Marcel Beyer

Kaltenburg

Roman
Cover: Kaltenburg
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008
ISBN 9783518419205
Gebunden, 400 Seiten, 19,80 EUR

Klappentext

Ludwig Kaltenburg, geboren 1903, Biologe, arbeitet Ende der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts in Posen. Dort begegnet er zum ersten Mal dem Ich-Erzähler, zu diesem Zeitpunkt noch ein Kind. Im Gefolge des Zusammenbruchs des "Dritten Reichs" flüchtet der Junge mit seinen Eltern nach Dresden. Dessen Bombardierung im Februar 1945 überlebt er und beginnt ein Studium der Ornithologie, das ihn erneut in engen Kontakt zu Kaltenburg bringt. Der kann in Dresden ein eigenes Institut gründen und sich internationales Renommee erwerben.
Wie erfahren die beiden Wissenschaftler, der angehende und der erfolgreiche, die Gründung und Konsolidierung der DDR in Dresden, welche Wendungen nehmen die Lebensläufe der beiden in den unterschiedlichen Stadien der DDR, wie erlebt der Ornithologe schließlich das Ende der DDR?

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 13.03.2008

Ganz einfach ist Marcel Beyers "Kaltenburg" nicht zu lesen, gibt der Rezensent Christoph Schröder zu bedenken. Doch es lohnt, sich auf die Verschiebungen und Verschleifungen in Beyers Erzählchronologie einzulassen. Wie in seinen vorigen Romanen ist auch dieser eine alles andere als oberflächliche Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, lobt der Rezensent. Hauptfigur ist der deutlich nach dem Vorbild Konrad Lorenz' modellierte Ornithologe Ludwig Kaltenburg, der als Mitläufer bei den Nazis mitgetan, danach in der DDR ein Forschungsinstitut aufgebaut und sich schließlich, von den Repressalien des Systems aufgerieben und desillusioniert, nach Wien abgesetzt hat. An seiner Person - wie an zwei weiteren Romanfiguren, die an Joseph Beuys und Heinz Sielmann angelehnt sein sollen - verhandele Beyer mit Tiefgang die persönlichen und psychologischen Dimensionen der Zeitgeschichte. Eine literarische Leistung ist dies allemal, preist Christoph Schröder, und außerdem "spannender und suggestiver" Lesestoff.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 13.03.2008

Enttäuscht ist Rezensentin Kristina Maidt-Zinke von Marcel Beyers neuem Roman, der ihren Informationen zufolge diesmal deutsche Geschichte aus DDR-Perspektive aufarbeiten will. Wie in seinem Erstling seien auch diesmal "fliegende Lebewesen" im Spiel, denn der Titelheld sei Ornithologe. Zwar findet die Rezensentin das Eröffnungsszenario äußerst gelungen. Doch geht das Konzept des Autors, mit Nazideutschland und der DDR zwei Zwangssysteme aus der Sicht des Verhaltensforschers zu beleuchten, am Ende nicht auf. So hat Beyer mit seiner "wirkungsmächtigen Ouvertüre" nach Ansicht Maidt-Zinkes sein Pulver bereits verschossen. Zwischen stofflichem Ehrgeiz und sprachlicher Reizlosigkeit gerät das Werk für sie - zusätzlich belastet durch "viele farblose Nebenfiguren" und etwas zu üppig gestreutes ornithologisches Fachwissen - bald ins Trudeln und entpuppt sich für sie am Ende doch als streberhaftes Konstrukt.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.03.2008

Die Besprechung ist der Aufmacher der Literaturbeilage zur Leipziger Buchmessen - ein klares Zeichen für die Bedeutung, die Literaturredakteur Hubert Spiegel diesem Buch beimisst. In der Tat ist er in seiner Rezension der Bewunderung voll für diesen Roman, den er noch über Marcel Beyers fast schon zum Klassiker avanciertes Werk "Flughunde" von 1995 stellt. Wieder nähert sich Beyer hier deutscher Geschichte voller Raffinesse auf Umwegen. Im Zentrum des Buches steht der Tierforscher Ludwig Kaltenburg, der jedoch aus der Perspektive des Erzählers Hermann Funk geschildert wird. Nur nach und nach setzt sich ein Bild beider Figuren zusammen und so wird auch im Verlauf des Romans aus einer "Vielzahl von Andeutungen" erst klar, dass es in Kaltenburgs Vergangenheit unrühmliche Kapitel gibt. Zwar seien, so Spiegel, Verweise vom Roman auf reale Figuren - von Konrad Lorenz bis Joseph Beuys - unübersehbar, zum bloßen Schlüsselroman entwerte das Beyers Text aber noch lange nicht. Vielmehr handle es sich um eine "meisterliche Vergegenwärtigung" deutscher Vergangenheit, ein Buch, das Beyers "ungeheures Talent, längst verstummte Stimmen wieder erklingen zu lassen", aufs Neue belege.
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Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 11.03.2008

