Post aus der Walachei

Begrabene Hoffnung

Freche Filme und neue Regeln: Rumänien kurz vor dem EU-Beitritt. Von Hilke Gerdes
30.10.2006. Die letzte Post aus der Walachei. Hilke Gerdes zieht zurück nach Deutschland. Und berichtet zuvor über junge Filmemacher, neue EU-Regeln und große Hoffnungen.
Cristian Nemescu ist tot. Wer ist Cristian Nemescu? In Deutschland kennt ihn keiner und in Rumänien hat er vielleicht erst durch seinen Tod Ruhm erlangt. Zuvor war er nur denjenigen bekannt, die sich für rumänisches Kino interessieren. Und das sind - unberechtigterweise ­- nicht viele.
Nemescu galt als eines seiner großen Talente. Wir trafen uns vor vielen Monaten im Cafe des Institut Francais, einem guten, weil fast musiklosen Ort zum Reden. Er trug Jeans und einen grauen Kapuzenpullover mit der Aufschritt "Ghetto Freaks”, eine silbern eingefasste Brille, kurz geschorene, der hohen Denkerstirn viel Platz einräumende Haare und war überraschend jung; keine 30 Jahre alt. Dabei hatte er schon einen Vertrag mit Mediapro, einem der großen rumänischen Filmproduzenten, in der Tasche; für einen ersten Spielfilm, der wesentlich aufwendiger werden sollte als sein Abschlussfilm an der Bukarester Filmhochschule, für den er unter anderem vor zwei Jahren den "Prix UIP Angers" der Europäischen Filmakademie erhalten hatte, und "Marilena de la P7” (Marilena von P7), der dieses Jahr in Cannes gezeigte 45minütige Film über Jugendliche am Bukarester Stadtrand.
Der neue Film, der in Anspielung auf den Song von "The Mamas and the Papas” "California Dreaming” heißen sollte, beruht in seinem Plot auf einer wahren Geschichte: Während des Kosovo-Konflikts brachten die Amerikaner mit Genehmigung der rumänischen Regierung ein Bodenradar vom Schwarzen Meer an die rumänisch-serbische Grenze. Unterwegs wurde der Zug in einem kleinen Dorf von einem Bahnhofsvorsteher festgehalten, weil die vorgeschriebenen Papiere fehlten. Drei Tage lang herrschte der Schwejksche Rumäne über die Amerikaner, die in dem gottverlassenen Dorf etwas ganz anderes kennen lernten, als sie gewohnt waren.
Das Großprojekt schien ihn weder besonders nervös zu machen noch war es ihm zu Kopf gestiegen. Einige Monate nach unserem ersten Treffen begegnete ich ihm im Kino, er war etwas einsilbig, die Finanzierung sei noch nicht gesichert. Aber jetzt schien es voranzugehen, denn er kam von der Arbeit am Film, als ein Porschefahrer, der zufälligerweise (oder auch nicht) ein Ausländer war, das Ampelrot übersah und in sein Taxi raste.
Viele fühlen sich an einen ähnlichen Fall erinnert, bei dem ein populärer rumänischer Rockmusiker durch einen zu schnell fahrenden amerikanischen GI ums Leben kam. Der amerikanische Soldat wurde sofort ausgeflogen und vom amerikanischen Militärgericht nur mild bestraft. Das empörte viele. Dass Ausländer in den osteuropäischen Kapitalen gern "die Sau rauslassen” ist wohl kein Klischee.

