9punkt - Die Debattenrundschau

Das humanitäre Gewissen des Westens

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.10.2023. Der Historiker Arie M. Dubnov geht in der FAZ hart mit der israelischen Regierung ins Gericht, die die eigene Bevölkerung nicht geschützt habe. Die Ruhrbarone raten den Unterstützern der Hamas, mal einen Blick in deren "Charta" zu werfen: Wer kann diesen antisemitischen Irrsinn gutheißen? Die Palästinenser hätten sich schon längst von der Hamas emanzipieren können, ruft Mirna Funk in der NZZ. Natalie Amiri fordert Deutschland in der SZ auf, endlich politische Konsequenzen daraus zu ziehen, dass Iran Terror in Milliardenhöhe finanziert.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 18.10.2023 finden Sie hier

Politik

"Die israelische Regierung hat nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, ihre Bürger zu schützen. Und sie hat versagt", schreibt in der FAZ der Historiker Arie M. Dubnov: "Sie muss alles unternehmen, damit die Vermissten lokalisiert und Zivilisten aus der Kriegszone in Sicherheit gebracht werden. Panzer nach Gaza zu schicken oder die für humanitäre Zwecke benötigte Infrastruktur zu zerstören und die Zivilbevölkerung von Gaza zu bombardieren ist keine Lösung, sondern würde die ohnehin katastrophale Situation weiter verschlimmern. Man muss keine krankhafte Phantasie haben, um sich live gefilmte Geiselhinrichtungen à la 'Islamischer Staat' vorzustellen und zu ahnen, dass eine militärische Reaktion die israelisch-libanesische Grenze in Flammen setzen würde."

Wissen jene Muslime, die die Hamas bejubeln, überhaupt, wen sie da unterstützen, fragt Daniel Bleich bei den Ruhrbaronen und rät, mal einen Blick in "Charta der Hamas" zu werfen, "die nahezu sämtlichen antisemitischen Irrsinn, bishin zu den Protokollen der Weisen von Zion, zu einer blutrünstigen Ideologie zusammenfasst. In 36 Artikeln legte die Organisation 1988 ihr Weltbild dar. Neben diversen sozialistischen Ideen, die ähnlich jenen der Fatah bei vermeintlich kosmopolitischen Linken gerne Resonanz erzeugen, ist es auch eine umfassende Legitimation für den Genozid an Juden und das beliebige Opfern der eigenen Bevölkerung. Der Vergleich mit 'Mein Kampf' drängt sich regelrecht auf."

"Die Palästinenser werden niemals 'frei' sein, wenn sie sich nicht endlich emanzipieren", ruft die Autorin Mirna Funk in der NZZ. Schon längst könnte in Gaza die Wirtschaft florieren, meint sie, längst hätte man diplomatische Beziehungen zu Ägypten aufnehmen können. Stattdessen wählte die Bevölkerung die Hamas, die alle von Israel errichteten Infrastrukturen zerstörte und alle Kapazität in den "Aufbau ihrer jihadistischen Armee  steckte, die das Ziel hat, alle Juden auf der Welt auszulöschen". Um die Idee eines freien Staates zu realisieren, müssten die Palästinenser "anerkennen, dass sie für die Arabische Liga nichts weiter als ein Pfand sind und die Idee eines Palästinas 'from the river to the sea' - also der Vernichtung Israels - niemals realisiert werden wird. Denn Israel wird bleiben. Wer immer nur Nein sagt, der wird am Ende gar nichts haben. Dazu gehörte auch, sich nun lautstark und weltweit von der Hamas abzugrenzen. Ständig hört man, die Hamas, das seien nicht die Palästinenser. Aber, wo sind denn dann die anderen Palästinenser? Wo sind die Demos, auf denen von Palästinensern lauthals 'Free Gaza from Hamas' gerufen wird?"

