9punkt - Die Debattenrundschau

Der Betriebsrat stimmte zu

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.02.2024. Scharf prangert Zeruya Shalev in der SZ die Mitverantwortung der Regierung Netanjahu am Möglichwerden des 7. Oktober an. Die taz staunt, wie leicht gerade die Kulturszene auf quasi faschistische Narrative hereinfällt. 54books lotet die Krise des Kulturjournalismus aus. Der Medieninsider deckt auf: Wer bei der Süddeutschen arbeitet, arbeitet bei Big Brother, auch die "Reporter ohne Grenzen" sind bestürzt.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.02.2024 finden Sie hier

Gesellschaft

Mit charakteristischer Wucht prangert Sascha Lobo in seiner Spiegel-online-Kolumne den modernen Antisemitismus an, der zumeist den Umweg über die "Israelkritik" sucht: "Antisemitismus ist out - aber wirklich nur als Wort. Zwar wollen alle Antisemiten Juden hassen, nur möchte fast niemand mehr als Antisemit bezeichnet werden. Dafür gibt es die perfekte Ablenkungsstrategie: Antizionismus."
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Stichwörter: Israelkritik

Politik

In schärfsten Worten prangert Zeruya Shalev im Gespräch mit Thorsten Schmitz von der SZ die Mitverantwortung der Regierung Netanjahu am Möglichwerden des 7. Oktober an. "Wir haben geahnt, dass Netanjahu uns in eine Katastrophe führt. Generäle und Geheimdienstchefs haben schon im Sommer gewarnt, dass es Hinweise gebe für einen großen Hamas-Angriff, aber Bibi weigerte sich, diese Leute überhaupt zu treffen. In dieser Zeit, als Hunderttausende Menschen auf die Straße gingen und gegen Bibis Justizreform demonstrierten, habe ich mich gefragt: Wie kann Bibi es wagen, mit unserem Schicksal zu spielen, ein ganzes Land zu spalten, zu schwächen mit dem Versuch, die Demokratie abzuschaffen?"

Tanja Tricarico will in der taz den Anschuldigungen gegen die UNRWA nicht ganz glauben, nicht zwölf, sondern nur sechs Mitarbeiter seien in die Hamas-Pogrome vom 7. Oktober verwickelt, und überhaupt: "Der Einsatz von Hilfsorganisationen in Krisengebieten ist bedingungslos zu akzeptieren. Das gebietet die Menschlichkeit. Und zugleich birgt die Zusammenarbeit mit lokalen Partnern immer auch ein Restrisiko. So auch im Gazastreifen, in dem das UNRWA einer der größten Arbeitgeber ist. Wohin fließen Gelder? Wer unterstützt welche Milizen? Natürlich muss es Kontrollmechanismen geben, um einen Missbrauch der Hilfsgelder auszuschließen.

Anders sieht es Erica Zingher, ebenfalls in der taz: "Während Kinder in Gaza in UNRWA-Schulen zum Hass auf Juden erzogen wurden, weil der in Schulbüchern gepredigt wurde, erzählte sich die Weltgemeinschaft lieber die alte Mär von den armen palästinensischen Opfern; Opfern, die angeblich niemals Täter sein konnten, weil sie schließlich Flüchtlinge waren; Opfern, da dieser Status unter Palästinensern über Generationen weitergegeben werde."
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Medien

Genüsslich zitieren Michael Maier und Moritz Eichhorn in der Berliner Zeitung einen Artikel des Online-Magazins Medieninsider, der leider hinter einer Paywall steht. In dem Artikel wiederum geht es um die Chefredaktion der SZ, die nach einem kritischen Bericht des Medieninsider vor einiger Zeit - das Magazin hatte herausgefunden, dass die stellvertretende Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmidt hier und dort mal abgeschrieben hatte - offenbar die Redaktion systematisch abgehört, um herauszufinden, wer der "Maulwurf" war. Die Chefredaktion agierte dabei offenbar nicht ohne Rückendeckung. "Der Betriebsrat stimmte zu, 'dass die IT der SZ Arbeitsgeräte der Redaktionsmitglieder nach Kommunikation mit Medieninsider untersuchen durfte'. Das Branchenmagazin weiter: 'Den Aussagen zufolge wurden Verbindungen über Festnetztelefone ausgewertet wie auch Netzwerke und die E-Mail-Kommunikation der SZ-Journalisten. Laut Betriebsrat sollte dafür nach Nachrichten an Medieninsider-Domains wie auch nach IP-Adressen gefahndet werden. Auch habe man nach Audio- oder Videodateien gesucht.'"
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Ideen