Das Jahr des Kinos

Zu Nemescus Beerdigung kamen fast alle Protagonisten der erfolgreichen jüngeren Filmemacher-Generation. Unter ihnen Catalin Mitulescu, dessen Film "Cum mi-am petrecut sfarsitul lumii" ("Wie ich das Ende der Welt erlebte”) jüngst als rumänischer Beitrag zur Oscar-Wahl nominiert wurde. Mit Hilfe der Produzenten des Films, Martin Scorsese und Wim Wenders, hat er reale Chancen in Hollywood wahrgenommen zu werden.
Der während der letzten Tage der Ceausescu-Herrschaft spielende Film behandelt ähnlich wie "Goodbye Lenin” die Epoche des sozialistischen Einheitsstaats weder als reine Furchtbarkeit noch ausschließlich als amüsante Nostalgietour. Mitulescu selbst definiert ihn als eine Tragikomödie mit absurden und sublimen Anklängen, die stark auf seine eigenen Erinnerungen zurückgeht.
Die Protagonisten des Films sind ein Siebenjähriger und seine siebzehnjährige Schwester; das zentrale Thema ist die Liebe. Die Liebe des Siebenjährigen zu seiner Schwester, die ihn fast in den Selbstmord treibt, als sie aus dem Land flüchten will, und ihre Liebe zu dem politisch auf der falschen Seite stehenden Jungen. Für diejenigen, die diese Zeit miterlebt haben, werden Erinnerungen wach: an die strengen Lehrer, das Brot mit Margarine und Marmelade, die Streiche und Spiele auf der Straße, die Kohlsuppe, der Nachbar von der Securitate und die Witze über Ceausescu. Für die man, wenn man Pech hatte, abgeholt wurde.
Dorothea Petre hat für ihre Rolle als Schwester in Cannes den Preis für die beste weibliche Hauptrolle in der Sektion "Un certain regard” gewonnen.
In Cannes gewonnen hat auch Corneliu Porumboiu, der mit einem Kurzfilm auf der letzten Berlinale zu sehen war (siehe Post aus der Walachei vom 6. Februar 2006). Sein Film "A fost sau n-a fost?” ("War es oder war es nicht?", in Cannes unter dem Titel: "21.08 East of Bucharest") erhielt den ersten Preis in der Sektion "Quinzaine des Realisateur”. Im Verhältnis zur relativ schwachen Präsenz rumänischer Filme auf internationalen Festivals ist die Ausbeute an Preisen umso bemerkenswerter, hatte doch schon Cristi Puiu zwei Preise in den letzten Jahren aus Cannes mit nach Hause nehmen können (siehe Post aus der Walachei vom 9. Juni 2004 und 4. Mai 2005). "Funny, spicy and cruel” charakterisiert der europäische Kinoverband den Film, für den er 40.000 Euro zur Distribution bereitstellt.
Porumboius Film inszeniert eine Talkshow, in der Studiogäste und Anrufer über die Ereignisse von 1989 diskutieren. Nicht die Frage, ob die Revolution stattgefunden habe oder nicht, interessiere ihn, sagt Porumboiu, sondern wie Erinnerung funktioniert, wie Perspektiven auf Vergangenes differieren, kurzum wie Geschichte sich individuell konstituiert.
1989, der Umsturz Ceausescus, ist auch der zeitliche Hintergrund von Radu Munteanus "Hartia va fi albastra” ("Das Papier wird blau sein"). Protagonist ein ein Reservist, der am Kampf um den staatlichen Fernsehsender beteiligt ist. Der Film war im August in Locarno und zuvor auf dem Sarajevo Film-Festival dabei. Und gewann den Großen Preis, die "Goldene Orange” auf dem 2. Eurasischen Filmfestival in Antalya. In Rumänien lief er gerade an.
Der "Observator Cultural” erklärt 2006 für Rumänien zum Jahr des rumänischen Kinos. Eine Kultursendung im staatlichen Fernsehen hat die drei Regisseure eingeladen, unter dem Titel "Eine neue Welle von Revolutionsfilmen?” über ihre Filme zu sprechen. Die jungen Filmemacher wehren sich gegen dieses Label. Nein, es gehe ihnen nicht um die Revolution, sagen sie einmütig. Es gehe um ihre Kindheit, um Liebe, um Wahrheit, um allgemein Menschliches. Warum sie alle den gleichen historischen Hintergrund gewählt haben, bleibt offen. Eine wirklich befriedigende Antwort darauf gibt keiner von ihnen. Haben sie Angst vor dem Vorwurf, das Erfolgsrezept von "Goodbye Lenin” kopieren zu wollen oder Nostalgie zu betreiben? Das Interesse an der Vergangenheit ist seit der Öffnung des Securitatearchivs gestiegen. Die jungen Filmemacher kommen gerade rechtzeitig mit ihren Filmen, die der Vergangenheit ihren Schrecken nehmen, ohne dabei leichtfertig zu werden. Dass darf man ruhig aussprechen.