"Nirgendwo sind die Palästinenser so unerwünscht, wie in den arabischen Staaten", schreibt Hamed Abdel-Sabad ebenfalls in der NZZ. Aus unterschiedlichen Gründen wollen sie einen Flüchtlingsstrom aus Gaza verhindert, unter anderem aus Furcht vor terroristischen Anschlägen der Hamas: "Von den arabischen Ländern erwartet die Hamas darum wenig Unterstützung. Paradoxerweise verlässt sich die Hamas eher auf das humanitäre Gewissen des Westens und der israelischen Linken, die zivile Opfer in Gaza verhindern wollen. Deshalb will die Hamas auch nicht, dass die Bevölkerung aus dem nördlichen Gazastreifen evakuiert wird. Deshalb hat die Hamas ein 500 Kilometer langes Tunnelsystem für ihre eigenen Raketen gebaut, aber nicht einen einzigen Bunker für die Zivilbevölkerung."

Auf Zeit online nimmt Thomas E. Schmidt den Artikel von Judith Butler auseinander, die in der London Review mit einem "Ja, aber"-Artikel letztlich den Israelis die Schuld an dem Massaker der Hamas zuweise: "Nach Butler ist der Krieg in Israel und Gaza in einem "umfassenden Verständnis" der Lage nur ein Symptom für eine tieferliegende rassistische Rahmung des Konflikts. Und diese ursprüngliche, die Separation der Völker festschreibende Lesart geht, wen wundert's, auf Israel zurück, auf die vermeintliche Kolonialmacht, deren Existenz die Durchsetzung universaler moralischer Normen (Frieden) im Nahen Osten ausschließe.  ... Damit unterstellt sie Israel eine Schuld, die von aktuellen Entwicklungen nicht berührt wird. Die Ur-Schuld bleibt, trotz erlittenem Terror. Und weil das Bloß-Historische am Ende doch nur ins Gestrüpp des Unentscheidbaren hineinführt, muss die Autorin in einem weiteren Schritt, um den 'wahren' Ursprung der Gewalt zurechtzurücken, noch einmal ihre ganze Diskurs- und Definitionsmacht mobilisieren. Sie dekretiert, man dürfe von der Grundannahme, Israel sei ein Kolonialprojekt und überlebe nur durch Apartheid, keinesfalls abrücken. Das ist ein dringender Appell an ihre Bubble." In der FAZ meint Christian Geyer: "Man kann den Terror der Hamas auch dadurch zum Verschwinden bringen, dass man ihn nur komparatistisch, im Vergleich zu anderen Untaten, verurteilen möchte. Das ist weniger intellektuell als obszön."

Zugleich fordern eine Reihe von Autoren, darunter Ta-Nehisi Coates, Kamila Shamsie und William Dalrymple in einem offenen Brief in der NYRB die "internationale Gemeinschaft" auf, eine "Katastrophe" durch die Israelis in Gaza zu verhindern: "Israel hat eine, wie es sagt, 'vollständige Belagerung' verhängt und 1,1 Millionen Menschen in Gaza aufgefordert, innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu evakuieren. Und wohin? Nach sechs Tagen der Bombardierung, bei der bereits 2.215 Menschen, darunter 724 Kinder, im vierten großen Luftangriff im sechzehnten Jahr der Abriegelung getötet wurden, stellt sich weltweit die Frage nach dem Wohin?"