"Um Längen besser" als das sich schon gut verkaufende "Flughunde" sei dieses neue Buch von Marcel Beyer, will Jens Bisky erst einmal festgehalten haben. Kein einziges kritisches Wort hat er übrig für die Geschichte des Ornithologen Ludwig Kaltenburg, erzählt aus der Erinnerung von dessen Schüler Hermann Funk, wie sie Marcel Beyer imaginiert. Beyer widme sich der Frage, wie es nach der großen Erschütterung durch den Zweiten Weltkrieg weiterging im Leben seiner Protagonisten. Besonders gut gefällt Bisky dabei, dass der Autor nicht jedes Geheimnis klärt, keinen Wert auf Posen legt und auch nicht mit seinem enormen zeitgeschichtlichen Wissen prahlt. Spannend ist das Ganze, "überlegt und haltbar" zusammengefügt überdies, ohne dass sich aber am Schluss ein solides Ganzes ergibt. Immer lasse Marcel Beyer Raum für ein gesundes Misstrauen gegenüber der Wahrhaftigkeit von Erzählung und Erinnerung, und die Leseerwartungen werden ohnehin niemals erfüllt. Was Bisky wiederum erfüllt, und zwar mit Rezensentenglück.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 10.03.2008

Anerkennend äußert sich Katrin Hillgruber über Marcel Beyers Roman "Kaltenburg", ohne die ganz große Begeisterung zu versprühen. Dem Buch um einen Vogelkundler, der aus dem Leben seines Ersatzvaters, des berühmten, an Konrad Lorenz angelehnten Zoologen Ludwig Kaltenburg erzählt, fehlt in ihren Augen ein wenig die "kriminalistische Spannung" der Vorgänger "Flughunde" und "Spione". Es gleite "ruhig bis resignativ" dahin, "gleichsam ermüdet vom Schrecken des 20. Jahrhunderts". Gleichwohl hat Hillgruber der Roman immer wieder immer tief beeindruckt. Sie schätzt Beyers meisterhafte Beobachtungsgabe und sein sprachliches Können. Besonders lobt sie die Schilderung des grauenvollen Dresdener Bombeninfernos vom 13. Februar 1945 aus der Sicht des elfjährigen Ich-Erzählers, für sie eine "erschütternd realistische Szene".

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 08.03.2008

Als Buch, das "mit dem Zauber der Sprache" den Bann des Schweigens über der Geschichte zu lösen verspreche, feiert Rezensent Roman Bucheli den neuen Roman von Marcel Beyer. Hier werde außerdem nicht weniger als die deutsche Geschichte verhandelt - vom Nationalsozialismus über die DDR bis zur Wendezeit "aber nicht im Stile historischer Belehrung zum Zweck sittlicher Ertüchtigung", weshalb das Buch für Bucheli ein hochüberzeugender Gegenentwurf zum aktuell grassierenden "Erinnerungsoptimismus" a la Jonothan Littell ist, der den Anschein erwecke, "das Vergangene würde verständlich, wenn man es nur als Geschichte noch einmal neu erfinde" oder es in Bildern schön oder schaurig rede. Worum geht's in dem Roman? Da ist ein pensionierter, verschlossener Ornithologe, der sein Leben über tote Vögel und Fachbücher gebeugt verbringt und plötzlich über seine Vergangenheit spricht; eine junge Übersetzerin, die den Mann zwecks Intensivierung ihres Fachwissens konsultiert und über Fragen nach toten Vögeln zu Fragen der Geschichte dringt. Beinahe stumm begleitet die Ehefrau des Ornithologen das Geschehen als intensive Proustleserin. So sieht der Rezensent Beyers Protagonisten auf sehr komplexe Weise verschiedene Arten des Erinnerns praktizieren. Am Ende spürt Bucheli gar den Hauch von Walter Benjamins Engel der Geschichte.