9punkt - Die Debattenrundschau

Die komplexe Realität

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.04.2024. All unsere munteren kleinen Kulturkriege werden zu immer neuen Peripetien getrieben. Nancy Fraser ist jedenfalls immer noch stinksauer, dass das mit der Ehrenprofessur in Köln nicht klappt - das sei ein Verstoß gegen die Verfassung, sagt sie in der Zeit. Sie hat noch weitere Aufrufe unterschrieben, informiert die FAZ, darunter einen, der Israel vorwirft, die Sexualmorde der Hamas für sich auszubeuten. Claudia Roth kriegt es auch ganz schön ab: Der Protestbrief von Gedenkstättenleitern gegen ihr Konzept von Erinnerungskultur zieht immer weitere Kreise.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.04.2024 finden Sie hier

Ideen

Buch in der Debatte

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Der einzige "Weg aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit" ist eine "Revolution" die darin besteht, Gürtel enger zu schnallen, predigen die Historikerin Hedwig Richter und Bernd Ulrich, stellvertretender Chefredakeur der Zeit, ebendort. "Das gewaltige mentale Problem besteht bei diesem Epochenbruch darin, dass die Mehrheit in den westlichen Ländern das atemberaubende Privileg, nur für einen kleinen Teil der eigenen Kollateralwirkungen aufkommen zu müssen, keineswegs als Privileg erlebt hat. Stattdessen verstanden die Menschen die systemische Sorglosigkeit, ihre endemische Bequemlichkeit zunehmend als ein Grundrecht und begannen, die Nebenfolgenfreiheit mit der Freiheit an sich zu verwechseln. Deswegen erscheint ihnen jetzt der schrille Klang des eigenen materiellen und moralischen Echos als ein Angriff auf die Freiheit höchstselbst." Die beiden Autoren legen bei Kiwi ein Buch gleichen Inhalts vor.

Die Philosophin Nancy Fraser, 76, ist nach wie vor stinksauer, dass ihre Einladung zur Albertus-Magnus-Professur von der Kölner Uni-Leitung zurückgezogen wurde. Im Gespräch mit Elisabeth von Thadden von der Zeit beklagt sie erneut, dass Wissenschafts- und Meinungsfreiheit verletzt worden seien: "Außerdem wurde meine Freiheit als Bürgerin verletzt, zu denken, was ich für richtig halte." Auch über das Boykott-Thema spricht sie: "Ich habe den Boykott Südafrikas unterstützt, ich bin für einen ökonomischen Boykott Israels, aber das sind Protestformen gegen Staaten. Die israelische Regierung tötet in Gaza durch staatliches Handeln. Ich bin kein Staat, ich habe niemanden getötet, ich bin ein freier Mensch, der aufgrund seiner Auffassungen gecancelt wird, und das darf in einer liberalen demokratischen Gesellschaft nicht passieren."

"Cancel Culture" ist nichts anderes als ein Begriff für Ausgrenzung, die noch in jeder Zivilisation praktiziert werde, um eben jene Zivilistaion aufrechtzuerhalten, und gecancelt gehören sowohl rechter als auch linker Antisemitismus, meint dagegen Spiegel-online-Kolumnist Sascha Lobo, der dazu rät, eine gute Praxis der Ausgrenzung zu entwickeln. Ein Beispiel dafür gebe es ja schon: "Auch heute herrscht zumindest noch unter dem allergrößten Teil der demokratischen Parteien Einigkeit, dass die rechtsextreme AfD und deren Funktionäre ausgegrenzt gehören. Deshalb hat die AfD zum Beispiel keinen Parlamentsvizepräsidenten, deshalb ist sie im Fußballteam des Bundestags nicht erwünscht, deshalb gesteht man dieser antidemokratischen Partei nur das absolute Minimum der politischen Teilhabe zu. Die Ausgrenzung der AfD ist richtig und wichtig und die Essenz von dem, was man auch bei den Konservativen der Union 'Brandmauer' nennt."