In einem offenen Brief in Haaretz verleihen zahlreiche israelische Intellektuelle und Wissenschaftler, darunter Eva Illouz und David Grossman ihrem Befremden Ausdruck, über "die unzureichende Reaktion einiger amerikanischer und europäischer Progressiver auf die Angriffe der Hamas auf israelische Zivilisten, eine Reaktion, die einen beunruhigenden Trend in der politischen Kultur der globalen Linken widerspiegelt. ... Wir hätten nie gedacht, dass einzelne Linke, Verfechter von Gleichheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlfahrt, eine solch extreme moralische Gefühllosigkeit und politische Rücksichtslosigkeit an den Tag legen würden. Um es klar zu sagen: Die Hamas ist eine theokratische und repressive Organisation, die sich vehement gegen den Versuch wendet Frieden und Gleichheit im Nahen Osten zu fördern. Ihre Kernverpflichtungen sind grundlegend unvereinbar mit fortschrittlichen Grundsätzen, und daher ist die Neigung einiger Linker, auf ihre Aktionen positiv zu reagieren, völlig absurd. Darüber hinaus gibt es keine Rechtfertigung für das Erschießen von Zivilisten in ihren Häusern; keine Rationalisierung für die Mord an Kindern vor den Augen ihrer Eltern; keine Begründung für die Verfolgung und Hinrichtung von Partygängern. Diese Taten zu legitimieren oder zu entschuldigen, kommt einem Verrat an den Grundprinzipien linker Politik gleich."

Holger Stark versucht auf Zeit online in all dem Leid, den der Nahostkonflikt verursacht, einen Funken Hoffnung zu finden. Im Nahen Osten war es oft so, meint Stark, dass aus Katastrophen etwas Neues entstand. Aber es gibt Bedingungen: "Die Palästinenserinnen und Palästinenser haben jede Unterstützung verdient, humanitär sowieso, aber perspektivisch auch politisch - unter der Bedingung, dass sie die Existenz Israels anerkennen. Daran sollte der Westen, auch die Bundesregierung, die viele Millionen schwere Unterstützung für die Palästinenser knüpfen. Das Existenzrecht des jüdischen Staates ist die Nulllinie nahöstlicher Diplomatie und nicht, wie bislang, ein wegzulächelnder Nebenwiderspruch."

Der Terror in Israel wird von der Islamischen Republik Iran massiv unterstützt, schreibt Natalie Amiri in der SZ. Dem Regime geht es dabei nur um das eigenen Überleben: "Trotz der Nöte der eigenen Bevölkerung schickt Iran über eine Milliarde US-Dollar an Stellvertretergruppen. 750 Millionen an die Hisbollah im Libanon, 360 Millionen jährlich an die Hamas, Hunderte Millionen für die Huthis im Jemen, Dutzende Millionen für die schiitischen Milizen in Irak und Syrien. Und in diesen Tagen wird diese mit Milliarden versorgte 'Achse des Widerstandes' in Alarmbereitschaft versetzt. Koordinator ist: Teheran. Der Außenbeauftragte: Irans Außenminister Amirhossein Abdollahian." Deutschland muss politisch endlich Konsequenzen ziehen, fordert Amiri denn "statt einen neuen Kurs einzuschlagen, ist Deutschland bis heute der wichtigste Handelspartner Irans in der EU."

Auch Navid Kermani spricht im Tagesspiegel-Interview mit Gerrit Bartels und Christian Böhme über den Iran. Was die Lage dort angeht, gehöre er zu den Pessimisten, sagt er. Von der Haltung des Westens ist er enttäuscht: "Er (der Westen) hätte die Stimmen der Menschen in Iran verstärken können, hätte viel klareren diplomatischen und ökonomischen Druck ausüben können. Die Menschen haben auf den Westen gehofft, nicht auf China, nicht auf Russland, nicht auf Saudi-Arabien. Wenn sie den Westen kritisieren, dann nicht, weil sie ihn ablehnen. Im Gegenteil, sie kritisieren ihn, weil sie an seine Werte offenbar mehr glauben als die westlichen Regierungen selbst."

