Diedrich Diederichsen klatscht in der taz aufgeregt in die Hände: Das den interessanteren Milieus der NDW entstammende Duo Die Partei hat mit "Celaviemachinery" nach nur 43 Jahren sein zweites Album veröffentlicht. "Gleiten, FlutschenundIneinandergreifen werden dem Tanzen vorgezogen. In eine Klanglichkeit gekleidet, die tatsächlich, gerade weil sie an eine Vergangenheit erinnert, die sie für ihre Zukunft hielt, von keiner Epoche eindeutig vereinnahmt werden kann. Manches wirkt so süßlich, dass man sich unwillkürlich einen Schlager ausdenkt, den Nino de Angelo dazu hätte singen können, anderes klingt so elegant, als wollte hier jemand den französischen Spielzeug-Synthie-Pop eines Jacno neu erfinden, und dann wogt es so spacig, dass daskosmische-kuriere-verrücktegermanophileAusland heftig getriggert werden dürfte. Und immer wieder denkt man an die spezifische bundesdeutsche, provinziell existenzialistische Tristesse, wie sie eigentlich immer nur einsame 'Tatort'-Kommissare befällt, wenn ihre inneren Widersprüche und der ungelöste Fall sich vor der Kulisse einer nassen Mittelstadtnacht miteinander verheddern."
Außerdem: Merle Krafeld blickt für die VAN auf die Ergebnisse der Studie "Machtmissbrauch, Diskriminierung und sexualisierte Gewalt an der Hochschule für Musik und Theater München". Oliver Camenzind erzählt in der NZZ von seinem Besuch in MichaelSenns Musikinstrumenten-Werkstatt.
Besprochen werden die Disco-Compilation "Sam Records: The Sound of New York City 1975-1983" (Standard), ein Berliner Konzert des ensembleunitedberlin mit Werken von SamirOdeh-Tamimi und JakobUllmann (VAN), ein Konzert von Khanate in Berlin (taz), ein Liederabend mit SamuelHasselhorn (FR) und das neue Album der Pet Shop Boys, das Welt-Kritiker Oliver Polak "wieder als Teenager in den Achtzigern aufgebretzelt, frisch geduscht, haarspraygetuned in weiten Diesel-Jeans und Thrasher-Hoodie am Rand der Fahrbahn des Autoscooters stehen lässt".
Die Gerüchteküche brodelt schon länger: Wird JoanaMallwitz 2026 auf VladimirJurowski nachfolgen und das Orchester der BayerischenStaatsoper leiten? Jetzt hat sie im Haus Mozart und Tschaikowsky dirigiert - und SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck berichtet von respektvollen, aber moderaten Reaktionen des ansonsten auch mal aufbrausenden Münchner Publikums. "Mallwitz wie die Musiker sind technisch ausnehmend versiert, es scheint nichts zu geben, was sie und das Orchester nicht können. Nun ist Technik in der Musik zwar hilfreich, aber eben nicht die Essenz. ... Mallwitz ist fernvonExzess, Grenzensprengerei, Pathologie. Sie begreift klassische Musik an diesem Abend als ein Kommunikationsmittel, das sich möglichst wenig über die Grenzen des bürgerlichen Anstands hinausbewegen soll, dort drohen nämlich Haltlosigkeit, Aufstand, Wahnsinn. Musizieren aber ist ein Grenzgang zwischen den Polen Irrsinn und Kontrolle. Mallwitz plädiert an diesem Abend ein bisschen zu sehr für Kontrolle, das könnte die relative Zurückhaltung des Publikums erklären."
Anlässlich des "Tags gegen Lärm" denkt Helmut Mauró über das Verhältnis zwischen schiererLaustärke und Wohlklang nach. Im klassischen Konzert- und Opernsaal ist das mitunter eine Frage der Perspektive, also des Sitzplatzes: So "empfinden zumindest Wagnerianer es als äußerst angenehm, Orchesterlautstärken mit mehrals120Dezibel beizuwohnen. Das entspricht einem startenden Düsenjet in 100 Meter Entfernung. ... Die EU-Richtlinie von 85 dB Maximalbelastung am Arbeitsplatz, die auch für Musiker gilt, ist im Orchestergraben kaum durchsetzbar. Aber sie hat zu Verbesserungen geführt. Die Streicher etwa, die vor den Bläserbatterien sitzen, haben ein Schallschutzschild aus Plexiglas bekommen."
