9punkt - Die Debattenrundschau

Und beschämend ist es auch

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.03.2024. Im Guardian blickt Jan-Werner Müller auf die Bromance zwischen Orban und Trump: Vor allem Trump schwärmt davon, wie Orban die Kontrolle über Bildung und Kultur im Staat erlangte. In der Welt glaubt Hans Michael Rühle, ehemaliger Nato-Referatsleiter, dass sich die Ukraine irgendwann unter westlichem Druck auf Verhandlungen mit Russland einlassen muss. Ohne einen Regimewechsel in Russland wird es nie einen dauerhaften Friedensschluss geben, räumt indes die Historikerin Beatrice Heuser in Sirius ein. Gewalt ist kein theoretisches Konstrukt, klärt die Jüdische Allgemeine Judith Butler auf.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.03.2024 finden Sie hier

Gesellschaft

Man darf ja gar nichts mehr sagen, war lange das Klagelied rechter oder zumindest unsensibler Zeitgenossen. Jetzt ist es nach links gewandert: In der taz beklagt Ilija Trojanow bitter, dass die "Global Assembly", die diese Woche in Frankfurt über "autoritäre Herrschaft und Demokratisierung, Klimagerechtigkeit und ökologische Transformation, Menschen- und Naturrechte" diskutieren wollte, ihre Veranstaltung selbst absagte, weil sie fürchtete, "unabsehbaren Risiken" ausgesetzt zu sein, wenn sie über Gaza diskutieren würde. Gemeint war offenbar Kritik, wie sie zuletzt die Berlinale traf. "Anstatt eine Debatte zuzulassen und zugespitzte Meinungen auszuhalten, soll eine Verbotskultur den Diskurs regulieren. Die Wortwahl der herrschenden Kritik war symptomatisch: 'Diese Bilder, diese Töne will ich nicht aus Berlin sehen und hören.' Ein Bürgermeister, der Sprechen und Zuhören mit einem Verkehrsleitsystem verwechselt. Solche Aussagen lassen sich nur durch Schwarz-Weiß-Denken erklären, durch die Vorstellung, dass es nur eine Option gibt, die bedingungslose Unterstützung der einen oder der anderen Seite. So als könnte von uns nicht verlangt werden, Empathie für alle Opfer und Empörung gegenüber allen Tätern zu empfinden... Die regelmäßig geäußerte Behauptung, der Vorwurf des Antisemitismus sei keine Zensur, man könne ihm ja mit Argumenten begegnen, ist verlogen. Wir wissen alle, was für eine Wucht dieser Vorwurf in Deutschland entfaltet. Er kann ein Individuum, aber auch eine von öffentlichen Förderungen und Spenden abhängige Organisation zerstören."

Als  Saba-Nur Cheema den Bericht zur Muslimfeindlichkeit der Öffentlichkeit vorstellte, den sie zusammen mit Kollegen für das Bundesinnenministerium erstellt hatte, war das Echo in den Medien groß. Nun zieht das Ministerium den Bericht endgültig zurück, meldet unter anderem tagesschau.de: "Gegen den Bericht hatten der Publizist Henryk M. Broder und die Islamismus-Expertin Sigrid Herrmann zum Teil erfolgreich geklagt. Sie sahen sich durch wertende Erwähnungen in ihrem Ruf geschädigt. Das Bundesinnenministerium hat den Bericht mit insgesamt 1,5 Millionen Euro finanziert. Der Expertenkreis hat sich nach Vorlage des Berichts aufgelöst."
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Ideen

