9punkt - Die Debattenrundschau
Die anderen sind mächtiger
Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
Europa
In Kopenhagen wurde das Denkmal zu Ehren der Rettung der Juden während der Shoah von Nazis geschändet. pic.twitter.com/QmbjEANXI8
- Markus Schaub 🎗️ (@M_Schaub) May 9, 2024
Niederlande.
In den Niederlanden wurden nun - erstmals - Stolpersteine entfernt.
- Martin Lenz (@Going_Loopy) May 10, 2024
Die gegenwärtigen Proteste - selbst wenn sie friedlich sein sollten - bewegen sich inzwischen in einem veränderten Kontext. https://t.co/7VxXoXyMZr
Eine griechische Schlagersängerin beim European Song Contest, während ihre israelische Kollegin Eden Golan von der Presse befragt wird:
37 year old Greek Eurovision entry Marina Satti behaves like a CHILD as she pretends to be asleep for the cameras as Israeli singer Eden Golan spoke at a press conference. pic.twitter.com/PojFwUc1AB
- Oli London (@OliLondonTV) May 10, 2024
Frankfurt. Patrick Bahners, Redakteur einer renommierten Zeitung, erklärt die Parole "From the River to the Sea".
Es bedeutet ja auch nicht notwendig die "Auslöschung" Israels. Es bedeutet zunächst nur, dass ein sog. freies Palästina an die Stelle des heutigen Staates Israel treten soll. "Auslöschung" suggeriert gewalttätige, sogar genozidale Mittel.
- Patrick Bahners (@PBahners) May 10, 2024
Große Empörung herrscht auf Twitter über eine Seite der Bild-Zeitung, die einige der tausend Professoren des Berliner Dozentenaufrufs (unser Resümee) namhaft macht.
Es gehört zur Demokratie, dass man in politischen Fragen auch mal scharf debattiert. Aber es sollte für alle eine ganz klare rote Linie sein, wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf diese Weise öffentlich markiert und gebrandmarkt werden.
- Linus Westheuser (@LWestheuser) May 10, 2024
Das geht zu weit. pic.twitter.com/XFzdXZZIwU
Bei einem Vortrag von Professor Alfred Bodenheimer zum Thema Antisemitismus an der Uni Hamburg kam es zu einem gewalttätigen Vorfall, berichtet Michael Thaidigsmann in der Jüdischen Allgemeinen: "Einem Vorstandsmitglied des Hamburger Landesverbands der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) wurde nach einer verbalen Auseinandersetzung ins Gesicht geschlagen. Die 56-jährige Frau war zunächst übel beschimpft worden. Anschließend wurde sie gewürgt und durch einen Faustschlag an der Nase verletzt." Die Frau, die sich übrigens tatkräftig wehrte, musste in der Notaufnahme eines Krankenhauses versorgt werden.
Die Besetzung des FU-Campus war nicht so friedlich, wie es die inzwischen 339 Dozenten plus 726 externen Unterstützer behaupten, schreibt Philipp Peyman Engel in der Jüdischen Allgemeinen, mit Parolen wie "From the River ..." oder "Yallah Yallah Intifada" wurde zur Gewalt aufgerufen. Engel wendet sich direkt an die Unterzeichner: "Würden sie sich auch hinter die Studenten-Proteste stellen, wenn es nicht linksextreme, sondern rechtsextreme Studierende wären, die die Auslöschung Israels fordern und zu Gewalt gegen Juden aufrufen? Gewiss nicht. Zu Recht. Warum tun sie es dann hier? Muss man es Akademikern wirklich erklären? Es darf keinen Kulturrabatt bei Judenhass geben."
Das erste Camp auf dem Campus einer Uni in Deutschland gab es in Köln, berichtet Tom Konjer in der FAZ: "Mittlerweile stehen die Zelte schon fast eine Woche lang. Darauf, dass es das erste propalästinensische Studenten-Camp in Deutschland ist, sind die Demonstrierenden hier stolz. Damit habe man etwas angestoßen und Studenten im ganzen Land inspiriert, mitzuziehen. Doch ist fraglich, ob das Camp von Studenten organisiert wird, nicht viele im Camp bezeichnen sich als solche."