Weitere Artikel: Im taz-Gespräch erklärtDiffus-Chefredakteur Torben Hodan, warum sein Online-Musikmagazin nun den Schritt zur Printpublikation wagt: Dort sollen vor allem "lange, zeitlose Texte" rein, "eine Art Coffee Table Book, in dem wir gute Geschichten erzählen wollen". Ane Hebeisen plaudert für den Tagesanzeiger mit SvenRegener. Frederik Hanssen blickt im Tagesspiegel auf die kommende Saison der BerlinerPhilharmoniker.
Besprochen werden ein Auftritt von IgorLevit in Frankfurt (FR), LauraJaneGraces neues Album "Hole In My Head" (FR) und neue Pop- und Rockveröffentlichungen, darunter T Bone Burnetts "The Other Side" (Standard).
Axel Brüggemann, dem schon in der Vergangenheit einige wertvolle Recherchen zu verdanken waren, setzt sein neues Online-Magazin BackstageClassical mit einer neuen Recherche auf die Karte: Bei den Hamburger Salons des insbesondere in den Achtzigern berühmten Pianisten JustusFrantz heben Rechts- wie Linkspopulisten samt Putintreue gemeinsam das Glas. Fotos davon teilt Frantz freimütig auf Social Media, Brüggemann hat genau hingesehen, wer da mit wem im Zeichen von Kunst und Kultur am Klönen und Netzwerken ist. "Was viele der Anwesenden verbindet ist ihre Sympathie für Russland und VladimirPutin und ihre Kritik an der aktuellen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland. Ist das die neue Normalität der deutschen Bürgerlichkeit? ... Zwischen Rechtspopulist RogerKöppel und Linkspopulistin SahraWagenknecht sitzt Alexander von Bismarck." Der Großneffe Otto Bismarcks "war Gast beim Geheimteffen zur 'Remigration' in Potsdam mit dem rechtsradikalen Zahnarzt Gernot Mörig in der Villa Adlon und steht damit der Identitären Bewegung nahe." In der Mitte des Bildes sitzt Kulturmanager Hans-JoachimFrey, dessen "Netzwerk heute Wirtschaftsführer und AfD-Bundestagsabgeordnete vereint. ... Inzwischen hat er sich ganz für eine Karriere in Russland entschieden. 2021 nahm er die russische Staatsbürgerschaft an und leitet heute das Konzerthaus in Putins Ferienressort Sotschi."
Weitere Artikel: Die Ästhetik des SpiritualJazz feiert in jüngsten Jahren ein erstaunliches Comeback, beobachtet Ljubiša Tošić im Standard, so dass ihm scheint: "In spirituell angehauchten Jazz verschmelzen Sinn- und Gottsuche abseits der etablierten Weltreligionen mit der Absicht, die eigene Identität auch durch Entdeckung afrikanischerWurzeln zu finden." Corina Kolbe porträtiert in der NZZ das JewishChamberOrchestraMunich. Jean-Martin Büttner geht in der NZZ der auch über 30 Jahre nach seinem Tod anhaltenden Faszinationskraft von FreddieMercury nach. Nicholas Potter stimmt in der taz auf die Deutschlandtour der Berliner Punkband ZSK ein. Taylor-Swift-Fans feiern ihren Star als "Business-Genie", berichtet Mathis Raabe in der taz. Für Zeit Online porträtiert Tobias Lentzler den Entertainer BerndBegemann, der einst die "Hamburger Schule" gegründet hat, und sich nun nach neun Jahren Albumpause mit "Milieu" zurückmeldet.
Besprochen werden das neue Album von SbabazzPalaces ("jenseits von jedem und radikal eigensinnig", schwärmt Benjamin Moldenhauer im ND), ein Konzert des BayerischenSymphonieorchesters unter SimonRattle in Frankfurt (FR), Konzerte des KyivSymphonyOrchestra in Berlin (SZ) und das neue Album "Ghosted II" des Experimenta-Trios OrenAmbarchi,JohanBerthling und AndreasWerliin (tazlerin Luise Wolf gibt sich der "flimmerndenWeite" darauf hin).
