Bücher der Saison

Frühjahr 2008

Die umstrittensten, am besten und am häufigsten besprochenen Bücher der Saison
21.04.2008. Romane: Politische Romane, zeithistorische Romane, Liebesromane, Action, Gesellschaftsromane
Kroatische Literatur, Frühlinge / Romane / Comics, Erzählungen, Lyrik, Hörbuch / Reportagen / Sachbücher


Politische Romane

Viel war in dieser Saison von einer Wiederkehr politischen Erzählens die Rede. Hier einige Beispiele:

Der einzige deutsche Roman, den Peer Teuwsen in der Weltwoche gelten lassen wollte: Michael Kumpfmüllers "Nachricht an alle" (), der die terroristischen und Sicherheitsbedrohungen unserer Zeit verdichtet in seiner Geschichte um einen fiktiven Innenminister namens Selden. Für Teuwsen trifft Kumpfmüller genau einen schmerzenden Punkt. "Selden ist nur noch einer, der vollzieht, sich in Details verliert und nicht mehr weiß, was passiert. Und die andern, für die er stellvertretend das Beste machen sollte, empfinden nur noch eine stumpfe Leere, die sich an den eigentlich hervorragenden Verhältnissen abreagiert." Martin Lüdke zeigt sich in der FR nicht völlig überzeugt: Der Plot überzeugt ihn, die Figuren erscheinen ihm aber papieren. Diese Tendenz teilen fast alle vom Perlentaucher resümierten Kritiken zu dem Buch.

Positiv irritierter war die Kritik von Sherko Fatahs "Das dunkle Schiff" Dieser Roman erzählt die Geschichte eines ehemaligen Dschihadisten aus dem Irak, der nach Deutschland flüchtet und sich in beiden Welten fremd fühlt. Wolfgang Schneider lobt in der FAZ den "verfremdeten Blick aufs Vertraute". Sowohl die FR als auch die SZ loben die Behutsamkeit, mit der Fatah seine Erzählung aufbaut.

Lukas Bärfuss' Roman "Hundert Tage" spielt vor dem Hintergrund des Völkermords in Ruanda. Die Zeit hat sich dennoch prächtig unterhalten, "ein Reißer, eine tollkühne Mischung aus Krieg und Sex", schreibt Verena Auffermann. Der FR waren die Parallelisierungen zwischen Sexualität und Gewalt in dem Roman ein bisschen peinlich - aber auch sie lobt den Versuch der historischen Aufarbeitung.

Assaf Gavrons "Ein schönes Attentat" war ein Bestseller in Israel. Der Erzähler schafft es, sich sowohl in einen palästinensischen Selbstmordattentäter als auch in sein Opfer zu versetzen. Da der Protagonist der Erzählung zuvor bereits zwei andere Attentate überlebte, gilt er seinen Landsleuten als Symbol jüdischer Unverwundbarkeit, weshalb er von Fahmi, dem Attentäter, ausgelöscht werden soll. Nüchternheit und Verzicht auf Pathos charakterisieren die Geschichte laut Stefana Sabin in der NZZ. Und doch entbehrt der Roman nicht der Komik, merkt Annabel Wahba in der Zeit an. An Andreas Höfeles Roman "Abweg" der - auch politisch - die Atmosphäre der späten siebziger Jahre zu rekonstruieren versucht, loben die Rezensenten vor allem die Präzision der Sprache und die beklemmende Zwischenstimmung zwischen realistischem Erzählen und Traumlogik.


Zeithistorische Romane

Fast noch auffälliger als die Tendenz zum politischen ist in dieser Saison die Tendenz zum zeithistorischen Roman. Viele Erzähler begaben sich zurück in die jüngste Vergangenheit.

Nein! Kein Wort mehr über Jonathan Littell. Hier die Resümees zum dutzendfach besprochenen Roman.

György Dragomans "Der weiße König" hatte bis vor wenigen Tagen zwar nur eine Kritik in den von uns ausgewerteten Zeitungen, aber die war so hymnisch, dass er hier aufgenommen werden musste: Andreas Breitenstein feiert die Präzision, aber auch die Anmut, mit der die Gemeinheiten des spätsozialistischen Regimes in Rumänien aus der Sicht eines 11-jährigen Jungen geschildert werden. Die FR war sichtlich geschockt von der beschriebenen Gewalt. Der Autor stammt aus der ungarischen Minderheit Rumäniens. Sein Buch hat international Aufsehen erregt.

