Post aus Seoul

Mein Kühlschrank der sechs Wonnen

Von John Lambert
07.02.2020. Auf eine Schale warmen Reis legt man das Kimchi seiner Wahl. Mit einer Träne Bibimbap-Soße und einem Schuss Sesamöl beträufelt, einem Spiegelei bedeckt... exquisit! Warum ich die Kunst des Kimchi so sehr liebe.
Liebe Perlentaucher!

Lange Zeit habe ich als Unternehmensberater zwischen Kanada und China gearbeitet. Das war in den 1980er Jahren, und ich erinnere mich, wie ich einmal nach Shenyang (eine chinesische Stadt unweit von Seoul, und sogar ein Teil Koreas unter dem Balhae-Reich) im Frühjahr geflogen bin. Zwischen dem Flughafen und dem Stadtzentrum befanden sich auf allen Balkonen Berge von Weißkohl. Ich hatte noch nie so viele gesehen.

Baechu-Kimchi


Die Idee war offensichtlich, den Kohl kühl zu halten und ihn so den ganzen Winter aufzubewahren. Appetitlich war es aber wohl nicht. Das dachten bestimmt auch die Erfinder des Kimchis: Wenn wir schon mal dabei sind, müssen sie sich gesagt haben, warum nicht den Kohl gleich salzen und in Tonbehältern gären; so schmeckt es besser und ist länger haltbar. Denn bei all der Aufregung ums Kimchi vergessen wir manchmal, dass es sich letztendlich um eine Konserve handelt, also um eine Antwort auf die Frage: wie benütze ich am besten morgen den Überschuss von heute?

Auch heute ist die Frage relevant. Bei uns hier zu Hause zum Beispiel, wo wir fragen: Was machen wir mit dem Kimchi-Kühlschrank, der mit der Wohnung kam? Behalten wir ihn, oder ersetzen wir ihn durch einen Backofen? Meine Frau ist eine ausgezeichnete Bäckerin, sie und meine Söhne sind für den Backofen, ich befinde mich also in der Minderheit. Meine einzige Chance ist, die Karte der lokalen Kultur zu spielen und den Kimchi-Kühlschrank… mit Kimchi zu füllen. Somit wird unsere Küche Schauplatz eines zarten Kampfes zwischen dem Westen und dem Osten, aber auch zwischen dem Konservatismus - wer benutzt heute noch einen Ofen? - und der radikalen Moderne (Kimchi). Die Einsätze sind hoch!

Kkaennip-Kimchi, oder Kimchi aus Sesamblättern


Mein unschlagbares Argument ist jedoch, dass das Kimchi einfach gut ist. Um es gelten zu machen betone ich die Qualität der Zutaten: hochwertige Salzgarnelen, ein leckerer Pflaumensirup, ein mit feinem Fischfond vorbereiteter Reismehlbrei. Hinzu kommen auserlesene Paprikaflocken - mehr oder weniger je nach Geschmack - und natürlich ein robuster Chinakohl, gekauft am Vortag auf dem Markt. Dann noch die Würzmittel: Knoblauch, Ingwer, ein guter Apfel, eine reife Birne, eine Zwiebel, eine knackige Kaki. Genießer fügen Austern, Tintenfische und so weiter hinzu.

Der entscheidende Faktor sind jedoch die Mitwirkenden. Mehr als bloß Gemüse einlegen: Das Kimjang, die Kimchi-Vorbereitung, ist ein geteiltes Ereignis. Diese gemeinsame, alles andere als triviale Tätigkeit ist in der Küche, was Henri Cartier-Bressons "l'instant décisif" in der Fotografie ist, und bestimmt die ganze Komplexität der Aromen, die uns durch das Jahr begleiten. Bei uns zu Hause öffnen wir aus diesem Anlass eine Flasche Prosecco und unterhalten uns. Aber es gibt ernsthafte Aspekte: Wie der Bäcker stehe ich am frühen Morgen auf, um die in Viertel geschnittenen Kohlköpfe in Salzwasser zu legen, wo sie sechs Stunden lang einweichen werden. Dann lasse ich sie drei Stunden abtropfen.

