Annie Ernaux

Der junge Mann

Cover: Der junge Mann
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023
ISBN 9783518431108
Gebunden, 48 Seiten, 15,00 EUR

Klappentext

Aus dem Französischen von Sonja Finck. Sie ist Mitte fünfzig und beginnt ein Verhältnis mit einem dreißig Jahre jüngeren Mann. Einem Studenten, noch dem Milieu verhaftet, aus dem sie sich emanzipiert zu haben glaubt. Er verlässt die gleichaltrige Freundin und liebt sie mit einer Leidenschaft wie keiner zuvor. Entrückte Tage und Nächte in seinem kargen Zimmer, Matratze auf dem Boden, löchrige Wände, defekter Kühlschrank. Doch die intime Episode ist zugleich etwas Politisches, auf der Straße, in den Restaurants und Bars: fast ständig böse Blicke, wütende Reaktionen. Sie ist wieder das "skandalöse Mädchen" ihrer Jugend, nun aber ganz ohne Scham, mit einem Gefühl der Befreiung. Irgendwann erträgt er ihre frühere Schönheit nicht mehr, und sie erlebt bloß noch Wiederholung, obwohl er "ihr Engel ist, der die Vergangenheit heraufbeschwört, sie ewig leben lässt". Und was heißt das für die Zukunft?Annie Ernaux bricht ihr letztes Tabu - radikal pointiert und prägnant erzählt sie von einer skandalösen Liebesbeziehung, einer ambivalenten Rückkehr in die eigene Vergangenheit und der triumphalen Überwindung einer lebenslangen Scham.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 21.02.2023

Rezensentin Judith von Sternburg lernt allerhand über die Mechanismen der Erinnerung mit diesem Buch über eine ungleiche Paarbeziehuung von Annie Ernaux. Dass die Autorin Lesererwartungen unterläuft, indem sie weniger das Glück thematisiert als vielmehr die Zeit und den Tod, gefällt Sternburg. Entstanden ist laut Sternburg kein von Zweifeln handelnder Liebesroman, sondern ein Buch, das geradezu "hochgemut" Leidenschaft, Erinnerung und Macht betrachtet und damit auch die Liebe selbst.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 20.01.2023

Rezensentin Meike Feßmann sagt "Wow!" zu Annie Ernaux' kleinem Buch mit großer emanzipatorischer Sprengkraft. Die Geschichte der Liebe einer 50-jährigen Frau zu einem Studenten erzählt die Autorin laut Feßmann in gewohnter autofiktionaler Meisterschaft, indem sie den Zusammenhang von Schaffenskraft und Sex bzw. Eitelkeit herausarbeitet. Dass dabei "männliches Geheimwissen" gesprengt wird, stellt Feßmann gemeinsam mit der Autorin durchaus befriedigt fest. Die erkennbare Konstruiertheit auch dieses Erinnerungsbuches stört die Lesefreude keineswegs, betont die Rezensentin.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 13.01.2023

Rezensentin Birgit Schmid zeigt sich irritiert nach der Lektüre von Annie Ernaux' Erzählung über eine Affäre mit einem sehr viel jüngeren Mann. Was sich in anderen Romanen der Autorin als besondere Kunst darstellt - ihr nüchternes autobiografisches Erzählen - wirkt in "Der junge Mann" plötzlich unangemessen und kalt. Viele schöne Sätze findet Schmid in diesem Buch, doch Ernaux lesen, das ist normalerweise mehr, als schöne Sätze anstreichen. Statt dass sich aber aus der literarisierten, subjektiven Erfahrung eine allgemeine Wahrheit herausschält wie sonst in den Texten dieser Ausnahmeautorin, bleibt es hier beim bloßen Kreisen um sich selbst, welches die Rezensentin nicht nur als "selbstbezogen", sondern geradezu "selbstgefällig" empfindet. Ist Annie Ernaux' Methode erschöpft, fragt man sich unweigerlich auch angesichts des geringen Umfangs dieses Buches? Hat sie sich womöglich "ausgeschrieben"?, überlegt die enttäuschte Rezensentin.

Rezensionsnotiz zu Die Welt, 07.01.2023

Rezensent Tilman Krause fühlt sich von Annie Ernaux' neuem Buch offenbar beleidigt. Dass Männer in Ernaux' Werken nicht gut weg- bzw. gar nicht vorkommen, ist bekannt und verzeihlich. Auch dass der eine Mann, von dem bzw. von dessen Funktion für ihr Schreiben und Selbstverständnis Ernaux nun doch einmal vergleichsweise ausführlich erzählt, dass dieser Mann instrumentalisiert wird als "Zeitöffner", der ihr die Erinnerung aufschließt, findet Krause nicht abwegig. Schließlich liege die Ausbeutung eines jeden Widerfahrnis' gewissermaßen in der zweiten Natur des kulturschaffenden Menschen. Allerdings, und hier ist Krauses Enttäuschung begründet, hätte er von einer Autorin wie Ernaux doch wenigstens eine Analyse dieser Dynamik erwartet. Dass die Autorin diese Analyse nicht leistet, kann der Rezensent sich nur mit Rachlust erklären: Vielleicht wolle Ernaux zur Abwechslung ja einmal nicht das Proletariat rächen, sondern all die Frauen, die von großen, schreibenden Männern als bzw. zu Musen instrumentalisiert und reduziert wurden.