Jan Feddersen schafft es in der taz denn auch nicht, allzuviel Mitleid mit Fraser aufzubringen: "Was Fraser jetzt in zahllosen Interviews mit deutschen Medien betreibt, ist, die Rolle der verfolgten Unschuld zu geben. Ist sie nicht: Sie zählt, wie Masha Gessen, Judith Butler and you name it many more, zu jenen Stichwortgeberinnen* des antiisraelischen Zeitgeistes, der diesen Staat schlimmer als Nordkorea, Russland oder Iran zeichnet."

Und Thomas Thiel macht in der FAZ darauf aufmerksam, dass Fraser nach den Hamas-Pogromen weitere Offene Briefe gegen Israel unterzeichnet hat, darunter, besonders abstoßend, den Brief "Stop Manipulating Sexual Assault", der Israel vorwirft, die Vergewaltigungen und Sexualmorde der Hamas "propagandistisch auszubeuten, um vom Gazakrieg abzulenken. Auf Belege dafür wird weitgehend verzichtet. Das gilt auch für die Insinuation, israelische Soldaten und Sicherheitskräfte hätten sich sexueller Übergriffe gegen Palästinenserinnen schuldig gemacht."
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Gesellschaft

Der lange hoch angesehene, inzwischen verstorbene Berliner Sexualkundler Helmut Kentler ist weitgehend diskreditiert, seit aufgearbeitet wurde, dass er Problemkinder gern bei Pädophilen unterbrachte. Gerade wurde dazu an der Uni Hildesheim ein Bericht vorgelegt. Seine Lehren zur Förderung frühkindlicher Sexualität zirkulieren in Kitas und Schulen allerdings bis heute, wie ausgerechnet die Junge Freiheit herausgefunden hat, schreibt der Jugendforscher Martin Voigt in der FAZ: "Im Sog der 68er-Bewegung, als das Brechen der Schamgrenzen als Befreiung schlechthin galt, transformierte Kentler die Thesen der Sexualforscher Wilhelm Reich und Alfred Kinsey zu den 'genitalen Rechten der Kinder' in die Praxis deutscher Sexualerziehung. Kentler trat im Fernsehen auf, er schrieb Bestseller und regelmäßig in Illustrierten. Noch im Jahr 2000 wirkte er an einer Pro- Familia-Publikation zur Sexualforschung und Sexualerziehung über kindliche Sexualität mit. Niemand störte sich daran, dass er zentrale Thesen bei Kinsey entlehnte, der protokolliert hatte, wie oft man Kinder, teils im Säuglingsalter, zum Orgasmus bringen konnte."

Thomas Holl liest für die FAZ mehrere Berichte, wonach junge Frauen links, junge Männer dagegen rechts wählen. Amerikanische Medien sprechen schon davon, dass es in Wirklichkeit zwei "Gen Z" gebe. Auslöser sei unter anderem die #MeToo-Bewegung, berichtet Holl unter Bezug auf den deutschen Demokratieforscher Wolfgang Merkel: "Im Zuge dieser Bewegung, meint Merkel, erlebten und fürchteten Männer oft den Verlust ihres Status und ihrer Karriere. 'Männer müssen sich auf für sie ungewohnte Kommunikationsformen mit Frauen einlassen und können sich keine maskulinen Dominanzsprüche mehr leisten.' Das frustriere jene, die ihre neue Rolle noch nicht gefunden hätten oder sie gar nicht anstrebten. Als Folge dieser Verweigerung entwickelten viele junge Männer eine Neigung zu Parteien, die 'simplifizierend und illiberal sind, die Werten einer vergehenden Männlichkeit huldigen und undemokratische Ziele verfolgen'."

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Im Welt-Interview mit Jakob Hayner spricht die Journalistin Pauline Voss über ihr Buch "Krokodilstränen"; in dem sie den Wokismus kritisiert und erklärt, warum Michel Foucault sich als Galionsfigur dieser Bewegung eigentlich gar nicht eignet. Ihren Altersgenossen wirft sie vor, den Kampf gegen Diskriminierung zu instrumentalisieren: "Wenn man erfolgreich gegen Diskriminierung kämpfen würde, dann wäre man eines Tages selbst überflüssig. Weil es der Wokeness jedoch um die Diskursmacht und nicht um die Zustände geht, kann sie niemals an den Punkt kommen, wo sie ein vernünftiges politisches Ziel erreicht hat."
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Kulturpolitik