EU-Käse

Auf dem Kleinlaster vor uns im täglichen Bukarester Verkehrsstau steht groß "EU-Branza” (EU-Käse). Hat sich hier jemand eine besondere Geschmacksnote ausgedacht? Wie schmeckt die Europäische Union? Bei den alten EU-Mitgliedern würde mit dem EU-Käse wohl nicht gerade Frische und Natürlichkeit assoziiert werden. Das Image der EU hat sich laut dem neuesten Eurobarometer 2006 weiter verschlechtert.
Reift der Käse so lange wie die Anträge? Reifen ist gut, aber nicht bis zum Schimmeln. Ist seine Konsistenz so undurchschaubar wie das Gremien- und Förderwesen der EU? Oder wird mit diesem Namen nur eine neue EU-Regelung kommentiert? Der EU-Käse wirft viele Fragen auf.
Der Kreativmensch, der für diese Käsenamensschöpfung verantwortlich zeichnet, hat natürlich nicht den EU-müden Konsumenten Westeuropas im Blick, sondern die rumänische Käuferschaft, für die nach wie vor EU ein Synonym für Hygiene, Qualitätsstandards und -sicherheit ist.
Aber es folgt ein "aber". Knapp drei Jahre nachdem über den EU-Beitritt indirekt in einem Referendum zur Verfassungsänderung abgestimmt wurde (siehe Post aus der Walachei vom 1. Dezember 2003), mehren sich die kritischen Stimmen. Angefeuert wurde diese Stimmung durch die rumänische Nationalbank, die vor einigen Monaten sinngemäß feststellte, dass zwei Drittel der rumänischen Unternehmen bei einem Beitritt zur EU einpacken können, wenn sie sich nicht modernisieren.
Amüsant ist es, die Kommentare zum EU-Fortschrittsbericht über Rumänien Mitte Mai diesen Jahres vergleichend zu lesen. Schlägt man eine rumänische Zeitung auf, so ist man guter Hoffnung, dass Rumänien es trotz aller Schwierigkeiten schaffen wird, seine Hausaufgaben rechtzeitig zu erledigen. Ein deutschsprachiger Beitrag zum selben Thema vermittelt den Eindruck, als sei von einem ganz anderen Bericht die Rede. Jedem das Seine. Doch das ist einige Monate her. Im September rollt eine Welle von Positiv-Berichten durch die deutsche Zeitungslandschaft. Die Einladungen der schreibenden Zunft nach Rumänien scheinen ihre Wirkung zu tun. Der EU-Beitritt wird als selbstverständlich vorausgesetzt.
Rumänien gerät in Positivschlagzeilen, die tschechische Republik in die negativen. Das wirtschaftlich so erfolgreiche Land eine "Hochburg der Korruption in Ostmitteleuropa?”, wie die Neue Zürcher Zeitung am 14.09.2006 titelt. Zwar mit einem Fragezeichen versehen, aber der Text zitiert eine Untersuchung der Weltbank, nach der Tschechien im Korruptionsindex gleich nach der Republik Moldau, Serbien, Montenegro, Mazedonien, Kirgistan und Albanien kommt. Rumänien wird nicht erwähnt.
Polen hat seinen videodokumentierten Bestechungsskandal um Kaccynski und in Ungarn protestierten Tausende gegen das amtierende Regierungsoberhaupt, das sich ebensowenig durch moralisch korrekte Handlungsweise profiliert.
Seht, in den anderen Ländern Osteuropas sieht es doch auch nicht besser aus, hört man schon die Rumänen ausrufen. Doch der Deutsche Bundestag ist skeptisch. Anders als die Europäische Kommission möchte er die möglichen Schutzklauseln sofort in Kraft gesetzt wissen. Und dass Rumänen 2007 en masse den Arbeitsmarkt bevölkern, wird erst einmal für zwei Jahre verhindert. In die umgekehrte Richtung floriert es: Wirtschaftlich ist Rumänien einer der vielversprechendsten Märkte für die EU. Deutsche Exporte nach Rumänien sind im letzten halben Jahr um 21 Prozent im Vergleich zum entsprechenden Vorjahreszeitraum gestiegen. Ebenso haben sich die Produktionsgründungen verstärkt. Davon bekommt der deutsche Normalverbraucher wenig mit. Viele Westeuropäer sind, nach einer Untersuchung der Europäischen Kommission, auch recht bescheiden informiert darüber, welches der ehemaligen Ostblockländer EU-Mitglied ist oder erst wird. Manche denken Rumänien sei schon in der EU, andere glauben das von Bulgarien. Einige glauben, Ungarn ist EU-Anwärter.

