9punkt - Die Debattenrundschau

Außerhalb des Blickfelds zu den Ahnen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.01.2024. Zeitenwende? Hat die SPD offenbar schon wieder vergessen, meint der Historiker Martin Schulze Wessel in der FAZ. Die SZ verneigt sich vor ihren neuen Ahnen im Grassi-Museum. Auf ZeitOnline sucht die Historikerin Juliane Fürst nach Analogien zwischen der Ukraine und Israel. Am Autoritarismus der arabischen Staaten ist der Konflikt mit Israel Schuld, glaubt der ägyptisch-australische Soziologe Amro Ali auf SpiegelOnline. Der Perlentaucher wünscht allen Leserinnen und Lesern ein Frohes neues Jahr!
Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.01.2024 finden Sie hier

Europa

Zeitenwende? Ach was, während die Ukraine langsam ausblutet (siehe dazu die taz über die jüngsten Bombardements ukrainischer Städte), fällt die SPD Russland gegenüber wieder in die alten Muster zurück, fürchtet der Historiker Martin Schulze Wessel in der FAZ. "Nicht die entschiedene Verteidigung der Unabhängigkeit der Ukraine, sondern Kriegseinhegung ist offenbar das Ziel. Dabei gerät aus dem Blick, woran die russische Staatspropaganda unverhohlen fast täglich erinnert: dass der Kreml keineswegs begrenzte Ziele verfolgt, sondern die Existenz der Ukraine und die westliche Sicherheitsarchitektur insgesamt bekämpft. Die deutsche Politik verdrängt, was man nicht übersehen kann, wenn man mit einem historischen Bewusstsein für die autokratischen und totalitären Bedrohungen des zwanzigsten Jahrhunderts ausgestattet ist: dass der großen Gefahr nur durch eine ebenso große Anstrengung auf westlicher Seite zu begegnen ist. Stattdessen blickt die deutsche Politik der Einhegung mit einem Auge nach Moskau, dessen Eskalation sie fürchtet. Unmerklich driftet die Politik wieder in Politikmuster zurück, die vor der Zeitenwende gültig waren."
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Politik

Die Ukraine ist bis 2022 nicht unbedingt als Freund Israels aufgetreten, seit Kriegsbeginn in der Ukraine gibt es aber eine hohe Identifikation mit Israel, sagt die Historikerin Juliane Fürst, die im ZeitOnline-Interview auf Analogien zwischen beiden Ländern aufmerksam macht: "Im Gründungsgedanken Israels schwang der Auftrag mit, dass Juden nicht mehr nur Opfer sind. Auch die Ukraine baut ihre derzeitige Identität auf ihrer Wehrhaftigkeit auf. Die ukrainische Geschichte, vor allem in ihrer derzeitig propagierten Form, ist voller Leiden und Unterdrückung. Die Gegenwart aber wird vom Widerstand geprägt. Das war auch lange das Selbstverständnis des israelischen Staates. Angesichts der langen Jahre des gewaltsamen Konfliktes mit den Palästinensern und der hohen Opferzahlen im Gazastreifen jetzt stellt sich aber für viele die Frage, inwieweit Widerstand inzwischen Aggression ist. Sollte die Ukraine siegreich sein, muss auch sie sich bald solchen Fragen stellen, vor allem wenn es um die Aufarbeitung von Kollaboration in den besetzten Gebieten geht. Die Opferrolle ist politisch gesehen die einfachere. Was allerdings außer Frage stehen sollte, ist, dass Gewalt gegen Zivilisten, inklusive der sexuellen Gewalt gegen Frauen, immer und überall verurteilt werden muss. Das Schweigen über und das Abwiegeln von Vergewaltigungen, die an israelischen Frauen am 7. Oktober begangen wurden, ist eine Schande. Hier haben sich mehrere linke Kommentatoren und sogar Teile der UN diskreditiert."

Monatelange protestierten Hundertausende Israelis gegen die Justizreform der Regierung Netanjahu. Jetzt wurde sie vom Obersten Gericht Israels in ihrer Meinung bestätigt: Die Justizreform ist gekippt, meldet Spon. "Als Begründung hieß es in dem Urteil, die Gesetzesänderung hätte 'den Kerneigenschaften des Staates Israel als demokratischem Staat schweren und beispiellosen Schaden zugefügt'." Könnten diese Israelis nicht ein Vorbild sein für arabische Demokraten im allgemeinen und palästinensische im besonderen? Das sieht Amro Ali, ebenfalls in Spon, ganz anders. Der ägyptisch-australische Soziologe gibt dem Konflikt mit Israel die Schuld am Autoritarismus der arabischen Staaten: "Er trug in den späten 1940er- und 1950er-Jahren zur Zerstörung der zerbrechlichen demokratischen Experimente in Ägypten, Syrien oder dem Irak bei, und brachte die herrschenden Militärklassen hervor, die ihre Macht unter dem Vorwand der Verteidigung der Araber gegen die israelische Aggression ausbauten. Die ägyptische Offiziersrepublik entstand 1952 als indirekte Folge des arabisch-israelischen Krieges von 1948. Umgekehrt waren die Protestbewegungen des Arabischen Frühlings 2011 auch inspiriert von palästinensischen Volksaufständen. Die aktuellen propalästinensischen Proteste in den arabischen Ländern vermischen sich manchmal auch mit anderen Forderungen, wie einem Ende der Korruption der eigenen Regime - weshalb die arabischen Regimes solche Proteste nicht gern sehen. In gewissem Sinne ist die palästinensische Freiheit ein Gegenmittel gegen arabische Unfreiheit."