Der unter anderem vom Historiker Jörg Ganzenmüller und Oliver von Wrochem, dem Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme unterzeichnete Brandbrief zu Claudia Roths Konzept zur Erinnerungskultur (Unsere Resümees) hat es in sich, meint Christian Staas auf Zeit Online, der daraus zitiert: "Der zentrale Stellenwert der Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen für das staatliche Selbstverständnis der Bundesrepublik wird in den inhaltlichen Ausführungen nicht deutlich, vielmehr erscheint die wiederholte Erwähnung der 'Menschheitsverbrechen der Shoah' wie ein pflichtschuldiges Mantra. Das Papier kann als geschichts-revisionistisch im Sinne der Verharmlosung der NS-Verbrechen verstanden werden." Staas findet, das sei doch etwas fatalistisch und empfiehlt Dialog: "Womöglich liegen die Positionen ja am Ende gar nicht so weit auseinander. Denn so wichtig es ist, den wolkigen Ideen aus dem Entwurf des Kulturstaatsministeriums Konturen zu verleihen und die Arbeit der bestehenden Gedenkstätten zu sichern, so destruktiv wäre es, nun in der Debatte gegeneinander auszuspielen, was letztlich zusammengehört. Dass Ganzenmüller und Wrochem in ihrer Kritik nicht aufs Neue die Front Kolonial- versus Holocaustgedenken eröffnen, ist da schon mal ein gutes Zeichen. Und auch sonst enthält ihr Schreiben viel Bedenkenswertes - etwa die Hinweise auf die Gefahren der grassierenden Geschichtsfälschungen in sozialen Netzwerken und auf konservatorische Herausforderungen."

Einen anderen Ton schlägt Joachim Käppner in der SZ an. Zwar findet er die Aufregung um Roths Konzept auch ein wenig übertrieben, nichtsdestotrotz liegt die Kulturstaatsministerin mit ihrem Entwurf komplett daneben: "Im Entwurf Roths erscheint Erinnerungskultur als eine Art staatlicher Belehrungsauftrag, den man zeitgemäß um Antikolonialismus und Migrationsgeschichte zu erweitern habe. Dabei hat sich diese Erinnerungskultur, die heute zu den Pfeilern der deutschen Demokratie gehört, eigendynamisch über die Jahrzehnte entwickelt; oftmals, wie in der Ära Helmut Kohl und seiner reaktionären 'geistig-moralischen Wende', gerade in Opposition zu den Regierenden. Die Politik darf und soll das Gedenken fördern, aber nicht verordnen, und genau das wird hier voll Eifer versucht."

Auch Ayala Goldmann fürchtet in der Jüdischen Allgemeinen eine "weichspülende Geschichtspolitik, die allen gefallen soll": "Die Schoa, der Mord an sechs Millionen Juden, ist kein Verbrechen unter vielen. Wenn ein Entwurf des deutschen Kulturstaatsministeriums daran den geringsten Zweifel lässt, ist er das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben steht."

Lisa Berins stellt sich in der FR hinter Claudia Roth, die auch in der Kritik steht, weil sie bei der Preisverleihung der Berlinale (unser Resümee) geklatscht hatte und beim Thema Antisemitismus laviere: "Man kann Kritik an einer zurückhaltenden Politik Roths üben, auf der anderen Seite ist es eine utopische Vorstellung, dass ein in der Gesellschaft grassierender Antisemitismus durch eine 'durchgreifende' Kulturpolitik einfach so aus der Kulturszene 'herausgehalten' werden könnte. Ein gesamtgesellschaftliches Problem braucht wohl auch eine gesamtgesellschaftliche Lösung. Mit dem Finger auf eine einzelne Politikerin zu zeigen, riecht jedenfalls nicht nur nach parteipolitischer Agitation und womöglich nach Misogynie, sondern ist auch einfach unlogisch."
Archiv: Kulturpolitik

Europa

Die Gesundheitswissenschaftlerin Daphne Hahn hat einen großen Bericht über "Erfahrungen und Lebenslagen ungewollt Schwangerer" vorgelegt und wirft im taz-Gespräch mit Patricia Hecht einen sehr kritischen Blick auf die Versorgungslage in Deutschland: "Mehr als die Hälfte der befragten Frauen fand es schwierig, ausreichende und gute Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen zu finden. Von denen wiederum hatte die Hälfte Angst, dass schlecht über sie gedacht wird, wenn sie einen Abbruch wollen. Fast die Hälfte wollte oder musste den Abbruch geheim halten. Beides spiegelt Stigma wider."