Quotenhandel

Dass die EU-Mitgliedschaft ein Regelwerk mit sich bringt, das nicht nur seine positiven Seiten hat, diese Erkenntnis ist jetzt auch bei den Bauern angekommen. Ein sinnfälliges Beispiel konnte beim zufälligen Besuch in einem Karpatendorf erlebt werden. Die Kleinbauern mit einer Kuh im Stall melken diese natürlich mit der Hand. Von heute auf morgen kam der Molkereiwagen nicht mehr, um die Milch einzusammeln. Begründung: Hygienestandards. Wer mit der Hand melkt, bleibt auf seiner Milch sitzen. Die Leute im Ort sind ratlos. Durch das örtliche Überangebot lohnt es sich nicht, aus der Milch Käse zu machen. Einige haben ihre Kuh schon abgeschafft. Der EU-Branza wird nur aus Großbetrieben kommen.
Nach EU-Beitritt darf keiner einfach mehr so Milch verkaufen. Die Menschen, die mit zwei/drei Zwei-Liter-Plastikflaschen Milch in die Stadt fahren, um sie an irgendeiner Straßenecke zu verkaufen, werden sich eine andere Einnahmequelle suchen müssen. Zukünftig darf nur noch mit Milchquote produziert werden. Und nur wer den Erfassungsbogen ausgefüllt hat, kann überhaupt am Verfahren teilnehmen. Doch das Wort Quote weckt bei vielen Bauern ungute Erinnerungen. In den fünfziger Jahren gab es die "cota de predare” (Abgabequote); wer damals nicht die für ihn vorgesehene Menge an landwirtschaftlichen Produkten ablieferte, dem wurde alles konfisziert. Dass die "cota de lapte” umgekehrt eine Einnahmequelle ist, wird den meisten erst langsam klar. Milchquoten können gehandelt werden.

Jede Menge Sand

Rumänien wird 30 Milliarden Euro zwischen 2007 und 2013 erhalten. Jeden Tag ist etwa eine Million auszugeben. Gut zehn Milliarden sind davon für Infrastrukturmaßnahmen vorgesehen.
Solche wie sie zur Zeit in Bukarest geschehen. Dort werden Straßen erweitert, neue Brücken gebaut. Und Bürgersteige begradigt. Die schönen alten Steine werden gegen häßliche graue Betonquader ausgetauscht. Man munkelt, der Bürgermeister besitze die Produktionsstätte dieser Betonquader und entsorge gleichzeitig die schönen Steine, indem sie nach Italien verkauft würden. Dort kann man sie für die Ausbesserung der schönen Piazze gut gebrauchen …
Unsere kleine Straßen im besseren Wohnviertel gehört zu den ersten, die "verschönert” werden. Die neuen Betonquader und die höher gelegten Bürgersteige wirken wie seltsame Fremdkörper in der alten Straße mit ihren verwitterten Fassaden.
Dann wird die Straße aufgerissen. Tagelang muss jeder Anwohner über Sandberge steigen. Eine Spur der Straße bleibt allerdings asphaltiert. Bis zum Tag, an dem wir zurück nach Deutschland ziehen wollen. Just als wir den Möbelwagen erwarten, fängt ein Bagger an, die verbliebene Asphaltspur aufzureißen. Bis zwei Meter an unsere Einfahrt heran ­- dann ist Arbeitsende. So glücklich waren wir noch nie über den Feierabend eines Straßenbauarbeiters.