Pa-Kimchi, oder Kimchi aus grünen Zwiebeln


Sobald die Gäste ankommen, kochen wir den Reisbrei, vermengen Obst und Kräuter, schneiden das Gemüse in feine Streifen, und rühren alles in großen Schüsseln. Danach ziehen wir Plastikhandschuhe an und beginnen mit dem Ritual, bei dem jedes Blatt mit einer guten Menge Soße überzogen wird. Dann streicheln wir die kleinen Kohlviertel - rot wie neugeborene Kinder - und rollen sie zärtlich zu Kugeln, die wir in Plastikbeuteln aufbewahren. Dort reift das Kimchi fünf Tage bei Raumtemperatur, dann eine bis zwei Wochen im Kühlschrank.

Soviel für das Wie, bleibt das Warum - es geht um den Kühlschrank, vergessen wir es nicht. Und die treffendste Antwort darauf liegt wohl in der Vielfalt der Geschmäcker. Zurzeit kann ich nur die Kimchisorte beschreiben, die ich selbst vorbereite habe: sechs insgesamt, aus verschiedenen Gemüsesorten, denn es geht hier nicht nur um den Kohl.

In der Reihenfolge meiner Entdeckungen kommt zuallererst der Klassiker der Klassiker, das "Baechu Kimchi" oder Kimchi des Chinakohls. Unbestrittener Star des Tages, es hat alles zu bieten, von der weißgrünen Tönung seiner Blätter bis hin zu den verschiedenen Texturen und dem befriedigenden Aroma, ja, von Kohl. Als nächstes kommt das "Kkakdugi" oder Rettichkimchi. Knusprig und frech, es füllt den Mund mit einem verspielten, fast kecken Geschmack.

Drittens das "Yeolmu-Kimchi", oder Kimchi aus jungem Sommerrettich. Eine Pflanze mit vielfältigen Texturen und Geschmacksrichtungen, die Yeolmu glänzt durch ihre saftigen Blätter, knackigen Stiele und die leichtbittere, an Wasabi erinnernde Wurzel. In vierter Position, das "Pa-Kimchi" - oder Kimchi aus grünen Zwiebeln - ist süß und aromatisch. Hier wirkt die Gärung wie ein Wunder, und verwandelt die grünen Stängel in ein vollwertiges Gemüse.

Nummer fünf, das "Gat-Kimchi" oder Kimchi aus den Blättern des indischen Senfs, ist üppig, geistreich. Der Geschmack der Blätter ist kräftig, während der der Stängel milder ist, mit einem leicht heuähnlichen Nachgeschmack. Man denkt an Gasthöfe auf dem Lande, leise Gespräche, unbekannte Düfte. Last but not least, "Kkaennip-Kimchi" oder Kimchi aus Sesamblättern. Das Comfort Kimchi par excellence, sowohl wegen seines unverwechselbaren Geschmacks als auch seiner Vielseitigkeit, es ist der perfekte Wrap für einen Mundvoll Reis oder gegrillten Fisch. Und wenn er ein bisschen Kimchi-Deopbap (Rezept folgt) einrahmt, schaltet das Gericht in den fünften Gang.

Kkakdugi, oder Rettichkimchi


Bald hoffe ich, mit dem "Oi-Sobagi", oder Gurkenkimchi, und dem "Chonggak-Kimchi" - Kimchi aus kleinen Rettichen - fortzufahren. Jetzt aber ist der Kühlschrank voll und muss geleert werden. An Rezepten mangelt es nicht: Gebratener Reis mit Kimchi ("Kimchi-Bokkeumbap"), Kimchi-Eintopf ("Kimchi-Jjigae"), Kimchi-Pfannkuchen ("Kimchi-Jeon"), Kimchi-Ravioli und Kimchi-Suppe bieten sich regelrecht an.

Gleich wie es aus dem Kühlschrank kommt, jedoch, ist das Kimchi eine an sich souveräne Speise. Diejenigen aber, die es nicht dabei belassen wollen, können mit dem Kimchi-Deopbap nicht falsch liegen: Auf eine Schale warmen Reis legt man das Kimchi seiner Wahl. Mit einer Träne Bibimbap-Soße und einem Schuss Sesamöl beträufelt, einem Spiegelei bedeckt und Sesamsamen, gerösteten Seetangstreifen und drei bis vier Strängen rotem Pfeffer oder Silgochu bestreut, ist das Gericht schlicht exquisit.

Ganz herzlich

John

John Lambert ist ehemaliger Perlentaucher und war Chefredakteur des englischsprachigen, vom Perlentaucher bis 2010 herausgegebenen Kulturmagazins signandsight.com. Seit zwei Jahren lebt und arbeitet er als Übersetzer in Seoul.
Stichwörter