern auch Überlebende des Massakers vom 7. Oktober vom Überfall der Hamas berichten. Das ist oft schwer auszuhalten, aber man sollte dennoch zuhören, erklärt sie: Denn plötzlich sieht man "das Gesicht derer, die mittendrin waren, als der Krieg gegen Israel begann, hört ihre Stimme und ihre ganz persönliche Geschichte - und all die Abstraktion und Distanz kollabiert im Sekundenbruchteil. Man sitzt da, noch immer Hunderte Kilometer entfernt vom Krieg, aber ist plötzlich sehr nah dran, denn die blanke Angst, die ein solcher Krieg bedeutet, wird unmittelbar greifbar. In einem solchen Moment wird deutlich, wie wichtig es ist, nicht nur von Opferzahlen und Feuerpausen und freigelassenen Geiseln zu sprechen, sondern auch nach Wochen noch von Menschen wie Maor Moravia, der sich mit seiner Frau und seinen beiden Kindern am 7. Oktober in seinem Haus im Kibbuz Kfar Aza verschanzte, als die Terroristen kamen."
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Stichwörter: Hamas, 7. Oktober

Politik

In einer Reportage für die FAZ schildert Ira Peter Gründe für den aserbaidschanisch-armenischen Konflikt, von denen man sonst wenig liest. Es geht nicht nur um ethnische Zwietracht, sondern ganz handfest auch um Wasser, lesen wir. "Vor dem 44-Tage-Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien im Herbst 2020 erlebte Aserbaidschan nämlich eine schwere Wasserkrise. Im Sommer war der Wasserstand des Flusses Kura, der aus der Türkei über Georgien nach Aserbaidschan fließt, um dramatische zweieinhalb Meter gesunken. Das führte dazu, dass Meerwasser aus dem Kaspischen Meer landeinwärts und flussaufwärts floss. Zeitgleich sank der Pegel des größten Stausees Aserbaidschans um sechzehn Meter. Dies wirkte sich schwerwiegend auf die Versorgung mit Trinkwasser und die Landwirtschaft im Land aus. Bergkarabach hingegen ist reich an Wasserressourcen."

In Afrika können Frauen gegen den Klimawandel wenig ausrichten, leider, meint die kenianische Aktivistin Dianah Mugalizi am Rande der internationalen Klimakonferenz COP28 im Interview mit der taz. "Frauen haben kaum Landrechte. Traditionell war Land immer im Besitz von Männern, und leider ist das immer noch so. Grundstücke werden seit Generationen - und bis heute - von Vätern an ihre Söhne vererbt. Dadurch gibt es einfach kein Land für Frauen. Wir sind immer nur die, die das Land bestellen, nie die Besitzerinnen. Die einzige Möglichkeit, in den Besitz von Land zu kommen, ist durch Heirat." Mugalizi wünscht sich mehr Plattformen für Frauen, "auf denen wir uns vernetzen und weiterbilden können" und einen Schuldenschnitt für die Entwicklungsländer.

In der FR skizziert der Volkswirtschaftswissenschaftler Heinz Welsch verschiedene Dilemmata rund um den Klimaschutz und kommt zu dem ernüchternden Schluss: "Die klimapolitische Situation stellt sich … so dar, dass, erstens, die nationalen Selbstverpflichtungen nicht ausreichen, um das Ziel des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, und, zweitens, die ergriffenen oder beschlossenen Maßnahmen hinter den Selbstverpflichtungen zurück bleiben - nicht nur in Deutschland, sondern in praktisch allen relevanten Ländern. Darüber hinaus erscheint - perspektivisch - eine anspruchsvollere Klima-Außen- und -Innenpolitik in Anbetracht äußerer Konflikte und innerer Spannungen wenig aussichtsreich, zumal, wenn sie von den Öl und Gas exportierenden Ländern hintertrieben wird."

Israel ist in der Hand der Hamas und muss, solange die Terroristen über hundert Geiseln halten, mit ihr verhandeln wie einst die Judenräte mit den Nazis, schreibt Bernard-Henri Lévy in seiner jüngsten Kolumne auf La Règle du Jeu. Zornig wendet er sich an die Ministerpräsidenten von Spanien und Belgien, die sich im Moment des ersten Austauschs von Geiseln und Gefangenen an die Presse wandten, um Israel zu attackieren: "Wer Israel der 'unverhältnismäßigen' Bombardierung beschuldigt, vergisst ganz nebenbei, uns zu sagen, was sie an seiner Stelle tun würden. Ein Toter ist ein Toter, ich wiederhole es zum x-ten Mal. Und jeder Tod ist ein Skandal, den es zu verhindern gilt, immer und immer wieder. Aber haben Sie eine Idee, eine einzige Idee, wenn Barcelona oder Brüssel das Ziel eines Angriffs wären, der von Ihrer Grenze aus von neuen Viva la muerte-Kämpfern gestartet würde, um das 'richtige Verhältnis' zu erreichen? Bisher hat man noch keine Strategie, Taktik oder Alternative gehört."

Dass der Einsatz "menschlicher Schutzschilde" völkerrechtlich verboten ist, dürfte wenig überraschen. Aber auch "eine Freiwilligkeit der human shields ist bei der strafrechtlichen Beurteilung grundsätzlich unerheblich", erklärt der Historiker Konstantin Sakkas im Tagesspiegel: "Bei einem Teil der palästinensischen Zivilbevölkerung wird angenommen, dass er, auch aufgrund entsprechender Indoktrination, sich der Hamas freiwillig verfügbar macht. Aber auch ihre Freiwilligkeit macht human shields nicht zu legitimen Zielen, die straffrei bekämpft werden dürften", lernt Sakkas von dem Völkerrechtler Florian Jeßberger. Allerdings, fügt Jeßberger hinzu, werde es hier 'auf den Einzelfall ankommen'."

Guy Shalev, Direktor der NGO Physicians for Human Rights Israel, weist im Interview mit der taz alle Vorwürfe zurück, Internationale Organisationen wie die Uno oder das Rote Kreuz oder seine Organisation hätten sich nicht für die Vergewaltigungen der Hamas und deren Opfer interessiert. Israel hatte sich allerdings auch gegen eine Untersuchung durch die Vereinten Nationen gestellt, da sie diese für voreingenommen hält. "Israels Weigerung hat in meinen Augen weniger mit der Voreingenommenheit der UNO zu tun, sondern eher mit Bedenken gegenüber internationalen Ermittlungen zu israelischen Verbrechen", ist Shalev überzeugt.

Außerdem: Günther Jikeli, Professor für Jüdische Studien an der Indiana University Bloomington, beschreibt in der taz die oft antisemitischen Proteste gegen Israel an amerikanischen Eliteuniversitäten. Er erkennt darin zum einen Grundzüge der "antizionistischen Propagandakampagne der Sowjetunion zwischen 1967 und ca. 1988" wieder. Und er macht den "milliardenschweren Einfluss arabischer Investoren" auf die Nahoststudien verantwortlich.
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