9punkt - Die Debattenrundschau

Negative Eskalationsdominanz

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.03.2024. Die FAZ fragt sich, wen ein Demokratiefördergesetz wirklich fördert: Die Demokratie oder nur die sympathischen Meinungen? Im Tagesspiegel fordert der Historiker Julius Schoeps, auch an Universitäten auf den Unterschied zwischen Antisemitismus und Israelkritik zu bestehen. Die SZ fordert einen Stopp der Waffenlieferungen an Israel. In der NZZ erklärten vier Wissenschaftshistoriker, dass die Vermischung von Wissenschaft und Aktivismus durchaus Tradition hat. Sie ist dann aber nicht mehr von der Wissenschaftsfreiheit geschützt, meint in der FAZ der Verfassungsrechtler Klaus Ferdinand Gärditz.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.03.2024 finden Sie hier

Ideen

Brauchen wir wirklich ein Demokratiefördergesetz? Oder anders gesagt: Ist es der Demokratie wirklich förderlich, wenn sich der Staat mit 200 Millionen Euro jährlich seine eigene Zivilgesellschaft schafft? In der FAZ hat Claudius Seidl starke Zweifel: "So soll zum Beispiel Islamfeindschaft bekämpft werden - wer bestimmt aber, wo die Grenze zwischen Kritik und Feindschaft verläuft? Vielfalt soll gefördert werden - ist aber eine konservative Position, die als Folge der Vielfaltsförderung den Minderheiten-Proporz und die identitätspolitische Zersplitterung fürchtet, schon illegitim und antidemokratisch? Demokratische Kompetenz zeigt sich vielleicht eher darin, dass man dem Einspruch zuhört, den Gegensatz aushält und zu ertragen lernt, dass die Meinungsfreiheit auch für hässliche, unsympathische, böse Meinungen gilt."

Wie schwer das vielen fällt, zeigt sich auch am Umgang mit dem Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, dem unter anderem die Präsidentin der TU Berlin, Geraldine Rauch, "tief besorgt" vorwirft, es stärke "das Narrativ der Neuen Rechten, Rechtsextremist*innen und anderer verfassungsfeindlicher Organisationen", berichtet Hinnerk Feldwisch-Drentrup in der FAZ. Bei einigen Mitgliedern des Netzwerks kann man schon die Augenbrauen hochziehen, aber "was ist überhaupt vom Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit erfasste Wissenschaft? Jene, die von starken ideologischen Vorannahmen geprägt ist, halte sie nicht für gute Wissenschaft, da sie nicht ergebnisoffen sei, sagt [die Netzwerk-Vorsitzende Sandra] Kostner. Aber sie sei 'natürlich genauso geschützt' wie eine nach wissenschaftlichen Standards besonders hochwertige Wissenschaft." Dem würde der Verfassungsrechtler Klaus Ferdinand Gärditz widersprechen, so Feldwisch-Drentrup, weil geschützte Wissenschaft immer von einem echten Erkenntnisinteresse getrieben sein müsse. Wer mit Wissenschaft nur seine Meinung bestätigt sehen wolle, sei zwar vom Recht auf Meinungsfreiheit geschützt, könne sich aber nicht auf Wissenschaftsfreiheit berufen: "Meinungen von Menschen mit Professorentitel sind aber nicht schützenswerter als sonstige Meinungen auch", zitiert ihn die FAZ.

In der NZZ stellen die Wissenschaftshistoriker Nils Güttler, Martin Herrnstadt, Niki Rhyner und Monika Wulz mit Blick auf Gender-Studies, Migration, Kolonialismus und Krieg fest, dass die Vermischung von Wissenschaft und Aktivismus eine ältere Tradition hat. Und warum auch nicht, denken sie mit Verweis auf die "Frauenbewegung, die Schwulen- und Lesbenbewegung, die Umwelt- und Anti-Atomkraft-Bewegung oder die Dritte-Welt- und die Friedensbewegung der 1970er und 1980er Jahre. So unterschiedlich diese Bewegungen auch waren, immer ging es den Aktivistinnen und Aktivisten auch darum, hegemoniale politische Machtverhältnisse durch die Produktion von Wissen sichtbar zu machen und sie zu verändern. Der zeitgenössische Begriff dafür lautete 'Gegenwissen', eine engagierte Form der Wissensproduktion, die sich gegen die bestehende Ordnung mitsamt den etablierten Wissenschaften richtete. Es sollten andere moralische Ökonomien gelebt und geteilt werden, als man sie im Wissenschaftsbetrieb vorfand."
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Gesellschaft

