Annie Ernaux

Der Platz

Cover: Der Platz
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
ISBN 9783518225097
Gebunden, 94 Seiten, 18,00 EUR

Klappentext

Aus dem Französischen von Sonja Finck. Annie Ernaux schreibt die objektive Biografie ihres Vaters. Dabei wird sie zur genauen Beobachterin der Verhältnisse, aus denen sie stammt. Das Erscheinen von Der Platz 1983 markiert einen Einschnitt in der französischen Literatur - diese neuartige Form der Selbstbetrachtung ist der Glutkern der Autofiktion. Ihr Vater stirbt, und Annie Ernaux nimmt das zum Anlass, sein Leben zu erzählen: Um die Jahrhundertwende geboren, musste er früh von der Schule abgehen, war zunächst Bauer, dann, bis zum Todesjahr 1967, Besitzer eines kleinen Lebensmittelladens in der Normandie, die körperliche Arbeit ließ ihn hart werden gegen seine Familie. Das Leben des Vaters ist auch die Geschichte vom gesellschaftlichen Aufstieg der Eltern und der gleichzeitigen Angst, wieder in die Unterschicht abzurutschen, von der Gefahr, nicht zu bestehen. Dass seine Tochter eine höhere Schule besucht, macht ihn stolz, trotzdem entfernen sich beide voneinander. Und so ist die Erzählung der Tochter auch die eines Verrats: An ihren Eltern, einfachen Menschen, und dem Milieu, in dem sie aufgewachsen ist - gespalten zwischen Zuneigung und Scham, zwischen Zugehörigkeit und Entfremdung.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 08.04.2019

Peter Urban-Halle freut sich über die Neuübersetzung des Buches von Annie Ernaux. Seiner Meinung nach kam die Autorin damit 1983 zu früh auf den Markt, erst die Welle von "autosoziobiografischen" Texten von Eribon oder auch Knausgard ebnete den Boden für das Verständnis eines Erzählens, das vom romanesken Ton abweicht und sich der Realität sozialer Verhältnisse widmet, meint er. Den autobiografischen Vater-Bericht, den Ernaux hier vorlegt, versteht der Rezensent als radikalen Gegenentwurf zum herkömmlichen Erzählen, nüchtern, fast kalt.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 02.04.2019

Paul Jandl bewundert, wie Annie Ernaux in ihrer Erinnerungsprosa alle Sentimentalitäten vermeidet, um mit einem unverstellten soziografischen Blick ihr eigen Geschichte, ihre Familie und die ländliche Normandie zu erkunden. Das verblüffende Ergebnis dieser "literarischen Wissenschaft" sei ein warmherziges, geradezu zärtliches Porträt ihres verstorbenen Vaters, in dessen Welt vor allem der Wunsch vorherrschte, "es besser zu haben". Der Vater kam aus einer Familie sprachloser Tagelöhner, er hatte sich das Geld für eine Kneipe zusammengespart und dann seiner Tochter ein Studium ermöglicht. Aber schon der bescheidene Aufstieg ging auch einher mit dem Bewusstsein für soziale Unterschiede. Wie Ernaux die Scham beschreibt, die mit der Deklassiertheit einhergeht, die ständige Angst vor der Entblößung, das hat den Rezensenten sehr berührt.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 22.03.2019

Insa Wilke macht eine erstaunliche Erfahrung beim Wiederlesen des Buches von Annie Ernaux aus dem Jahr 1986. Wurde das Buch bei seinem ersten Erscheinen als durch die Sprache bewerkstelligte zweite (nach der intellektuellen) Distanzierung der Autorin vom Vater und seiner Lebenswelt verstanden, lässt sich heute beim Lesen der Neuübersetzung von Sonja Finck laut Wilke klar erkennen, dass es sich dabei um ein Missverständnis handelte. Vor dem Hintergrund von Didier Eribons literarischer Verarbeitung seiner Entwicklungsgeschichte erkennt der heutige Leser laut Wilke, dass die als Ethnologin arbeitende Autorin mit ihrer nüchternen Sprache weder Distanz noch Verbrüderung anstrebt, sondern die möglichst genaue Abbildung eines Milieus und seiner Konflikte. Für Wilke ein erstaunlich früher Versuch der Befreiung von Scham.
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Rezensionsnotiz zu Die Welt, 09.03.2019

Rezensentin Barbara Vinken bewundert den leisen Ton, mit dem Annie Ernaux in diesem autobiografischen Buch vom Aufstieg einer französischen Familie über drei Generationen und von der akademischen "agrégation" der Ich-Erzählerin berichtet. An Didier Eribons Erfolgsgeschichte "Rückkehr nach Reims" erinnernd erzählt das Buch laut Vinken mit harten, genauen Linien und doch auch zärtlich in der Beschreibung der Vaterfigur, eines Typus, einer Schicht, von Herkunft und Aufstieg und verleiht dem sterbenden Vater eine Stimme.