In der FAZ spricht Gina Thomas mit Sir Antonio Pappano, der nach mehr als zwanzig Jahren an der Londoner Covent-Garden-Opera im Herbst die Nachfolge von SimonRattle beim London Symphony Orchestra antritt. Auch darauf, dass sich die englische Kulturpolitik wohl darauf eingeschossen hat, in London künftig nur noch ein Opernhaus zu finanzieren, kommt er zu sprechen. In einem Gutachten wurde unter anderem kritisiert, dass die Londoner Opernwelt zu wenig gegenwärtig sei. Daraus sprächen "die engstirnigen Mittdreißiger mit selbstgerechtem Gewissen", kommentiert Pappano. "Nehmen wir Bach, der 1750 starb. Sollten wir ihn marginalisieren, bloß weil er alt und bekannt ist? Das ist Unfug. Die Menschheit besteht aus Generationen, die teilhaben müssen am Glanz vergangener Zeiten. Junge Menschen haben einen riesigen Vorteil, weil die Einkaufsliste für Kunst und Musik aller Arten von Klassik zu Pop gigantisch ist. 'Bohème' oder 'Rigoletto' zum ersten Mal zu sehen ist ein grandioses Erlebnis. Diese Werke sind nicht ohne Grund berühmt." Und mit Blick auf die englische Kulturpolitik: "In diesem kulturellen Mekka kommt es einem vor, dass vorzügliche Leistung bestraft wird."
Elmar Krekeler sorgt sich im Welt-Kommentar nach dem Herrenberg-Urteil (das Musikhochschulen dazu verpflichtet, "bisherige Honorarkräfte (die bis zu 70 Prozent aller Unterrichtsstunden bestreiten) sozialversichert anzustellen") um die Zukunft des Musikstandorts Deutschland. Da sich die Kommunen eher schwer damit tun, ihre zur Verfügung gestellten Mittel dem Urteil gemäß adäquat aufzustocken, werde wohl eher eine ausgedünntePersonaldecke die Folge sein. "Damit würden - wenn von den Kulturverantwortlichen auf allen Ebenen nicht ganz schnell über neue Strukturen nachgedacht wird - alleverlieren: Das Lehrpersonal, das seinen Lebensunterhalt verliert, die Schüler, die mit einem ausgedünnten Angebot auskommen müssen. Und das in einer Zeit, in der Musikunterricht auch an allgemeinbildenden Schulen zunehmend bedroht ist. Die vom Ausland bewunderte (Schein-)Idylle wird die deutsche Musiklandschaft so nicht lange bleiben."
Weitere Artikel: In der Pressesinniert Wilhelm Sinkovicz über Bruckners Verhältnis zu Gott. Jan Brachmann schreibt in der FAZ zum Tod des Dirigenten SirAndrew Davis. Christoph Dieckmann schreibt auf Zeit Online einen Nachruf auf DickeyBetts von den AllmanBrothers. Tye Maurice Thomas erinnert im Tagesspiegel an den indischen Musiker KamaleshMaitra, der deißig Jahre lang in Berlin lebte und vor hundert Jahren geboren wurde. Und im FAZ-Bücherpodcast plaudert Dietmar Dath über sein Buch über MileyCyrus.
Besprochen werden die postum veröffentlichten Vorlesungen des Poptheoretikers Mark Fisher (Jungle World) und das neue Album von Taylor Swift (Welt, mehr dazu bereits hier).
Die Musikkritik kennt heute nur ein Thema: "The Tortured Poets Department", das neue Album von TaylorSwift, dem zum Verdruss mancher ganz, ganz eiliger Rezensenten wenige Stunden nach Veröffentlichung gleich noch ein zweites Album hintendran gehängt wurde. "Dass viele, die das erste Album auf Swifts regelmäßige Werbung hin bereits vorbestellt und bezahlt haben, nun auch noch das zweite mit allen 31 Tracks kaufen werden, ist lukrativ", schreibt Nadine A. Brügger in der NZZ. "Veräppelt kommen die Fans sich davon aber bis jetzt nicht vor; sie fühlen sich beschenkt. Swift sagte einst zu Recht: 'Mit meinen Fans habe ich die Lotterie gewonnen.'"