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Das antijüdische Klima heute weist Ähnlichkeiten mit der Situation um 1933 auf, sagt der Historiker Julius Schoeps, dessen 2021 erschienes Buch "Düstere Vorahnungen" derzeit an Aktualität gewinnt, im Gespräch auf den Wissenschaftsseiten des Tagesspiegels. Aktuell gehe Kritik am Vorgehen des Staates Israel im Gazastreifen ineinander über mit dem erstarkenden Antisemitismus, meint er und fordert Maßnahmen etwa mit Blick auf die antisemitischen Vorkommnisse an Universitäten: "Allgemeines Bedauern und Klagen reichen nicht. Ich erwarte, dass die politisch Verantwortlichen für Präventivmaßnahmen sorgen. Es versteht sich von selbst, dass die Meinungsfreiheitsfreiheit durch solche Maßnahmen nicht eingeschränkt werden darf. Es ist eine Gratwanderung. Man muss genau hinsehen. Freier Diskurs, Meinungsfreiheit ja, die Propagierung und Ausübung von Gewalt gegen Personen nein. (…) Sich in der BDS-Bewegung zu engagieren, ist Mode geworden. Kritik an der israelischen Politik kann man natürlich äußern. Aber in dem Moment, in dem sich diese Kritik in judenfeindlichen Stellungnahmen entlädt, dann stimmt etwas nicht. Beispielsweise, wenn sattsam bekannte antisemitische Stereotype ins Spiel gebracht werden wie Juden als Kindermörder."

Ein Denkmal für die Opfer der RAF? In der FAZ winkt Edo Reents ab: Das sei doch völlig überflüssig. "Dass die RAF so viele Menschen ermordet hat, von denen jeder einer zu viel ist, wird niemand, der bei klarem Verstand ist, vergessen und, sofern ihm das überhaupt zusteht, auch nicht entschuldigen oder verzeihen. Die Motive für diese Taten, von denen bisher nur eine einzige, nämlich der von der zweiten Generation zu verantwortende Mord am damaligen Dresdner-Bank-Vorstandssprecher Jürgen Ponto im Juli 1977, aufgeklärt ist, sind weitgehend bekannt. ... Was missbilligend über all das zu sagen ist, wurde und wird weiterhin gesagt. Ein 'Mahnmal' würde hier irgendwie banal wirken, abgesehen davon, dass es auch reichlich spät käme." Wichtiger wäre für Reents mehr Aufklärung der Morde durch eine besser ausgerüstete Polizei.
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Politik

Dass es bisher kein Abkommen zwischen Israel und der Hamas über die Freilassung der Geiseln und eine Feuerpause gibt, überrascht den Islamwissenschaftler und Ex-BND-Mitarbeiter Gerhard Conrad im Tagesspiegel-Gespräch nicht: Bei der Hamas gehöre es "zum guten Ton, zur Demonstration der Selbstbehauptung, Termine verstreichen zu lassen." Conrad befürchtet allerdings, "dass die Hamas unter ihrem abgetauchten Gaza-Chef Jahia Sinwar kein Interesse an einem Deal hat, sondern auf dauerhafte Eskalation gerade während des emotional besonders heiklen Fastenmonats setzt. Sinwar könnte hier einfach sehen wollen, ob Israel das Eskalationsrisiko, insbesondere die zu befürchtenden weiteren schweren Opfer an Menschenleben in Rafah, tatsächlich in Kauf nimmt. Er könnte darauf spekulieren, dass sich Israel damit international weiter isoliert und zugleich eine Ausweitung der Gewalt im Westjordanland und Jerusalem provoziert, oder aber einknickt. (…) Ich nenne das negative Eskalationsdominanz. Diese schließt den Hinweis mit ein, man scheue nicht einmal den eigenen Untergang, der aber mit dem Tod der Geiseln und maximalen Opfern unter der Zivilbevölkerung in Gaza verbunden wäre."

