Tatjana Tolstaja

Kys

Roman
Cover: Kys
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2003
ISBN 9783871344671
Gebunden, 368 Seiten, 22,90 EUR

Klappentext

Aus dem Russischen von Christiane Körner. Benedikt ist ein verträumter junger Mann, dessen Liebe vor allem der Literatur gilt - auch wenn ihm die Mädchen sehnsüchtige Blicke zuwerfen. Blendend und gesund sieht er aus: eine Ausnahmeerscheinung in Fjodor-Kusmitschk, vor dreihundert Jahren noch als Moskau bekannt. Doch das war vor der "großen Explosion", die die alte Welt in Schutt und Asche gelegt hat. In der neuen Welt ist es zwar verboten, Bücher zu besitzen, aber es wird eifrig gelesen. Alle Werke, vom Klassiker bis zum Abzählreim, werden einem einzigen Autor zugeschrieben: dem Tyrannen Fjodor Kusmitsch. Und niemand wundert sich über dessen unerschöpfliche Erfindungsgabe.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 17.12.2003

Verglichen mit ihren männlichen Kollegen, geben die russischen Autorinnen meist "weit unverfälschter und unprätentiöser Einblicke in den menschlichen Dschungel", schreibt Ilma Rakusa, die keinen Zweifel daran lässt, dass dies auch Tatjana Tolstaja zu verdanken ist. Diese ist bisher vor allem durch "sprachlich subtile psychologische Short Storys" in Erscheinung getreten, weiß die Rezensentin, doch habe sich Tolstaja auch in ihrem Roman als "Meisterin psychologischer Figurenporträts" präsentiert. Besonders der Protagonist der Erzählung scheint überaus gelungen gezeichnet, beschreibt Rakusa diesen unbotmäßigen enthusiastischen Büchernarren Benedikt doch so wirklichkeitsnah, so "gefühlvoll, leidend, tragisch". Ein Freund der Bücher zu sein ist in der von Tolstaja geschaffenen, von einem Tyrannen beherrschten Welt nach dem "großen Knall" nicht ungefährlich, verrät die Rezensentin noch, die aber sonst mit inhaltlichen Informationen geizt. Mit "Kys" hat sie einen Roman geschrieben, in der sie überaus "kunstvoll" Märchen und Satire, Fantasy und schwarzer Humor miteinander vermischt, schreibt Ilma Rakusa.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 08.10.2003

Dass es in Tatjana Tolstajas Roman obskur und skurril zugeht, schreibt Oliver Fink nicht, aber dennoch wird man den Eindruck nicht los, dass die Leser Obskures und Skurriles goutieren müssen, um dieses Buch zu mögen. Fink nennt es lieber eine "schwarze Komödie", durch die der lesewütige, aber tumbe Tor Benedikt von seiner Erfinderin durch ein zum Dorf gewordenes Moskau nach der Katastrophe getrieben wird. Zu lästernden Beschreibungen von Moskau vorgestern, gestern und heute und einem "Parforceritt durch die Weltliteratur" dient der eher einem Märchen abgeguckte Plot, und Fink findet das Ergebnis einen "spannend erzählten Unterhaltungsroman mit einem rasant inszenierten Showdown". "Allegorisch" verhandelt der Roman das "Thema Geist und Macht". Fink findet am Ende: "Nur musenfeindlichen Polit-Aktivisten dürfte das zu wenig sein."

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 25.09.2003

Tatjana Tolstaja ist in Russland eine feste Größe, macht uns Katharina Döbler mit der Autorin bekannt, was nicht nur daran liegt, das sie tatsächlich dem Tolstoj-Clan entstammt. Berühmt-berüchtigt sei vor allem ihr Sarkasmus, den die sonst mit Essays und Erzählungen hervorgetretene Tolstaja in ihrer eigenen Fernsehsendung entfalten könne. Ihrem ersten Roman, der nun auch auf Deutsch vorliegt, mangelt es laut Döbler ebenfalls keineswegs an Sarkasmus. "Kys" ist ihrer Meinung nach ebenso Satire wie Parabel, zugleich ein episch angelegter Roman, der belehrt-belesen mit Ausflügen in die Weltliteratur aufwartet. Dass man sich von Tolstaja nicht belehrt, sondern gut unterhalten fühlt, hat nach Döbler mit dem ungemeinen Sprachgefühl der Autorin zu tun: sie bediene sich eines Kunstidioms, das ebenso Märchensprache wie Straßenslang einbinde und für die Übersetzerin eine gewaltige Aufgabe gewesen sein muss, die sie jedoch sehr gut gemeistert habe. Darüber hinaus aber hat "Kys" für Döbler einen ganz und gar kulturpessimistischen Unterton, der sich in den Augen der Rezensentin zu einer wütenden Anti-Utopie auswächst und das epische Element letzten Endes in den Hintergrund drängt.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 22.09.2003

Der Schriftsteller Henning Ahrens ist von diesem Roman, der nach einer atomaren Katastrophe im ehemaligen Moskau spielt, ziemlich begeistert. Russland hat sich in eine zivilisatorisch rückständige Welt "altrussischen Gepräges" gewandelt, in der die Hauptfigur Benedikt skrupellos nur auf die Befriedigung seiner Lesesucht aus ist, beschreibt der Rezensent Schauplatz und Handlung des Buches. Der Roman, dessen Übersetzung Ahrens als "dicht und sinnlich" preist, lebt seiner Ansicht nach von seinem Humor, wobei die Komik vor allem aus der "Diskrepanz" zwischen der erinnerten Vergangenheit und der barbarisch anmutenden fiktiven Gegenwart entsteht. "Erinnerung und Literatur" machen dann auch die Hauptthemen des Romans aus, teilt Ahrens mit, dem nicht zuletzt der "spannungsvolle Kontrast" zwischen den eingestreuten literarischen Zitaten und den Schilderungen des Alltaglebens gefällt. Wenn er überhaupt etwas zu monieren hat, dann ist es das Romanende, das ihm zu sehr auf "Action" ausgelegt ist, die er zudem "ungeschickt konstruiert" findet. Ansonsten aber hat ihm die Lektüre ein Vergnügen bereitet wie sonst nur gut gereifter "Rotwein".
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 16.09.2003

Ganz schön böse findet Katharina Granzin Tatjana Tolstajas Roman "Kys". Wobei sie gleich hinzusetzt, dass die Schublade "Fantastische Literatur" oder wahlweise "Science Fiction" für diesen die Grenzen des Genre sprengenden Roman nicht richtig passt. Auch ihn, wie in Russland wohl geschehen, überwiegend als Metapher auf die postsowjetische Gesellschaft zu lesen, werde dem Roman nicht ausreichend gerecht. Granzin zufolge zielt Tolstaja, die sich mit Erzählungen und Essays in Russland ein großes Renommee erschrieben hat, auf die russische Gesellschaft insgesamt. Dabei bedient sie sich einerseits eines sehr konventionellen Erzählstils, der etwas fast Gemütliches ausstrahlt, erläutert die Rezensentin, kontrastiert von einer surrealistischen Handlung mit oftmals grausamen Elementen. Granzin ist der Meinung, dass sich Tolstaja hier an dem russischen Erzähler Platonow orientiert. Doch es fehle auch nicht an satirischen Elementen, gesteht Granzin zu, die "Kys" zu einem flott zu lesenden Roman über eine trostlose russische Gesellschaft nach dem großen Knall werden ließen, in der Kultur nur noch als Wohlstandssymbol und nicht seiner Inhalte wegen wehmütig erinnert werde.