Für SZ-Kritiker Joachim Hentschel ist dabei gar nicht so entscheidend, dass Swift mit diesem Zweistunden-Paket womöglich neu definiert, was ein Album ist, sondern "dass sie - schlicht und tatsächlich - wahnsinnig viel zu sagen hat. Dass Swift ... ihr Publikum nur selten (ab und zu allerdings schon) mit leeren, selbstreferenziellen Gesten und Affiliate-Links füttert. Sondern es zur Hauptsendezeit mit echten Geschichten, Intertextualitäten, Abschweifungen und weiten Spannungsbögen unterhält. Als raumgreifendeErzählerin, die das Handwerk auf fast schon wieder altmodische Art praktiziert." So ist dieses Album "nicht weniger als ein weithin gültiges Eichmeter dafür ..., was zeitgenössisches Pop-Songwriting überhaupt leisten kann", selbst wenn Swift und ihr Produzententeam "vor allem das in der Vergangenheit erreichte musikalische Plateau verteidigen".
Hier gehe es mal wieder um die "Kernkompetenz Taylor Swifts", grantelt Christian Schachinger im Standard, nämlich "das Leiden einer jungen Frau an der Welt und vor allem an der Liebe. Im Wesentlichen handelt es sich bei dem Album "zwei Stunden lang um das von den deutschen Lausejungen Deichkind geborgte Motto 'Auch im Bentley wird geweint'. ... Musikalisch lässt sich über das neue Album nicht viel Aufregendes berichten. Textlich Mater Dolorosa, Gesang eher Madonna. Ein wenig glatter Indiepop von der Stange, ein wenig seichte Country-Wurzelpflege, ein wenig pflegeleichter Synthiepop aus den 1980er-Jahren." Schachinger rät: "auf Durchzug schalten. Es fällt nicht schwer."
FAZ-Kritiker Edo Reents packt das Gähnen: Texte gut, aber Musik oh weh. Er hört auf dieser Platte "keinen einzigen Laut", den er im letzten Vierteljahrhundert nicht schon woanders, etwa bei Beyoncé gehört hätte, und ärgert sich über den "absolut unintensiven Gesang, der nicht nur nie zum Äußersten, sondern noch nicht einmal bis zur Mitte geht. ... In dieser stimmlichenArbeitsverweigerung, kommen auch die, wir sagten es schon, sehr guten, angenehm pubertären, dabei sarkastisch-abgeklärten Texte rund um erotische Anziehung, Abstoßung und Genervtsein, die zum Glück erst gar keine gute Laune aufkommen lassen und zwischen Western-Mythologie und der Puppenwelt um BarbieundKen hin und her wechseln, nicht recht zur Geltung." Weitere Kritiken in Welt und Presse, sowie verpaywallt bei allen anderen.
In der tazerzählt Detlef Diederichsen die seit einigen Wochen kursierende Geschichte vom schwedischen Komponsiten JohanRöhr, der mit unter zahlreichen Pseudonymen veröffentlichtem Klangkleister für Mood-Playlists auf Spotify mehr Streams ergattert als Michael Jackson: "Offensichtlich hat der Mann Spotify richtig verstanden. ... Die von ihm gelieferten Tracks unter Quatschpseudonymen bereiten den Boden für KI-generierte Musik, mit der sich Spotify endlich und endgültig von lästigenLabels, nörgelndenVerwertungsgesellschaften und aufsässigenKünstleregos abkoppeln kann. Sogar das Kuratieren der Listen wird immer mehr den Algorithmen übertragen" und "die bisher dafür zuständigen Mitarbeiter*innen in Scharen gefeuert."
Außerdem: Der legendäre Londoner Plattenladen RoughTrade hat in Berlin eine Dependance eröffnet, berichtet Jens Uthoff in der taz. Katrin Nussmayr hat für die Presse einen Klassik-Rave mit Opernarienbesucht.
In der tazklamüsert Benjamin Moldenhauer auseinander, warum MarcusWiebuschs Hamburger Indieband Kettcar (mit dem aktuellen Album derzeit auf Nummer 1 der Charts) bei vielen Fans von Wiebuschs alter Band aus den Neunzigern (der weit am linken Rand stehenden Polit-Punkband ButAlive) so einen schlechten Stand hat, dass sie die Band "als linksliberalen Pur-Klon und Männerschlagerkitschnudelei hassen. ... Die Haltung zur Welt ist in diesen Songs entsprechend erschöpft, aber nie ernsthaft verzweifelt. ... Ein zentrales Motiv aller Kettcar-Songs scheint die unhintergehbareWidersprüchlichkeit zu sein, die unter anderem dann entsteht, wenn der eigene moralische Anspruch mit der Wirklichkeit kollidiert." So entsteht "der Eindruck, dass hier nach wie vor einer seine moralischrigoroseAntifa-Vergangenheit weiterverarbeitet." In ihrem Buch "Wir Kleinbürger 4.0" sprechen "Georg Seeßlen und Markus Metz von einer 'manischen Suche des Kleinbürgers, die Welt zu retten, die eigene moralische Überlegenheit zu betonen und den sozialen Konflikt zu vermeiden'. Das ist natürlich anstrengend."