Der Westen begegnet Russland häufig mit "Meinungen und Hypothesen"; eine tiefere Kenntnis von Land und Leuten fehlt oft, kritisiert der Schriftsteller Christoph Brumme in der NZZ, der seit 2016 in der Ukraine lebt. Immer wieder wird der Gegner falsch eingeschätzt, so Brumme, der die enge Verquickung von Mafia und Staat in Russland erläutert, die sich in Putins Politik niederschlägt: "Eines der wichtigsten Kriegsziele Putin-Russlands ist die Durchsetzung des Rechts des Stärkeren, die Herrschaft der rohen Gewalt, der Prinzipien der Mafia-Kultur im globalen Maßstab. ... Russland kann im friedlichen Wettbewerb mit entwickelten Ländern nicht mithalten. Seine Innovationskraft ist bescheiden, seine Soft Power angsteinflößend, seine demografische Entwicklung düster, die Gewalt gegenüber Frauen weltrekordverdächtig. In Bezug auf Frieden und Freiheit ist der Westen Russland in allen Belangen haushoch überlegen. Er ist ökonomisch weitaus flexibler, produktiver und stärker, diplomatisch und kulturell besser vernetzt, bietet seinen Bürgern die höhere Lebensqualität, hat die produktivere Selbstorganisation und deshalb mehr Handlungsmöglichkeiten. Putins Russland fühlt sich aber körperlich (militärisch) stärker, weil es bereit ist, rohe Gewalt zum Erreichen seiner Ziele einzusetzen."´

Putin ist nicht verrückt, versichert der britische Russlandexperte Mark Galeotti im SZ-Interview mit Cathrin Kahlweit. Vielmehr sei er "ein zutiefst unheimlicher, rationaler Akteur, der viele seltsame Dinge glaubt", meint Galeotti. An eine Bedrohung der Nato glaubt Galeotti nicht: "Putin versucht nicht, die Sowjetunion wiederzubeleben und auch nicht das Zarenreich. Er will die Länder nicht zwingend regieren, die er zu seinem Interessengebiet zählt. Ihm hätte es gereicht, wenn die Ukrainer ihren Platz in der russischen Welt nicht infrage gestellt hätten. Derzeit lautet die Frage, ob Putin weitere Länder angreift. Ich persönlich sehe keine territorialen Ambitionen. Dieses Land hat 20 Jahre lang Milliarden in seine Armee investiert, in eine glänzende Maschine, die von außen sehr eindrucksvoll aussah, wenn sie über den Roten Platz rollte. Und dann hat er alles zunichtegemacht. Die zweitstärkste Armee der Welt erwies sich als die zweitstärkste Armee in der Ukraine. Und jetzt will er eine Armee aufbauen, welche die Nato herausfordert?"
Archiv: Europa
Stichwörter: Abtreibung, Russland

Geschichte

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Paul Middelhoff führt für die Zeit ein Gespräch mit dem Historiker Daniel Marwecki, der wie in seinem Buch "Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson" darauf beharrt, dass die deutsch-israelische Aussöhnung beidseitig eiskalte Interessenpolitik gewesen sei. Das Reden von der Staatsräson ist darum für ihn mehr oder weniger vorgeschützt und hat möglicherweise keine bindende moralische Wirkung. Marwecki kritisiert sowohl den iraelischen Krieg gegen die Hamas, als auch den grassierenden linken Antisemitismus. Am Ende warnt er "Die komplexe Realität anzuerkennen, würde die Vergangenheitsbewältigung erheblich erschweren. "

Außerdem: Anne Rabe bespricht in der FAZ eine Ausstellung über Vertragsarbeiter in der DDR im Berliner Haus der Kulturen.
Archiv: Geschichte