Adolf Frise

Wir leben immer mehrere Leben

Erinnerungen
Cover: Wir leben immer mehrere Leben
Rowohlt Verlag, Reinbek 2004
ISBN 9783498020910
Gebunden, 256 Seiten, 19,90 EUR

Klappentext

In einer Kleinstadt am Niederrhein geboren, wird er als Kind Zeuge der belgischen Besatzung und des Separatistenaufstands. Gymnasium, Studium in München, Berlin und Heidelberg. Promotion, erste Schritte als Autor mit kurzen Erzählungen und Feuilletons. Begegnungen u.a. mit Gottfried Benn, Karl Jaspers, Friedrich Gundolf, Ernst Rowohlt und natürlich Robert Musil. Die Machtübernahme der Nazis scheint auf ihn zunächst keinen großen Eindruck zu machen, bis die SS-Zeitschrift "Das schwarze Korps" ihm eine Musil-Kritik übelnimmt. Dann der Krieg, er wird durch Zufall Augenzeuge von Massenerschießungen im Osten.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 21.04.2004

Als vorbildliche, spannend geschriebene Autobiografie preist Hans Christian Kosler Adolf Frises Lebensbericht "Wir leben immer mehrere Leben", dessen Erscheinen der im Jahr 2003 verstorbene Journalist nicht mehr erlebt hat. Frise spiele sich nicht als "Zeuge des Jahrhunderts" auf, begründet Kosler seine Sicht, sondern bleibe bei dem, was er gesehen und erlebt habe, "ein Gewährsmann des eigenen Lebens", das er unprätentiös, sachlich und mit "der nötigen Gelassenheit" schildere. Frise konnte beim Schreiben seiner Erinnerungen auf Tagebuchaufzeichnungen zurückgreifen, erklärt Kosler weiter, was einerseits zur Authentizität seiner Eindrücke beitrage, andererseits den Verfasser vor dem besserwissenden Blick des Rückwärtsschauenden bewahre. Frises Jugend führt noch in die Kaiserzeit zurück, es folgten Jahre des Studiums in Heidelberg und Berlin, Krieg und Nachkriegszeit, in der Frise Kulturredakteur beim hessischen Rundfunk wurde. Sein Leben war ereignisreich, er kannte viele Persönlichkeiten der Weimarer Republik und weiß spannend von diesen Begegnungen und Freundschaften zu berichten, meint der Rezensent. Als wohltuend empfindet er, dass Frise dabei völligen Verzicht auf Schuldzuweisungen und Selbstbezichtigungen übt, vor allem was die Zeit des Nationalsozialismus angeht.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 28.02.2004

Sehr untypisch fürs Genre "Autobiografie" wollen dem Rezensenten Andreas Bernard die im Alter von mehr als 90 Jahren verfassten Memoiren des als Musil-Herausgeber berühmt gewordenen, freilich auch als Romanautor tätigen Adolf Frise vorkommen. Nichts werde hier abgerundet und im Nachhinein in epische Zusammenhänge geglättet. Präsent wird vielmehr die Mühe des Erinnerns - und so präsent wie das Erinnern ist sein Gegenstück: das Vergessen. An seine Mitschüler etwa erinnert sich Frise kein bisschen. Dazu kommen Brechungen im Textmaterial selbst, wenn der Autor etwa frühe Notizen und Tagebuchaufzeichnungen zitiert und sogar die später noch einmal notierten Begegnungen mit Notiertem. Im Zentrum der Erinnerungen stehen nicht die Beschäftigung mit Musil, sondern Frises Leben als Journalist und Autor, die Begegnungen mit Menschen (einmal nur mit "Dr. Musil"). Das alles überwiegend im Protokollstil, der jedoch, so Bernard, immer wieder heftige Kontrastwirkungen zum dramatischen Geschehen hervorbringt.
Lesen Sie die Rezension bei buecher.de