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Die taz kommt auf einen gewalttätigen Angriff gegen einen Dresdner SPD-Politiker zurück, der beim Aufstellen von Wahlplakaten zusammengeschlagen wurde. Bundesinnenministerin Nancy Faeser sprach von einer "neuen Dimension antidemokratischer Gewalt", aber das ist eine Beschönigung, findet der Extremismusexperte David Begrich im Gespräch mit Konrad Litschko von der taz. Besonders in den Neuen Ländern habe man viel zu lange weggesehen: "Natürlich erleben wir nicht jeden Tag solch schwere Gewalttaten. Aber ich will daran erinnern, dass wir schon seit Jahren etwa körperliche Angriffe auf Journalisten und Journalistinnen erleben, die in Sachsen über die rechten Montagsdemonstrationen berichten. Oder denken Sie zurück an die Wahlkämpfe Ende der Neunziger Jahre in Ostdeutschland, da gab es ähnliche Situationen, als Neonazis aus dem NPD-Umfeld gewalttätig wurden. Der Angriff auf Matthias Ecke ist daher Teil einer langen Kontinuität, nicht eine Ausnahme."
In der FAS wird die Brandenburger FDP-Politikerin Linda Teuteberg zu den tätlichen Angriffen gegen Politiker interviewt. Die meisten Opfer gewaltsamer körperlicher Angriffe seien allerdings AfD-Politiker gewesen, sagt Interviewer Jochen Buchsteiner und fragt, ob hier mit zweierlei Maß gemessen werde: "Das darf jedenfalls nicht geschehen. Es gibt keine ethische Überlegenheit irgendeiner Variante des gewaltbereiten Extremismus und niemals eine Rechtfertigung für Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung. Die Regeln des demokratischen Rechtsstaates müssen ohne Ansehen der Person und des politischen Lagers angewendet werden." In dem Gespräch äußert sich Teuteberg auch noch mal zum "Demokratiefördergesetz" (unsere Resümees). Es sei "ein Widerspruch in sich, Nichtregierungsorganisationen strukturell und dauerhaft von der Regierung finanzieren zu lassen".
Überaus trist liest sich Sascha Zastirals Bilanz nach dem Brexit einige Jahre danach. Aus den hochfliegenden Versprechungen ist nicht viel geworden, neue Freihandelsverträge gibt es kaum, die Wirtschaft ist geschrumpft, das Land deprimiert, erzählt er in der taz. "Von den wirtschaftlichen Folgen des Brexits sind heute tragischerweise viele der wirtschaftlich abgehängten Regionen besonders stark betroffen, in denen es beim EU-Referendum 2016 eine Mehrheit für den EU-Austritt gab. Dass die Menschen dort für den Brexit gestimmt haben, hatte oft weniger mit einer Sehnsucht nach einem Status als Weltmacht zu tun als mit dem Willen, gehört zu werden."
Eine der schärfsten Waffen Alexej Nawalnys waren die großen Dokumentationen über russische Korruption, die er bei Youtube einstellte (es lebe dieses böse Internet). Seine ehemalige Mitarbeiterin Marija Pewtschich hat nun bei Youtube eine Reihe von drei einstündigen Filmen eingestellt, die auf die neunziger Jahre zurückkommt, die Putin möglich machten, berichten Friedrich Schmidt und Reinhard Veser in der FAS. Sie schidert, "wie Jelzin, der Ende der Achtzigerjahre als Volkstribun und Kämpfer gegen die Privilegien kommunistischer Funktionäre populär geworden war, sich schon zu Beginn seiner Regierungszeit auf Staatskosten selbst eine Wohnung angeeignet und andere Luxuswohnungen freihändig an Familie, politische Mitstreiter und Freunde verteilt hat. Wie der Geschäftsmann und Strippenzieher Boris Beresowskij mit fiktiven Verträgen den damals größten staatlichen Fernsehsender unter seine Kontrolle brachte. Und vor allem, wie eine Gruppe von Oligarchen Mitte der Neunzigerjahre vom russischen Staat im Gegenzug für ein gigantisches Geschäft 1996 die Wiederwahl Jelzins sicherstellte." Die Videos sind hier mit englischen Untertiteln zu sehen.