Weitere Artikel: Hannes Hintermeier berichtet in der FAZ von der Präsentation der Studienergebnisse zum Machtmissbrauch an der Hochschule für Musik und Theater München und des Sieben-Punkte-Plans, der diesen dort künftig unterbinden soll. Stephanie Grimm stimmt in der taz auf die Deutschlandtour von NickSaloman und dessen Projekt BevisFrond ein. Jörg Wimalasena erzählt in der Welt (online allerdings ohne Autorenzeile) von seinem Besuch bei dem koreanischen Musiker Funtwo, der 2005 mit einem Gitarrenvideo zu den allerersten viral gehenden Youtube-Stars zählte. Michael Pilz listet in der Welt tote wie lebendige Popstars, an denen jeder Cancel-Versuch abzuperlen scheint.
Besprochen werden das neue Pearl-Jam-Album (FAZ.net), ein Bach-Konzert von FazılSay (Standard) und Waxahatchees neues Album (FR).
In der Frankfurter Pop-Anthologie schreibt Uwe Schütte über Godstars "Psychic TV":
Unbehaglich findet Thulasi Seshan den Totenkult und Heiligenverehrung in der Klassik: Wo bleibt da das Lebendige der Gegenwart? "Ich möchte nicht, dass ein talentierter Pianist den Klang seines Steinways einschränkt, weil dem, was wir für die Träume eines toten Mannes halten, andere Grenzen gesetzt waren. Ich möchte, dass dieser Musiker mir seine ganze Begabung, seine ganze Liebe zeigt. Wenn der Musiker sich selbst aus der Aufführung streicht, bin ich um ihn betrogen. ... Es ist die Illusion der Unfehlbarkeit, die wir aufgeben müssen. Selbst die großen Religionen haben nie gewollt, dass die Heiligen als solche behandelt werden. ... Der Musik dienen wir nicht, indem wir Komponisten heilig sprechen und sie als ideale Schöpfer hochhalten. Der Musik dienen wir, indem wir sie lebendig halten: indem wir die Musik in ihrem gemeinschaftlichen Entstehen im Hier und Jetzt lieben. Heilig ist nicht der Komponist, sondern das Leben, das wir seinem Werk geben."
Arno Lücker vergleicht für VAN diverse Interpretationen von Beethovens Neunter. Als "Geheimtipp" legt er die von FerencFricsay dirigierte Einspielung aus den späten Fünfzigern ans Herz, insbesondere auch, da Fricsay nur wenig später von Karajan aus der Musikgeschichte "verdrängt" wurde: "Bei Ferenc Fricsay und den Berliner Philharmonikern erklingt die Horn-Quinte ganz zu Beginn ziemlich rabulistisch, irgendwie ganz schön. Aber die Gesamtsituation wirkt stimmungsmäßig ganz toll auf mich ein, 'mitnehmend', das Anschwellen kompakt und ergreifend, das erste große Tutti tragisch groß. Die Unterschiede zwischen Forte und Piano: exquisit und nicht übertrieben. Die blockhaften Ablösungen von Bläsern und Streichern nach einigen Momenten: radikal. So wird der Revolutionär Beethoven erfahrbar, spürbar, greifbar. Völlig gechillt leuchten Piano-Stimmen hier und dort komplett abgekapselt aus der Partitur-Landschaft heraus, als merkwürdige Kontrapunkte, die so und auch eben ganz anders tönen könnten. Beethoven, derFreiheitliche: von Fricsay grandios erfühlt und erfüllt."
Außerdem: Anna Van Dine spricht für VAN mit dem Komponisten JanvierMurenzi anlässlich des 30. Jahrestags des Genozids inRuanda über dessen 2019 entstandene Komposition "Mata y' amaraso", das an die damaligen Taten erinnnern soll. Tazlerin Beate Scheder beobachtet den Siegeszug des Chicagoer Footwork-Sounds in die Hochkultur. Joachim Hentschel porträtiert in der SZ die Berliner Sängerin PaulaHartmann: "Eltern kennen sie nicht, aber für die Kinder ist sie ein Star, eine Influencerin, ein Idol." Karl Fluch stimmt im Standard auf den RecordStoreDay am kommenden Samstag ein.
