9punkt - Die Debattenrundschau

Gegen die Gottheit tritt man nicht an

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
30.01.2024. Die Russen verhalten sich wie Sklaven, die die Größe ihres Herren anbeten, notiert ein deprimierter Michail Schischkin im Gespräch mit der Welt. Was bei den Demos gegen die AfD viel zu wenig zur Sprache kam, ist, wer der eigentliche Pate des Rechtsextremismus in Europa ist, nämlich Wladimir Putin, meint Richard Herzinger in seinem Blog. In Polen werden jetzt auch die superrepressiven Abtreibungsgesetze der Kaczynski-Regierung geschleift, freut sich hpd.de.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 30.01.2024 finden Sie hier

Europa

Der russische Autor Michail Schischkin spricht in einem Interview mit der Gazeta Wyborcza, das die Welt übernommen hat, über Russlands Krieg gegen die Ukraine, das Schweigen, das die russische Gesellschaft so gut gelernt hat, und ihre Identifikation mit der Macht: "Die Gesellschaften in den westlichen Demokratien haben sich seit langem von einem Stammesdenken verabschiedet, bei dem das Wohl des Bürgers der Gemeinschaft untergeordnet wird, und einem modernen Denken zugewandt, bei dem das Wohl des Einzelnen zählt. In Russland leben die Menschen in dem Glauben, dass sie eine Insel sind, umgeben von einem Ozean von Kannibalen. Alle sind gegen uns und einzig der Zar kann uns retten. ... Der Sklave ist stolz auf den Reichtum und die Größe seines Herrn. Am meisten fürchtet er den freien Menschen. Denn erst der freie Mensch macht ihm seine Stellung bewusst. Hinzu kommt das sogenannte Stockholm-Syndrom. Eine Person, die ihrem Verfolger völlig ausgeliefert ist, idealisiert ihn, bewundert ihn, verliebt sich in ihn. Und so ist es auch in Russland. Die Abhängigkeit von der Macht ist so stark, dass man von klein auf lernt: Die Macht ist etwas Heiliges, etwas Göttliches. Und gegen die Gottheit tritt man nicht an. Aber in ihrem Namen, zur Verteidigung ihrer 'Werte', kann man in die Schlacht ziehen. Um deine Familie vor den Faschisten zu schützen und ein Held zu werden. Indem du in den Krieg ziehst, hörst du auf, ein Sklave zu sein, du wirst ein Held."

Eine erstaunliche Nähe der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung unter Carles Puigdemont zu Wladimir Putin belegen Berichte eines Rechercheverbunds. Der Bericht, an dem der SWR beteiligt ist, findet sich bei tagesschau.de. Er beruht auf Ermittlungen eines Staatsanwalts, der Chat-Protokolle des ehemaligen katalanischen Ministerpräsidenten ausgewertet hat. Sein Referendum zur Unabhängigkeit Kataloniens hatte Spanien 2017 in eine seiner tiefsten Krisen gestürzt - Puigdemont ist danach nach Belgien "geflohen". Unter anderem wollten die Separatisten eine französisch-spanische Erdgasleitung verhindern, die die Abhängigkeit Spaniens von Putin verringert hätte und erhofften sich dafür Milliarden von Putin. "Der Bericht des Ermittlungsrichters könnte den spanischen Regierungschef in Bedrängnis bringen. Denn der Sozialist Pedro Sánchez hat sich seine Wiederwahl im vergangenen November teuer erkauft - für die Unterstützung der Separatisten versprach er eine Amnestie. An diesem Dienstag soll im Parlament darüber abgestimmt werden."

So begrüßenswert die jüngste demokratische Aufwallung gegen die rassistischen Machenschaften der AfD ist - sie hat erhebliche Wahrnehmungslücken, findet Richard Herzinger in seinem Blog. Vor allem wird in der Bewegung so gut wie gar nicht thematisiert, dass die AfD als Einflussagentur Wladimir Putins handelt, der der eigentliche Pate des Rechtsextremismus in Europa ist. "Die Auslassung dieses zentralen Aspekts durch die aktuelle Demokratiebewegung führt dazu, dass ihr Gesicht in wesentlichen Zügen von Kräften wie der Partei Die Linke und der linksradikalen 'Antifa' geprägt werden kann, deren Loyalität zur demokratischen Welt ihrerseits mehr als fraglich ist. Während letztere 'Faschismus' im Kern mit dem westlichen Kapitalismus gleichsetzt und die liberale Demokratie für ein bloßes Instrument 'bürgerlicher Klassenherrschaft' hält, akzeptiert erstere zwar offiziell die Regeln der rechtsstaatlichen Demokratie. Tatsächlich aber lehnt die Linkspartei, nicht anders als die AfD, die Westintegration Deutschlands und insbesondere seine Verankerung im westlichen Verteidigungsbündnis ab und pflegt überdies ein zumindest zwiespältiges Verhältnis zu autoritären Regimes weltweit."

Claudia Schwarz geht in der NZZ dagegen vor allem die Selbstzufriedenheit vieler Anti-AfD-Demonstranten auf die Nerven. Und das nicht nur wegen der Vergleiche mit Weimar. "Dazu passt, dass beim selbstbelohnenden Engagement für die Demokratie längst antiisraelische Parolen wie 'Zionismus = Rassismus' unbehelligt am Sonntagsspaziergang 'für die Demokratie' mitlaufen. Die deutsche Gesellschaft klopft sich zufrieden auf die Schultern, statt über das Eigentliche zu sprechen. Beispielsweise über die Frage, wie es den in Deutschland lebenden Juden geht in diesen Tagen."