Man kann selbstverständlich über den Gazakrieg diskutieren, aber das setzt voraus, dass der 7. Oktober als Verbrechen anerkannt wird, fordert Laura Cazés, die sich in der Jüdischen Allgemeinen mit Judith Butlers jüngstem Vortrag zum Thema auseinandersetzt. Butler hatte behauptet, der Hamas-Überfall am 7. Oktober sein kein Terrorakt, sondern legitimer Widerstand gegen die israelische Besatzung gewesen. Butler postuliere "eine Perspektive, die Gewalt zu einem theoretischen Konstrukt reduziert und das Erleben der Opfer ausklammert. Genau an dieser Schnittstelle findet das entmenschlichende Motiv der antisemitischen Vernichtungssehnsucht seine Anknüpfung. Wo Juden zur abstrakten Hülle werden, werden die Auswirkungen antisemitischer Gewalt - sogar dann, wenn sie eine genozidale Dimension annehmen - zu einer vernachlässigbaren Variable in einer Gleichung, die (so pervers das auch klingt) am anderen Ende nicht ohne die Juden als Verursacher auskommt." Dass Butler in Paris ausdrücklich "as a Jew" sprach - was sie sonst nie tut - macht die Sache auch nicht überzeugender für Cazés: Man kann auch als Jude antisemitische Positionen vertreten, meint sie. Übrigens könne man durchaus für das Existenzrecht Israels sein und gegen die Hamas und sich trotzdem mit der palästinensischen Zivilbevölkerung solidarisieren, dies setzt nur "die Fähigkeit [voraus], Gleichzeitigkeiten zu verstehen und auszuhalten". Die Butler-Interventionen kann man hier inzwischen wieder in Gänze hören.
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Religion

Bevor der Fastenmonat Ramadan zum muslimischen Volksfest wurde, diente er als militärische Übung, klärt Hamed Abdel-Samad in der NZZ mit Blick auf den Koran auf: "Muslime sollten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf Nahrung, Flüssigkeit und Geschlechtsverkehr verzichten. In einer Region, in der es im Sommer bis zu 50 Grad im Schatten werden kann, war dieses Fasten eine Art militärisches Überlebenstraining und eine Maßnahme der Selbstbeherrschung. In der gleichen Koransure (Sure 2) gibt es zwei Verse, die den Muslimen ihre religiösen Pflichten erklären. Im ersten Vers heißt es: 'Vorgeschrieben ist euch das Fasten.' Einige Verse später heißt es: 'Vorgeschrieben ist euch, zu kämpfen, auch wenn es euch widerstrebt.' Die Soldaten, die widerwillig in den Kampf zogen, sollten so abgehärtet werden, und Mohammed konnte sie besser steuern, indem er alles kontrollierte, was sie aßen, wann sie aßen, wann sie schliefen und aufwachten und was sie in ihren Schlafgemächern taten." Heute stehen Muslime vor allem unter Rechtfertigungsdruck, etwa weil Kinder im Unterricht mitunter dehydriert oder unterzuckert umkippen, so Abdel-Samed weiter: "Eine islamische Kultur, in der die Religion, ihre Symbole und Rituale wichtiger sind als das Wohl der Kinder, fördert nicht die Integration."
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Stichwörter: Abdel-Samad, Hamed, Ramadan

Wissenschaft

Schlechte Nachrichten für junge Wissenschaftler: Nachdem Postdoktoranden unter dem Hashtag #ichbinHanna die Arbeitsbedingungen unter befristeten Verträgen offenlegten, wollte die Ampelkoalition das "Wissenschaftszeitvertragsgesetz" durch Dauerstellen für Daueraufgaben reformieren, erinnert Lothar Müller in der SZ. Nur: "Von Dauerstellen war aber wenig die Rede, als 2023 der Entwurf zur Reform des WissZeitVG vorgestellt wurde. Umso mehr von der neuen Höchstbefristung, die nun für die Postdoc-Phase vorgesehen ist. Sie folgt einer 4+2-Formel, der zufolge nach der Promotion die Verträge befristet Beschäftigter bereits nach vier Jahren nur verlängert werden können, wenn der Vertrag eine verbindliche Anschlusszusage enthält. Es ist offenkundig, dass diese Regelung überall dort, wo die Knappheit unbefristeter Stellen nur durch heftige Verteilungskämpfe in den Wissenschaftsinstitutionen selber behoben werden könnte, faktisch zur Verknappung der bisherigen sechs auf vier Jahre bei befristeten Verträgen in der Postdoc-Phase führen wird."