Der iranische Menschenrechtsaktivist Kayvan Samadi war im Iran sechs Mal inhaftiert worden, bevor er nach Deutschland fliehen konnte. Im Interview mit der taz erzählt er von einem "Geheimgefängnis", in dem er monatelang festgehalten und misshandelt wurde. Dort "haben sie mich so gefoltert, wie sie es wollten. Warum? Weil du nicht mal weißt, wen du nach deiner Freilassung für die Folter zur Rechenschaft ziehen kannst. Bis zu dem Tag, an dem sie mir das Geständnisformular hingelegt hatten, wusste ich nicht mal, mit welchem Organ [Revolutionsgarde, Geheimdienstministerium oder Polizei; Anm. d. taz-Red.] ich es zu tun hatte. Außerdem wusste ich nicht, wo ich war." Auch seine Familie wusste es nicht. "Das ist eine Präventivmaßnahme für die Zukunft. Die Familien sollen dich nach deiner Freilassung davon abhalten, aktiv zu sein, aufgrund der Qualen, die sie während deiner Gefangenschaft erlitten haben. Eine weitere Folter ist die Unwissenheit, die du als Gefangener über deine Familie hast. Du fragst dich, was deiner Familie passiert ist. Wie geht es meiner Mutter? Was ist mit meinem Bruder passiert? Nicht, dass sie meinen Vater wegen mir verhaften! Es soll die Gefangenen brechen."

Laut Prognosen wird die katholische Kirche in Brasilien ihre Vormachtstellung bis 2030 an die überwiegend erzkonservativen evangelikalen Kirchen verlieren, schreibt Tobias Käufer in der Welt: "Die galten bislang als Unterstützer des Rechtsaußen und Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro und damit als so etwas wie politische Schmuddelkinder. Brasiliens amtierender Staatspräsident Lula da Silva ist ein enger Freund des linksgerichteten Befreiungstheologen Leonardo Boff und von Papst Franziskus, der volkswirtschaftlich eher links steht. Doch angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen beginnt der Linkspopulist Lula die Pferde zu wechseln. Er sieht, dass eine nach links gerückte katholische Kirche an Einfluss verliert und die eher rechten evangelikalen Kirchen immer mächtiger werden. Folgerichtig schickte Lula jüngst seinen Sozialminister Wellington Dias zu einem Treffen mit Vertretern der evangelikalen Kirchen. Im Gepäck hatte dieser laut O Globo ein verlockendes Angebot: staatliche Kofinanzierung für den Aufbau von Suppenküchen oder sozialen Projekten. So etwas war bislang weitgehend ein Alleinstellungsmerkmal der katholischen Kirche."
Archiv: Politik

Kulturpolitik

Vorbildlich findet Jörg Häntzschel in der SZ die Arbeit des Leipziger Grassi-Museums, das unter Leitung von Leontine Meijer-van-Mensch nicht nur für die Restitution menschlicher Überreste aus kolonialen Kontexten eintritt: "Grundidee besteht darin, nach der Dehumanisierung der Toten in den Händen von Kolonialsoldaten, skrupellosen Händlern und Museumsleuten nun alles für deren 'Rehumanisierung' zu tun. 'Für uns sind diese Überreste keine Objekte mehr, sondern Subjekte', sagt Meijer-van Mensch. Menschliche Überreste sind daher immer getrennt von den Museumsobjekten und in einem geschlossenen Teil des Depots zu lagern: 'Es ist ein Friedhof im Kontext des Museums'. Und statt von 'Überresten' spricht man im Grassi-Museum von 'Ahnen'. Sie dürfen nicht fotografiert, nicht vermessen und Informationen zu ihnen nicht online gestellt werden. Die Mitarbeiter sollen alles tun, um die Ahnen in Ruhe zu lassen, das heißt auch, möglichst 'außerhalb des Blickfelds zu den Ahnen' zu arbeiten."

