Post aus New York

Ist Susan Sontag eine Plagiatorin?

Von Ute Thon
29.05.2000. Die New York Times hat recherchiert: Einige Passagen aus Susan Sontags neuem Roman "In America" stammen aus anderen Büchern. Die Autorin beruft sich auf ihre künstlerische Freiheit.
Selbst große Schriftsteller stehlen manchmal Worte. Oder fühlen zumindest keine Scham, die wohlformulierten Beobachtungen anderer stillschweigend in ihr eigenes Werk einzuflechten. Susan Sontag, Amerikas wortgewaltige Kulturkritikerin, steht wegen solch einer Angelegenheit jetzt unter Plagiatsverdacht. Einige US-Historiker und Literaturwissenschaftler werfen der Autorin vor, dass sie in ihrem neusten Buch "In America" diverse Passagen ohne Quellenangabe aus anderen Büchern abgeschrieben hat. "In America" ist ein historischer Roman über eine berühmte polnische Theaterdiva, die um die Jahrhundertwende nach Amerika auswanderte. Er erschien im März und wurde in der US-Presse zunächst enthusiastisch gelobt. Inzwischen mehren sich jedoch die Stimmen, die in Sontags Umgang mit Recherchematerial mehr als nur Nachlässigkeit oder künstlerische Freiheit sehen. Die New York Times stellt in einem ausführlichen Artikel in ihrer Samstagsausgabe vom 27.5.00 unter der Überschrift "Wessen Worte sind es eigentlich?" fest, dass in dem 387-Seiten-Roman mindestens 12 Passagen aus anderen Büchern stammen. In manchen Fällen handele es sich nur um ein, zwei ähnlich klingende Sätze, doch auch ein achtzeiliges Gedicht und die lebhafte Beschreibung einer Abendgesellschaft seien ohne Quellenangabe aus anderen Werken übernommen worden.

Sontag rechtfertigt die ungekennzeichneten Zitate mit schriftstellerischer Freiheit. Ihr Roman sei ein "Kunstwerk", keine wissenschaftliche Abhandlung, und verlange deshalb auch keine akkurate Fußnotierung. Wie alle Schriftsteller, die sich mit historischen Figuren beschäftigen, habe sie für ihren Roman "die Geschichte übersetzt und Originalquellen aus ihrer Ursprungsdomäne adaptiert", sagt die US-Schriftstellerin.

Sontags Roman basiert auf der Geschichte der legendären Schauspielerin Helena Modjeska, die 1876 mit einer kleinen Entourage von Bewunderern von Warschau nach Kalifornien auswanderte, um dort eine utopische Kommune zu gründen. Über die exzentrischen Eskapaden der polnischen Diva existieren verschiedenste Aufzeichnungen: von Zeitungsberichten, einer Biographie von Willa Cather bis zu Briefwechseln mit dem polnischen Literaturnobelpreisträger Hendryk Sienkiewicz, ein flammender Verehrer Modjeskas. Im Vorwort erwähnt Sontag zwar, dass sie für das Buch historisches "Material und Anekdoten benutzt (und verändert)" habe. Die Namen der Autoren, die sie freimütig zitiert, nennt sie jedoch nicht.

Das Problem ist nicht neu. Mit zunehmender Popularität von Romanen, die mit historischen Motiven gewürzt sind, verschwimmen nicht nur die Grenzen zwischen Fakten und Fiktion, sondern auch schriftstellerische Originalität. Letztes Jahr schockte Edmund Morris die konservative Historikerzunft mit einer neuen Ronald Reagan-Biographie, in die er fiktive Figuren, u.a. auch sich selbst, hineingedichtet hatte. Und unlängst warf der Boston Globe in einem Artikel über die Bestsellerautorin Anita Shreve die Frage auf, welche Verantwortung Schriftsteller gegenüber historischen Fakten haben. Denn Shreve verdrehte zugunsten eines knisternden Inzestplots in ihrem preisgekrönten Roman "The Weight of Water", der derzeit mit Sean Penn und Elizabeth Hurley verfilmt wird, die historisch verbrieften Ereignisse eines gruseligen Doppelmordes in New Hampshire.

Damit hat Shreve jedoch keine Urheberrechte verletzt, sondern allenfalls ihren Ruf als historisch-glaubwürdige Autorin. Susan Sontag könnte wegen der unausgewiesenen Zitaten in ihrem neuen Buch aber jenseits des drohenden Imageverlusts auch Ärger mit Copyright-Anwälten bekommen. Zum Beispiel mit den Nachlassverwaltern Marion Moore Colemans, einer obskuren US-Autorin, die 1969 im Selbstverlag eine Biografie des polnischen Theaterstars, "Fair Rosalind: The American Career of Helena Modjeska", veröffentlichte. Sontags Roman enthält laut New York Times zumindest zwei ausführliche Passagen aus dieser Biographie, die schillernde Beschreibung eines Kleids der Diva und ein Fan-Gedicht. Außerdem übernahm Sontag auch einige Sätze aus "Portraits of America", einer Sammlung von Sienkiewicz-Briefen, ohne Quellenangabe.

Die berühmte US-Autorin gibt sich angesichts der Plagiatsvorwürfe überrascht. Doch Schriftstellerkollegen schütteln den Kopf. "Wenn du in diesem Genre arbeitest, begibst du dich auf schlüpfriges Gelände", sagt US-Autor Thomas Mallon, der gerade ein Buch zum Thema geschrieben hat ("Stolen Words: Forays Into the Origins and Ravages of Plagiarism"). Für eine glaubwürdige historische Novelle sei ein gewisser Grad von Adaption historischer Quellen unerlässlich, doch "das entbindet den Schriftsteller nicht von der Respektierung der Sprache, die andere geformt haben."