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 26.02.2004

Gleich im ersten Satz spürt Rolf Michaelis die ganze Größe der "leider" unvollendeten" Autobiografie des Kritikers und Essayisten Adolf Frise. Gleich zu Beginn merke man, schreibt der Rezensent, dass hier nicht die vertraute Unentschiedenheit des Kritikers vorherrscht, sondern das "Kunstprogramm" eines Autors, der uns alle persönlichen und zeitgeschichtlichen Widersprüche unverblümt zumute. Dieses Erzählprogramm verfolge Frise zumindest im ersten Teil konsequent und "gründlich". Die Aufrichtigkeit der Bekenntnisse "adelt" die Biografie mehr als alle Erinnerungen, Geschichten und Anekdoten es tun könnten, die zwar durchaus vorkommen, aber nur dann, wenn es der "genauen" Komposition des Buchers zuträglich ist. Umso enttäuschender ist für Michaelis der zweite Teil, den Frise nach Ansicht des Rezensenten nicht mehr überarbeiten konnte. Hier hätte sich der Rezensent vom Verlag einen Kommentar, wenn auch "noch so bescheiden", über den Zustand des Manuskripts gewünscht. "Muss der Verlag das Werk so lieblos vorstellen?"

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 21.02.2004

Adolf Frises Leben wurde von einem unerwarteten Wendepunkt vollkommen vereinnahmt, schreibt Rezensent Oliver Pfohlmann. Denn aus seiner Begegnung mit Robert Musils "Mann ohne Eigenschaften", der zu einer kleinen, aber feinen Korrespondenz zwischen Musil und Frise führte, wurde über Nacht (mit Musils Tod und dem überraschenden Auftrag, Musils Nachlass zu verwalten) eine Berufung und ein Lebenswerk, dem Musil seine Wiederentdeckung und literarische Präsenz verdanke. Die vorliegenden Aufzeichnungen des mittlerweile verstorbenen Frise, so der Rezensent, machen diesen Wendepunkt deutlich und halten noch weitere Erkenntnisse bereit, gerade was das stark autobiografische Substrat Frises eigener Romane (die aufgrund der immensen Musil-Aufgabe ins Hintertreffen gerieten) angeht. Wobei den Rezensenten vor allem die aus der Zeit der Nazi-Herrschaft stammenden Zeugnisse interessieren, die Frise in einen "komprimierten, spröden" und doch "unprätentiösen" Stil gießt, der mit "geistiger Mitarbeit" vonseiten des Lesers rechnet und diesen zu "konzentrierter, komplettierender Lektüre" zwinge.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 11.02.2004

Adolf Frise war nach 1945 einer der Väter des deutschen Kulturjournalismus, stellt Stephan Reinhardt den Autor vor, der mit "Wir leben immer mehrere Leben" seine Autobiografie geschrieben hat. Sie bricht in der Lebensmitte ab. Frise habe eine zweiten Teil geplant, vermutet Reinhardt, doch der Autor starb überraschend im Jahr 2003. So verteilen sich die "mehreren Leben" auf die erste Lebenshälfte Frises, die für den Rezensenten Stoff genug bietet. In seinen Augen ist "Wir leben immer mehrere Leben" ein Schlüsseltext, der davon handelt, wie ein unpolitischer Literaturliebhaber in die Fänge des NS-Regimes geriet und sich ihnen zu entziehen suchte: durch Reisen, Schreiben und innere Immigration, darin dem Frise- Freund Gottfried Benn nicht unähnlich. Vor allem aber hat sich Frise um Robert Musil verdient gemacht, für den er schon sehr früh eine Lanze brach, was ihm eine Rüge der Nazis eintrug, und dessen Nachlass er später herausgegeben hat. Frises Autobiographie ist temporeich und manchmal etwas stakkatohaft erzählt, findet Reinhardt und bedauert sichtlich, dass es zu keiner Fortsetzung mehr gekommen ist.