Kaum ein Roman wurde so zwiespältig aufgenommen wie Jenny Erpenbecks "Heimsuchung" in dem die Autorin die Geschichte eines Hauses über mehrere Generationen erzählt - von der Weimarer Zeit, über Nazizeit und DDR bis zur Wende. Ein "Jahrhundertroman", ein "Wunder", meint Katharina Granzin in der taz. Martin Halter in der FAZ war die kurze Erzählung mit dem säkularen Panorama allzu verknappt und verdichtet. Roman Bucheli lobt in der NZZ die "enorme poetische Kraft". Marcel Beyer erzählt in "Kaltenburg" vom Leben zweier Wissenschaftler in der DDR. Hubert Spiegel widmete dem Roman den Aufmacher der FAZ-Literaturbeilage zur Leipziger Buchmesse. Er feiert den Roman als "meisterliche Vergegenwärtigung" deutscher Vergangenheit. Auch Jens Bisky empfand bei dieser Versenkung in der Gechcihte der DDR ein reines Rezensentenglück: Auch spannend las sich für ihn der Roman.

Dunkel in Erinnerung sind uns von Anfang des Jahres außerdem noch die Elogen auf Hans Magnus Enzensbergers Recherche über den Reichswehrgeneral "Hammerstein" und Peter Handkes offensichtlich ganz unpolitische, doch im ehemaligen Jugoslawien spielende "Morawische Nacht" : In seiner Schönheit schlicht bezwingend ist dieser Roman laut Michael Rutschky in der taz.


Liebesromane

Zur "schönsten und subtilsten Liebesgeschichte dieses Bücherfrühlings" hat die SZ Hiromi Kawakamis Erzählung "Der Himmel ist blau, die Erde ist weiß" () gekürt, und auch die Zeitungen sind hingerissen. Dabei ist nicht leicht zu sagen, was die Kritiker derart in den Bann geschlagen hat. Kawakami erzählt vom sehr zarten und komplizierten Beginn einer Liebe zwischen einer Frau in mittleren Jahren und ihrem alten Japanisch-Lehrer. Die beiden treffen sich in einem Lokal, unterhalten sich und essen. Schließlich fallen Sätze wie "Würden Sie zum Zweck eines Liebesverhältnisses eine Beziehung mit mir eingehen?? Dennoch preist die FAZ gerade die Leichtfüßigkeit und Natürlichkeit dieser "geradeaus erzählten" Geschichte, die taz sah sich gar zu "heftigen Gefühlsausbrüchen" genötigt respektive verführt. Und der NZZ haben die kredenzten Spezialitäten vor Freude "die Tränen in die Augen" getrieben: "Schlemmerei als Transzendenz."

Nicht ganz einig ist sich die Kritik, ob "Ein liebender Mann" Martin Walsers schönster Roman sei oder nur zu seinen schönsten gehöre. Doch wie Walser von der Liebe des alternden Goethes zu der jungen Ulrike von Levetzow erzählt - "So diskret, so zart!" (FR) - das hat alle gleichermaßen beeindruckt. Die SZ findet den Roman sogar inspirierter als Thomas Manns "Lotte in Weimar". Feridun Zaimoglus Roman "Liebesbrand" () hat die Kritik komplett entwaffnet. Zaimoglu erzählt die Geschichte vom jungen Deutschtürken David, der in Leidenschaft zur Studentin Tyra entbrennt und ihr durch halb Europa hinterher jagt. Die Zeit freut sich schrecklich, eine ganz und gar "vormoderne, antirealistische" und absolut unpsychologische Geschichte erzählt zu bekommen. FR, SZ und taz bewundern, wie gekonnt Zaimoglu alle Register der romantischen Liebesüberhöhung zieht.