Den Optimismus, den Joe Chialo hinsichtlich seiner Pläne, das Gebäude der Galeries Lafayette bald als Zentralbibliothek zu nutzen, auch zum Jahresende noch verbreitete, will Elmar Schütze in der Berliner Zeitung nicht teilen, denn: "Im gerade verabschiedeten Doppelhaushalt sind keine Mittel vorgesehen. Und das liegt nicht nur an der schwieriger gewordenen Wirtschaftslage Berlins im Allgemeinen, sondern auch an den möglichen Finanzierungsmodellen des ZLB-Projekts im Besonderen. Denkbar sind dabei drei Varianten. Alle sind teuer für Berlins Steuerzahler. Eine private Finanzierung ist nahezu ausgeschlossen. Unter den drei Varianten gilt der Kauf als die wahrscheinlichste. Nach allem, was man hört, ruft Tishman Speyer 590 Millionen Euro für das Gebäude des französischen Stararchitekten Jean Nouvel auf. Hinzu käme eine dreistellige Millionensumme für den Umbau des Hauses mit seiner markanten Glasfassade zu einer Bibliothek. Das wären zusammen mindestens 700 Millionen Euro."
Archiv: Kulturpolitik

Geschichte

Vom Pleitegeier bis zum Großkotz - viele Worte haben ihren Ursprung nicht, wie man meinen könnte, im Deutschen, sondern im Jiddischen, klärt in der Welt Wolfgang Krischke auf, der unter anderem nachzeichnet, wie sich das Hebräische mit der Gründung des Staates Israel 1948 gegen das Jiddische durchsetzte. Dabei schien sich für das Ostjiddische zunächst "noch einmal eine große Zukunft aufzutun. Die Mehrheit der Einwanderer waren aschkenasische Juden; da lag es nahe, dass ihre Muttersprache auch zur Nationalsprache des neuen Staates wurde. Doch die führenden politischen Kreise entschieden anders: Gegen den Protest vieler Jiddischsprecher erklärten sie ein modernisiertes Hebräisch zur Staatssprache. Es sollte für einen radikalen Neuanfang stehen und zudem verhindern, dass jüdische Einwanderer aus der arabischen Welt den Aschkenasim gegenüber benachteiligt wurden. Dasselbe galt für die gebildeten Juden aus dem Westen, insbesondere aus dem deutschsprachigen Raum, die kaum noch Jiddisch sprachen. Die Weichen für diese Entwicklung waren schon im Vorfeld der Staatsgründung gestellt worden: Im palästinensischen Siedlungsgebiet hatte es bereits in den Zwanziger- und Dreißigerjahren heftige sprachpolitische Auseinandersetzungen zwischen 'Hebraisten' und 'Jiddischisten' gegeben. Hebraistische Eiferer schmähten das Jiddische und verübten Brandanschläge auf Druckereien und Kioske, die Publikationen in dieser Sprache produzierten und vertrieben."
Archiv: Geschichte
Stichwörter: Israel, Jiddisch, Hebräisch

Ideen

Seit dem 7. Oktober hat sich zumindest der Kulturbetrieb in Deutschland in einen Nebenkriegsschauplatz verwandelt, schreibt Thomas E. Schmidt, der in einem sehr langen, etwas vagen Zeit-Essay über das Ende der universalistischen Gesellschaftsmoral der Bundesrepublik darlegt, wie wenig homogen die deutsche Erinnerungskultur - und damit auch die Vorstellung vom "nie wieder" - von Beginn an war: "Ältere Ostdeutsche, so sie ihr antifaschistisches Erbe hochhalten, trennen sehr genau zwischen Juden und Israel; es sind in ihren Augen Phänomene, die in ganz unterschiedliche politische Raster fallen. Und auch die staatspolitisch gestützte Erinnerung an die Shoah in der Bundesrepublik identifizierte ja das Judentum mit Israel keineswegs. In Wirklichkeit ist dieses Verhältnis niemals klar bestimmt worden. Hätte sich Deutschland das israelische Selbstbild vollständig zu eigen gemacht, würde es auch den israelischen Alija-Zionismus unterstützt haben, die Rückkehr der Jüdinnen und Juden auf das Territorium Israels. Stattdessen verfolgte die Bundesrepublik ein eigenes Interesse. Wichtiger erschien, Jüdinnen und Juden zu einem Leben in Deutschland zu ermutigen. An dieser Stelle musste sich beweisen, dass die Deutschen sich gewandelt hatten. Als Juden dann in nennenswerter Weise kamen, spät und im Wesentlichen in Großstädte wie Berlin oder Frankfurt, gab es keine Notwendigkeit, sich auf der weltpolitischen Bühne zu Israel zu bekennen."
Archiv: Ideen