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Buch in der Debatte

Ex-US-Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders hat gerade ein Buch veröffentlicht, in dem er den Kapitalismus für die globale Ungleichheit und die Zerstörung der Demokratie verantwortlich macht. Im taz-Gespräch mit Bernd Pickert kritisiert er die Politik der Demokraten, die die Arbeiterklasse vernachlässigt habe: "Gibt es eine Linke, die wirklich für die Interessen der Arbeiterschaft kämpft?". Aber natürlich geht es auch um den Anschlag der Hamas: "Der terroristische Angriff von Hamas ist unfassbar. Die Folge ist nicht nur, dass Tausende sowohl auf israelischer als auch auf palästinensischer Seite tot oder verletzt sind oder noch sterben werden. Aber es ist auch ein großer Rückschlag, wenn es darum geht, das Leben der Menschen in Gaza zu verbessern und für jeden Versuch, Frieden in der Region zu schaffen. Der Terrorangriff der Hamas wird die Extremisten stärken, sowohl die in Israel, die noch antipalästinensischer werden, als auch die Hamas-Unterstützer, die das Gefühl bekommen, doch militärisch gegen Israel etwas ausrichten zu können."
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Medien

Nach dem "genozidalen Massaker" der Hamas ist in den Medien Parteilichkeit geboten, meint Kim Robin Stoller vom Internationalen Institut für Bildung-, Sozial- und Antisemitismusforschung im taz-Gespräch: "Medien sollten vermitteln, dass es sich bei der Hamas um eine vernichtungsantisemitische Terrororganisation handelt. Eine solche Terrororganisation wird ihre Taten weiter umsetzen, wenn sie nicht gestoppt wird. Diese Dimension sollte in der Berichterstattung deutlich werden. (…) Medien in Deutschland sollten bedenken: Ihre Berichterstattung hat massive Auswirkungen auf Jüdinnen und Juden in Deutschland. Eine empathische Berichterstattung gegenüber Israel und den israelischen Opfern sollte ein Gebot sein."
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Stichwörter: Hamas

Europa

Der Ausgang der Wahlen in Polen "bedeutet nichts weniger als die Wiederherstellung der liberalen Demokratie", sagt Timothy Garton Ash im taz-Gespräch mit Rob Savelberg: "Das ist sehr bedeutsam, denn die derzeitige national-konservative Regierung hat versucht, dem ungarischen Beispiel des autoritären Politikers Viktor Orbán zu folgen. Sie wollte die Demokratie in Polen praktisch zerstören. Unter diesem Gesichtspunkt ist der Wahlausgang kaum zu unterschätzen. Er zeigt uns, dass Parteien, wenn sie gut genug sind, auch eine unfaire Wahl gewinnen können. Denn dies war keine faire Wahl. Weil die öffentlich-rechtlichen Medien in Polen, vor allem der Staatskanal TVP, Propaganda für die regierende PiS gemacht haben. Dazu wurde auf Plakaten und in Social Media eine lächerliche Kampagne zugunsten der Regierungspartei betrieben. Zudem wurden die Grundrechte von Frauen, Minderheiten und Gerichten angetastet. Aber auch wenn die Wahlen unfair waren, sind sie ein großer demokratischer Moment."

Die Tatsache, dass in Bayern 18 und in Hessen 17 Prozent der Wähler unter 30 die AfD wählten, erklärt der Jugendforscher Klaus Hurrelmann in der taz mit den Folgen der Pandemie: "Fast drei Jahre herrschte Ausnahmezustand. Während Corona kümmerte sich die Politik um die Arbeitenden und die Alten. Aber die Jungen standen vor verschlossenen Bildungsinstitutionen. Sie wurden in ihrem Bildungsrhythmus getroffen. Vielleicht haben sie den Schulabschluss nicht geschafft, sind in ihre gewünschte Ausbildung nicht reingekommen oder haben sie abgebrochen und machen heute gar nichts. Zu ihnen gehören viele junge Männer, teils aus Familien, denen es selbst wirtschaftlich nicht gut geht. Sie empfinden das als Demütigung und fühlen sich vernachlässigt. Und Menschen mit diesem Gefühl anzusprechen gelingt der AfD grundsätzlich gut."
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