Nach dem Angriff auf einen jüdischen Studenten in Berlin durch einen Kommilitonen stellt sich die Frage, wie die Hochschulen auf Antisemitismus antworten sollen. Die FU Berlin hat jetzt einen Beauftragten für Antisemitismus ernannt, will dessen Namen aber nicht nennen, staunt Gerald Wagner in der FAZ und hat Fragen: "Muss man als Antisemitismus-Beauftragter der FU damit rechnen, selbst Opfer von Antisemitismus zu werden? War Anonymität die Bedingung dafür, dass die Vertrauensperson das Amt überhaupt übernommen hat? Hat sie Grund zu der Annahme, dass man in Berlin als Antisemitismus-Beauftragter der größten Universität der Stadt besser unerkannt bleibt? Will das Präsidium der FU die Antworten auf diese Spekulationen schuldig bleiben, böte sich als Titel dieses Amtes besser 'Geheimrat der FU für Antisemitismus' an. So bleibt der Kampf gegen den Antisemitismus an der Freien Universität Berlin leider gesichtslos. Das ist überraschend und schockierend. Und beschämend ist es auch."
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Europa

Viktor Orbán zeichnet nach seiner Amerikareise Donald Trump als Friedensengel, der die Unterstützung für die Ukraine beenden werde: "Zuallererst wird er für den Krieg zwischen der Ukraine und Russland keinen Penny ausgeben", zitiert ihn die FAZ in einer kurzen Meldung. "Trump habe 'ziemlich detaillierte Pläne, wie dieser Krieg zu beenden ist', sagte Orbán. Diese Pläne stimmten mit den Interessen Ungarns überein." Im Guardian ist der Politologe Jan-Werner Müller über das Trump-Orban-Treffen nicht erstaunt, seit Jahren pilgern Republikaner nach Ungarn, um zu studieren, wie man seine politischen Gegner am effektivsten ausschaltet, so Müller: "Natürlich spricht nur Trump den leisen Teil laut aus und verkündet seine Wünsche nach Diktatur; er schwärmt von Orbán als 'starkem Mann' und echtem 'Boss'. Trumps Gefolgsleute sind eher zurückhaltend. Ein Bereich, in dem sie sich jedoch nicht zurückhalten, ist die Bildung - sie schwärmen immer wieder von 'Orbáns Modell'. J.D. Vance, der republikanische Senator aus Ohio, hat die Universitäten zum 'Feind' erklärt und dazu geraten, dass 'das, was die Konservativen bisher am ehesten erreicht haben, um erfolgreich gegen die linke Vorherrschaft an den Universitäten vorzugehen, Viktor Orbáns Ansatz in Ungarn ist'. ... Das Ideal besteht nicht nur darin, die Kontrolle über Bildung und Kultur zu erlangen, sondern auch darin, den Staat als solchen zu einem parteiischen Instrument zu machen. Wie andere Rechtspopulisten hat Orbán Berufsbeamte durch Loyalisten ersetzt - eine Lektion, die die US-Rechtsextremisten eifrig aufgreifen."

Er sitze nicht im Gefängnis, weil er Putin nie beleidigt, sondern immer respektvoll behandelt habe, behauptet im SZ-Gespräch der nicht zur Präsidentschaftswahl zugelassene Oppositionspolitiker Boris Nadeschdin, der mit Silke Bigalke auch über die Nervosität der Behörden vor der Wahl spricht: "Wenn das Regime erkennt, dass es keine große Unterstützung hat, fängt es an, sich rückzuversichern. Die Behörden erwarten von überall Bedrohungen, Streiks und so weiter. Mir scheint diese Angst übertrieben zu sein. Ich sehe kein Potenzial für eine echte Revolution. Ich habe auch immer gesagt, dass ich nicht genehmigte Kundgebungen ablehne, mich an das Gesetz halte, nicht zu Aufständen aufrufe. Man muss wählen gehen, um die Verhältnisse auf friedliche Weise zu ändern. Diese Position erhält viel mehr Unterstützung als Aufrufe dazu, den Kreml zu stürmen. Die meisten Menschen sind nicht bereit dazu, ihre Freiheit, ihre Sicherheit für politische Aktionen zu opfern."