In Gaza sollen am Donnerstag mehr als 100 Palästinenser ums Leben gekommen sein, viele davon mutmaßlich durch die israelische Armee - Biden und Macron verurteilten den Vorfall, während in Berlin lieber über die Vorkommnisse auf der Berlinale diskutiert wurde, behauptet Bernd Dörries, der sich in der SZ fragt, ob sich die "Diskussion manchmal gar nicht um Israel und die Palästinenser dreht, sondern ein deutsches Selbstgespräch ist, bei dem oft vergessen wird, dass in Gaza tatsächlich jeden Tag Menschen sterben." Warum schweigen die meisten deutschen Politiker zu Israels Kriegsführung? "Womöglich auch, weil sie sich sonst schwierigen Fragen stellen müssten. Etwa dieser, ob am Donnerstagmorgen auch mit deutschen Waffen auf Zivilisten geschossen wurde? Oder dieser: Als Israel dem Hilfswerk UNRWA vorwarf, zwölf seiner Mitarbeiter seien am Terror der Hamas beteiligt gewesen, stellte Berlin alle Zahlungen an das UNRWA vorläufig ein, bis eine Untersuchung erfolgt ist. Eine ähnliche Untersuchung fordert Baerbock nach den jüngsten Vorfällen auch von Israel. Warum sagt Berlin nun nicht auch, wir stellen alle Waffenlieferungen ein, bis ein ausführlicher Bericht vorliegt?"
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Europa

Gäbe es eine Partei der Nichtwähler, wäre sie die größte Partei im Parlament, hält die Journalistin und Schriftstellerin Evelyn Roll in der SZ fest und meint: Um die AfD zu schwächen, müssen neben den Nichtwählern auch die Neuwähler gewonnen werden. Und zwar in den sozialen Medien, wo bisher vor allem die AfD aktiv ist: "Die AfD züchtet sich vor den Augen aller, die hinsehen, ihren völkisch-nationalistisch-rassistischen Nachwuchs und hat auf Tiktok und Youtube mehr Reichweite als alle anderen Parteien zusammen. Das ist ein richtiger Skandal."
Archiv: Europa
Stichwörter: Roll, Evelyn, AfD, Nichtwähler, Tiktok

Kulturpolitik

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Der Architekturhistoriker Philipp Oswalt enthüllte die rechte Gesinnung des Bankiers Ehrhardt Bödecker, einer der Großspender des Schlosswiederaufbaus. (Unsere Resümees) In einem Gastbeitrag auf Zeit Online, der auf seinem aktuellen Buch "Bauen am nationalen Haus. Architektur als Identitätspolitik" beruht, zeigt Oswalt auf Grundlage eigener Recherchen auf, dass es sich bei Bödecker nicht um eine Ausnahme handelte: "Es sind vor allem die Kontakte zu rechtsradikalen Politikern, zu einer rechtsextremen Vereinigung in Hamburg und zu einem zentralen publizistischen Organ der sogenannten Neuen Rechten, welche die Verbindung des Vereins in rechtsradikale Milieus aufzeigen. Einer der Politiker ist Dieter Lieberwirth, er hatte im Förderverein anfangs selbst eine Funktion: Lieberwirth gehörte 1992/93 dem fünfköpfigen Gründungsvorstand des Vereins als einer der beiden Stellvertreter des ersten Vereinsvorsitzenden Wilhelm von Boddien an. Dieter Lieberwirth war damals Politiker der Partei Die Republikaner und zuvor schon als Sympathisant der NPD öffentlich in Erscheinung getreten."
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