Besprochen werden ein Berliner Auftritt des US-Jazzpianisten JasonMoran mit dem Bassisten ChristianMcBride (taz), das neue Album von PearlJam (Standard), ein Konzert von Bushido in Wien (Standard) und AnjaHuwes Comeback-Album "Codes" (ihre "ohrenbetäubende Sirenenstimme ist todtraurig geworden - besungen wird im Sounddesign von Mona Mur das Unterkriechen im Wald", schreibt Ronald Pohl im Standard).
Jan Feddersen erzählt in der taz die Geschichte von ABBA (und macht Vorfreude auf JamesRogans offenbar ganz exzellente ABBA-Doku, die allerdings erst ab 2. Mai in der ARD-Mediathek zu sehen ist). Torsten Groß hat sich für die SZ zum großen Gespräch mit EddieVedder von PearlJam getroffen. Andreas Hartmann freut sich im Tagesspiegel aufs Berliner Konzert von JJWeihl. In der SZ gratuliert Wolfgang Schreiber DanielBarenboimsWest-EasternDivanOrchestra zum 25-jährigen Bestehen. Im "Und dann kam Punk"-Podcast sprichtBerndBegemann annährend drei Stunden so kurzweilig wie idiosynkratisch über Leben, Werk und politische Dilemmas der Linken. Andrian Kreye porträtiert in der SZ die für gleich zwei Deutsche Jazzpreise nominierte Pianistin ShuteenErdenebaatar. Hier ein vom Bayerischen Rundfunk online gestelltes Konzert ihres Quintetts:
Besprochen werden das Solo-Album "Rooting For Love" der Stereolab-Musikerin LætitiaSadier (FR), ein Konzert des Symphonieorchester Vorarlbergs mit der WienerSingakademie unter HeinzFerleschMendelssohn (Standard) und das neue Album "Haus" von Nichtseattle (Standard, mehr dazu bereits hier).
Louisa Zimmer porträtiert in der taz die norwegische Indiepopmusikerin Marie Ulven alias Girl in Red. Im Filmdienstverneigt sich Jörg Gerle vor HenryMancini, der heute vor 100 Jahren geboren wurde.
Besprochen werden MarkKnopflers neues Album "One Deep River" (FAZ), ein von DanielHarding dirigiertes Wiener Konzert der MünchnerPhilharmoniker mit RenaudCapuçon (Standard), ein Auftritt von ChristinNichols (Tsp), die Wiederveröffentlichung des Deep-Purple-Albums "Machine Head" (NZZ), ein Konzert des SynagogalEnsemblesBerlin (Tsp) und ein von PetrPopelka dirigiertes Konzert der WienerSymphoniker in Frankfurt (FR).
Tschetschenien will Komponisten verbieten, Musik zu komponieren, die langsamer als 80 Schläge pro Minute ist und schneller als 116 pro Minute und argumentiert dies mit dem tschetschenischen Volkscharakter. "Rhythmus kann schwerlich eine nationale Mentalität widerspiegeln", stöhnt Helmut Mauró in der SZ. Natürlich stecke hinter dieser Maßnahme vor allem "eine Machtdemonstration. ... Ganz grundsätzlich erscheint es als Akt gegen ein menschliches Urbedürfnis und gegen die Menschlichkeit an sich, insbesondere Tanzmusik verbieten zu wollen. Jene Musik also, die mit schnellen Rhythmen einhergeht und die Nähe zu lasziverBewegung nicht scheut. Ist das der eigentliche Grund der Musikverbote, die sexuelle Komponente, das Ungezügelte an sich, das Ungeordnete, das den Ungehorsam nach sich zieht? Der Verdacht liegt nahe, wenn man sich die lange Tradition musikalischer Gängelung ansieht."
Besprochen werden ein Konzert der SimpleMinds (FR), ein Auftritt der DaveMatthewsBand in Berlin (BLZ), ein neues Album der Langsamkeits-Metaller BellWitch (ND-Kritiker Benjamin Moldenhauer "klebt glücklich an der nächsten Wand") und die Neuauflage der Alben von RowlandS. Howard (Standard).