Wie leicht gerade die Kulturszene auf quasi faschistische Narrative hereinfällt, und das gewissermaßen systematisch, wenn sie nur gewisse Wahrnehmungsschemata bedienen, staunt Andreas Fanizadeh in der taz. Akteure wie Putin oder eben auch die Hamas nutzen das aus. Und die Denkmuster heutiger propalästinensischer Aktivisten ähneln aufs Haar dem "Antiimperialismus" von einst: "Der 'Globale Süden' als herrschaftsfreie Opferbewegung war damals wie heute eine Chimäre. Die unhistorischen Rhetoriken verstellen den Blick auf außereuropäische Herrschafts- und Gewalttraditionen. In der Geschichte der radikalen Linken führte dies zu falschen Parteinahmen. Und zu der gefährlichen Annahme, die Einhaltung der Menschenrechte sei nur ein Gebot für den Gegner, nicht für sich selbst. Heute bezichtigen postkoloniale, sich propalästinensisch verstehende Aktivisten Israel in Gaza einer genozidalen Kriegsführung. Die Täter-Opfer-Umkehr erinnert fatal an die Verdrehungen der 1970er Jahre."

Oskar Negt ist gestorben. Willi Winkler erinnert auf einer ganzen SZ-Seite an den Soziologen, Frankfurter Schüler und Denk- und Trinkpartner Alexander Kluges: "'Geschichte und Eigensinn', das zwölfhundertseitige Haupt- und Grundbuch ihrer Zusammenarbeit, erschien 1981 nicht mehr bei Suhrkamp, sondern beim basisdemokratischen Buchversender Zweitausendeins, eine neue Bibel und vermutlich genauso ungelesen wie die alte."
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Europa

Die russischen Angriffe auf ukrainische Kultureinrichtungen haben System, schreibt in der taz Marco Zschieck, der mit verschiedenen Museumleiterinnen und Kulturfunktionären in der Ukraine gesprochen hat: "Einer der frühesten und folgenreichsten war die Bombardierung des Theaters in Mariupol am 16. März 2022, in dessen Räumen Hunderte Zivilisten Schutz vor dem Kämpfen um die Stadt gesucht hatten. Die genaue Zahl der Opfer wird wohl nie ermittelt werden können, weil Russland die Spuren beseitigt hat. Schätzungen gehen von 600 Toten aus. In der Oblast Charkiw brannte das Museum für den Philosophen Hryhorii Skovoroda nach einem Granatentreffer im Mai 2022 aus. In Winnyzja wurde im Juli 2022 ein Kulturhaus mit Marschflugkörpern zerstört. Auch in Tschernihiw im Norden der Ukraine wurde im August 2023 ein Theater getroffen, in Cherson wurde die Bibliothek mehrfach beschossen. Nach Angaben des Kulturministeriums der Ukraine sind bis zum 10. Januar 2024 insgesamt 872 Kulturstätten beschädigt oder zerstört worden.
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Stichwörter: Ukraine-Krieg

Geschichte

Gerade gegen Ende entfaltete der europäische Kolonialismus noch äußerste Gewalt, schreibt der Afrikanist Andreas Eckert in der virtuellen FAZ-Beilage "Bilder und Zeiten" und erinnert etwa an das Wüten der Briten zur Zeit des Mau-Mau-Aufstands mit 20.000 Toten. Und doch lässt sich für Eckert Kolonialismus nicht auf ein einseitiges Gewaltgeschehen reduzieren, denn "der koloniale Staat stand auf dünnem Eis. Er brauchte die Legitimität und die Erzwingungsmacht einheimischer Autoritäten, um Steuern einzutreiben und Arbeitskräfte zu mobilisieren. Und er brauchte lokales Wissen. Diese Konstellation ließ Zwischenräume entstehen, in denen sich diverse einheimische Gruppen Möglichkeiten schufen, ihre Interessen in und mit dem Kolonialismus durchzusetzen. Dies galt etwa für jene Einheimischen, die in der kolonialen Verwaltung tätig waren."
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