Die Öffentlichkeit hat kaum noch Kapazität, die anhaltenden schicksalhaften Demonstrationen in Georgien wahrzunehmen. Sie richten sich gegen ein Gesetz, das Gegner der Regierung zu "ausländischen Agenten" erklären soll, ganz so, wie die Repression in Russland zugeschnappt hat. Dieses Gesetz diene "ganz bewusst der Provokation des Westens", schreibt Tobias Münchmeyer in der FAS. Die Regierung wolle den europäischen Traum der georgischen Bevölkerung schleifen: "Die europäischen Politiker - von der Leyen, Macron, Michel und Scholz -, sie äußern sich kritisch und drohen für den Fall des Gesetzesbeschlusses mit Aufhebung der Visumfreiheit oder sogar dem Entzug des EU-Kandidatenstatus. Das ist richtig - und doch auch ein Dilemma, denn: Diese Drohungen laufen ins Leere, da die Regierung ja nicht wirklich Mitglied in der Europäischen Union werden will. Immer wieder tappen europäische Diplomaten in diese Falle, anstatt mit gezielten Sanktionen Druck auszuüben."
Geschichte
An Josip Broz Tito, dem ehemaligen Staatsoberhaupt Jugoslawiens, scheiden sich heute die Geister, berichten Ksenija Cvetković-Sander und Martin Sander in einer Reportage für die NZZ: "Besonders für Touristengruppen aus dem Ausland ist Tito eine Attraktion. Unter den Einheimischen sind die Meinungen über ihn streng geteilt. Die Trennlinie verläuft zwischen dem größtenteils bosniakischen Osten und dem überwiegend kroatischen Westen." Nirgendwo zeige sich das deutlicher, als an dem vom Belgrader Architekten Bogdan Bogdanović entworfenen Partisanenfriedhof in Mostar, der immer wieder mutwillig beschädigt werde. "Die politische Verantwortung tragen die nationalkroatischen Politiker der Stadt, für die das Werk nur eine lästige Erinnerung an die Einheit und Brüderlichkeit der jugoslawischen Völker darstellt. Der 2010 im Wiener Exil verstorbene Bogdanović war nicht nur Architekt und Denkmalbauer, sondern auch ein ziemlich liberaler jugoslawischer Kommunist. In den achtziger Jahren hat er als Bürgermeister von Belgrad amtiert, bis die reformorientierte Parteiführung der damaligen jugoslawischen Teilrepublik Serbien von den Nationalkommunisten um Slobodan Milošević in die Wüste geschickt wurde. Heute, unter der Präsidentschaft von Aleksandar Vučić, hat sich der faschistoide Nationalismus von Milošević in Serbien erneut verfestigt, während die marxistischen Lehren der Tito-Ära einem putinesken Mystizismus gewichen sind."
Ideen
Der 7. Oktober war nicht nur ein abscheulicher Mordkarneval. Er trug auch symbolträchtige, programmatische Züge, die der Historiker Gad Arnsberg in der virtuellen FAZ-Printbeilage "Bilder und Zeiten" thematisiert: "Hier wurden jüdische Zivilisten (und auch Nichtjuden) erstmals Opfer eines Pogroms im eigenen Land, und der Staat setzte aus. Zugleich sollten eingesessene Ortschaften, die die Angreifer als 'Siedlungen' gleich denen in der Westbank betrachten, leer gefegt und unbewohnbar gemacht werden. Von der Zerstörung der Orte sollte eine Signalwirkung ausgehen, die in nuce ankündigt, was der jüdischen Ansiedlung in ganz Israel droht, nämlich die komplette Ausradierung und Aufhebung des zionistischen Aufbauwerks."
Außerdem: Ebenfalls in "Bilder und Zeiten" liest Marc Zitzmann einige französische Neuerscheinungen zum Völkermord in Ruanda vor dreißig Jahren. In der Welt versucht Jan Küveler dem Begriff des "Globalen Südens" auf die Spur zu kommen, dem einzigen Süden, dessen Gegenpol der Westen ist.