Die rechtspopulistische Regierung Polens hatte eines der restriktivsten Abtreibungsgesetze der Welt erlassen. Donald Tusk macht nun sein Wahlversprechen wahr und bringt ein neues Gesetz ein, freut sich Hella Camargo bei hpd.de: "Legale, sichere Abtreibungen sollen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche möglich sein. Zudem sollen Menschen ab 15 Jahren rezeptfreien Zugang zu Notfallkontrazeptiva, auch bekannt als die 'Pille danach', erhalten. Damit macht Tusk eines seiner Wahlversprechen aus dem Wahlkampf im Jahr 2023 wahr. Bereits da hatte er angekündigt, die restriktive Gesetzgebung zum Abtreibungsverbot zu ändern."
Archiv: Europa

Politik

Das "Flüchtlingshilfswerk" UNRWA scheint völlig durchsetzt von Hamas-Sympathisanten oder sogar aktiven Hamas-Terroristen. Angefangen hatten die Enthüllungen mit einem Twitter-Thread von Hillel Neuer, der die Arbeit der UN schon lange kritisch begleitet. Er hatte nach dem 7. Oktober die Jubel-Posts einer dreitausendköpfigen UNRWA-Lehrergruppe auf Telegram ausgewertet. Weitere Enthüllungen kamen von der Israelischen Regierung (mindestens zwölf UNRWA-Mitarbeiter unter den Terroristen vom 7. Oktober) und der New York Times (hier). Tanja Tricarico resümiert in der taz und nennt weitere Berichte etwa des Wall Street Journal: "Demnach sind rund 1.200 UNRWA-Mitarbeiter Teil der Hamas oder des Islamischen Dschihads im Gazastreifen. Laut Bericht sind zudem rund 23 Prozent aller männlichen Mitarbeiter der UN-Organisation aktiver Teil verschiedenster Hamas-Strukturen. Die Informationen der israelischen Geheimdienste kommen aus Verhören gefangener Hamas-Terroristen, beziehen sich auf Dokumente von toten Terroristen oder auf Mobilfunkdaten."

Ebenfalls in der taz der große Bericht von Mirco Keilberth und Judith Poppe über rechtsextreme israelische Siedler, die den Gazastreifen neu okkupieren wollen.

Schon lange gab es Vorwürfe gegen die UNRWA und ihre Kumpelei mit der Hamas. Die Bundesregierung, die zu den treuesten Finanziers des Hilfswerks gehört, hat nun vorerst weitere Zahlungen ausgesetzt. Und das sollte auch so bleiben, meint Sebastian Leber im Tagesspiegel: "Das einzig Unmenschliche an diesem Zahlungsstopp ist, dass er um Jahre zu spät kommt. Das Zögern dürfte, man muss es so hart formulieren, Menschenleben gekostet haben. Das UN-Hilfswerk hat sich in der Region schon lange zum Komplizen gemacht - sowohl der Terroristen der Hamas als auch der korrupten Autonomiebehörde im Westjordanland. UNRWA-Gebäude in Gaza wurden und werden von der Hamas mitgenutzt, ohne dass die Helfer dagegen vorgingen. Im Gegenteil: Sie bestritten das Offensichtliche und logen damit ihre Geldgeber an." Sehr viel zögernder reagiert Bernd Dörries in der SZ. Wieder einmal leide vor allem die Zivilbevölkerung durch Zahlungsstopps an die UNRWA. "Rechtfertigt die in Details bislang nicht geklärte Beteiligung von 0,1 Prozent ihrer Mitarbeiter einen solch dramatischen Schritt?"

Zeit online hat die Vorwürfe gegen die UNRWA zusammengefasst. Dabei werden einem auch die Dimensionen dieses Hilfswerks klar: Es ist auf inzwischen 30.000 Mitarbeiter angewachsen, was damit zu tun hat, dass bei den Palästinensern der Flüchtlingsstatus vererbt wird. Und das hat Folgen: Statt 750.000 Menschen, wie zum Zeitpunkt der Gründung der UNRWA, gelten jetzt 5,9 Millionen Menschen als palästinensische Flüchtlinge.

Es kann überhaupt keine Rede davon sein, dass Kritik an Israel in Deutschland mit irgendwelchen Tabus belegt ist, meint der Politikwissenschaftler Lothar Probst in der taz - dieses Argument wird von Postkolonialisten gern vorgebracht, Masha Gessen meinte in ihrem notorischen New Yorker-Essay (unsere Resümees) gar, dieses deutsche "Tabu" verstelle der Weltöffentlichkeit die Sicht auf israelische Verbrechen. "Überhaupt stellt sich die Frage, ob es in der deutschen Mehrheitsgesellschaft jene 'Täterschuld' gibt, von der behauptet wird, dass sie Kritik an Israel verhindere. Viele Deutsche sind vielmehr gegenüber den Juden und deren Schicksal ziemlich desinteressiert und gleichgültig, wie vor kurzem eine Umfrage von Forsa gezeigt hat: 59 Prozent der Befragten sagten, dass ihnen Israel fremd sei, nur 23 Prozent empfanden eine 'Nähe' zu Israel. Auch die Anteilnahme der deutschen Öffentlichkeit am Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 fiel erschreckend gering aus."
Archiv: Politik