Tragik und Ironie, Pop und Pathos, sehr viel Liebe auf den ersten Blick und ein "bezaubernd kleinlautes Happy End" (FAZ) lobte die Kritik an Iris Hanikas Liebesgeschichte zwischen einem Systemberater und einer abgebrochenen Geisteswissenschaftlerin, "Treffen sich zwei" (). Die NZZ kann Kari Hotakainens "Die Leichtsinnigen" () empfehlen, der sie, wie es sich für einen finnischen Roman gehört, durch Abseitigkeit, Skurrilität und Stil bestach. Große Beachtung, aber ein geteiltes Echo fand Dirk Kurbjuweits Liebesgeschichte aus dem Innern der Berliner Republik, "Nicht die ganze Wahrheit"


Action

Leider ist Cormac McCarthys "Kein Land für alte Männer" () erst nach der Verfilmung der Coen-Brüder hierzulande erschienen. Der Tagesspiegel beschwert sich deshalb, bei der Lektüre immer die Gesichter von Tommy Lee Jones, Javier Bardem und Josh Brolin vor Augen gehabt zu haben - beileibe keine schönen Bilder. Trotzdem kann die Zeitung auf einen literarischen Mehrwert verweisen: "Der Roman ist viel brutaler." Die NZZ warnt allerdings, bei aller Handlungslastigkeit nicht die melancholische Philosophie des Romans zu überlesen. Sie sieht in ihm nicht weniger als die Fortschreibung von Samuel Becketts "Endspiel".

Wärmstens empfiehlt die FAZ auch Rick DeMarinis' aufs Herrlichste zwischen "Schund und Genie" schwebenden Roman "Kaputt in El Paso" (), auch wenn sie fürchtet, dass die Geschichte um den ehemaligen Bodybuilder Uriah Walkinghouse, der sich als Henker in einem Domina-Studio durchschlägt und die Leiche eines stadtbekannten Bankers verschwinden lassen muss, eher ein Geheimtipp bleiben wird. Die taz empfiehlt John Nivens Roman aus der Musikindustrie "Kill your friends" (), in dem der ehemalige A&R-Manager mit dem Mitteln eines Splatterschockers die "neuen Triebökonomien" bloßlegt.


Gesellschaftsromane

Alaa a-Aswanis zweiter Roman auf Deutsch "Chicago" wurde nicht ganz so gut aufgenommen wie sein Erstling "Der Jakubijan-Bau" (). Doch in der Zeit ist Stefan Weidner begeistert über diesen durchaus im okzident-kompatiblen arabischen Autor, der seinen Roman zwar im titelgebenden Chicago spielen lässt, dennoch auf die bittere Realität Ägyptens zielt. Wie Aswani mit dem Islam abrechnet, ringt der Zeit außerdem Bewunderung ab. Die NZZ stört sich dagegen an der recht kolpotagenhaften Darstellung der amerikanischen Wirkichkeit. Wie dieser Roman aber durch die Zensur kommen konnte, verstehen beide nicht.

Ein eigenartiges Buch, das Patricia Görg hier geschrieben hat: "Meier mit y" () führt in Form eines Jahreslaufs durch das Leben des bodenlos einsamen, verwitweten Herrn Meyers, dem einzig noch das taktische Ergattern von Schnäppchen Freude bereiten kann. Die FR ist fasziniert von Görgs "poetisch verdichtetem" Buch. Die FAZ findet es ebenfalls sehr kunstvoll, sehr anrührend und sehr komisch.

"Nette Aussichten" () ist der dritte Teil von Edward St. Aubyns Trilogie über eine recht dysfunktionale britische Aristokratenfamilie. Um sich darin zurecht zu finden, muss man die ersten beiden Romane aber nicht gelesen haben, versichert die FAZ, die dem Autor Begabung und treffende Pointen attestiert, seinen Protagonisten einen "dunklen, schwermütigen Glanz". Als einen der "verwegensten und spannendsten Autoren unserer Zeit" empfiehlt die FAZ den schottischen Autor John Burnside, seinen Roman "Die Spur des Teufels" () als "wunderbar atmende, kraftvoll rhythmisierte Prosa". Die NZZ zeigt sich auch von den Roman beeindruckt, aber schon bedeutend verhaltener. Die SZ winkt ganz ab und empfiehlt, eher zu den von Burnside besser beherrschten kleineren Formen zu greifen.


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