In der Welt hält Hans Michael Rühle, ehemaliger Nato-Referatsleiter, die Befürchtung, Putin wolle sich nach der Ukraine das Baltikum oder Polen einverleiben für "zumindest grob fahrlässig". Die Ukraine sei ein Sonderfall, "weil sie weit mehr als jedes andere Nachbarland unmittelbar mit der Geschichte und dem Selbstbild Russlands verknüpft war", meint er und glaubt, dass Russland nicht mal die militärischen Fähigkeiten habe, die Nato herauszufordern. Vielmehr gehe es bei dem Alarmismus darum, die deutschen Rüstungsausgaben zu erhöhen. Aber die Strategie werde nicht aufgehen: "Der westliche Druck auf die Ukraine, sich auf Verhandlungen einzulassen, wird steigen, auch wenn weiterhin Waffen geliefert werden, um Kiew eine bessere Ausgangslage für solche Gespräche zu verschaffen."

Anders sieht das die Politologin Hanna Notte auf Zeit Online, wenn auch mit Blick auf Russlands Machtstreben im Nahen Osten: Hier richtet Putin sein Politik auf totale Konfrontation mit dem Westen aus, so Notte, die unter anderem auf Putins geänderte Position im Nahostkonflikt blickt: "Mit propagandistischem Pathos spielt sich Russland ... medial und diplomatisch als Fürsprecher der palästinensischen Zivilbevölkerung auf. Ganz so, als würde es selbst nicht fast täglich zivile Infrastruktur in der Ukraine bombardieren. Angesichts der weltweiten Entrüstung über das unverantwortliche Vorgehen Israels in Gaza trifft Russlands Litanei über die westliche Doppelmoral, so zynisch sie auch sein mag, einen wunden Punkt. Russlands Machthaber nutzen den Konflikt für ihre antiwestliche Politik aus. Und der proisraelische Nahostkurs von US-Präsident Joe Biden bietet Moskau hierfür reichlich Angriffsfläche. Überdies unterstützt Moskau heute stärker als je zuvor die sogenannte Achse des Widerstands, eine vom Iran angeführte und explizit israelfeindliche und antiwestliche Ansammlung von Bewegungen, der etwa die Terrororganisation Hamas, der palästinensische Islamische Dschihad (PIJ), die jemenitischen Huthi-Kämpfer, irakische und syrische Milizen und die libanesische Hisbollah angehören. Es gibt Anzeichen wachsender russischer militärischer Zusammenarbeit mit dieser sogenannten Achse, auch wenn das Niveau der Kooperation überschaubar bleibt."

Auch die Historikerin Beatrice Heuser erwartet sich nichts Gutes von einem Frieden mit Putin auf Kosten der Ukraine, berichtet Thomas Speckmann, der für die FAZ einen Aufsatz Heusers in der Zeitschrift Sirius gelesen hat, in dem sie mehrere Szenarien für ein Kriegsende durchspielt: "Aber keiner hätte in ihren Augen das Potential, die Basis für einen halbwegs dauerhaften Friedensschluss zu bilden. Vielmehr zeigt sich die in Glasgow lehrende Historikerin davon überzeugt, dass in der Konfrontation mit einem derart nationalistisch und kompromisslos auftretenden Akteur wie Putins Russland der einzige Weg zu einem beständigen Frieden ein Regimewechsel sei. Ein solcher allerdings könne und dürfe nicht von außen bewirkt werden."

Im "10 nach 8"-Blog der Zeit erinnert die tschetschenische, in Wien lebende Journalistin Maynat Kurbanova an die brutale Vernichtung der Tschetschenen in den vierziger Jahren. Bis heute wird den Tschetschenen die Erinnerung, die sich vor allem in einem 1992 errichteten Mahnmal zeigte, durch die Russen genommen: "Im Jahr 2014 folgte der endgültige Abbau. Die Grabsteine blieben auf einem eingezäunten Lagerplatz mehrere Monate willkürlich übereinander geworfen liegen. Was übrig blieb, bildet heute einen Teil des neu errichteten Denkmals für Menschen, die im Kampf gegen Terrorismus gefallen sind - auf russischer Seite. So wird das Mahnmal unserer größten Tragödie für Propagandazwecke benutzt, die Opfer und ihre Nachkommen verhöhnt und die Erinnerung ausgemerzt. Tschetscheninnen und Tschetschenen dürfen heutzutage am Tag der Deportation, dem 23. Februar, nicht mehr öffentlich trauern. Sie finden dennoch Wege: Die Menschen öffnen an diesem Tag stillschweigend die Tore und Türen ihrer Häuser weit - es ist eine alte tschetschenische Tradition der Trauerbekundung."
Archiv: Europa