Sven Regener

Der kleine Bruder

Roman
Cover: Der kleine Bruder
Eichborn Verlag, Berlin 2008
ISBN 9783821807447
Gebunden, 284 Seiten, 19,95 EUR

Klappentext

Berlin-Kreuzberg, November 1980: Im Schatten der Mauer gedeiht ein Paralleluniversum voller Künstler, Hausbesetzer, Kneipenbesitzer, Kneipenbesucher, Hunde und Punks. Bier, Standpunkte, Reden, Verräterschweine - alles ist da. Nur eins fehlt: jemand, der alles mal richtig durchdenkt - Frank Lehmann aus Bremen. Nachdem seine WG dort vom Gesundheitsamt geschlossen wurde, das Zimmer bei seinen Eltern zum Fernseherreparieren benötigt wird und er nach kühnem Ausbruch aus dem Wehrdienst noch keinen Plan hat, fährt er erst mal nach Berlin - zu seinem großen Bruder Manni, der dort als Künstler lebt und eine große Nummer ist. Dachte er. Doch Manni ist weg. Weder sein Vermieter Erwin Kächele noch dessen Nichte Chrissie oder sein Mitbewohner Karl haben eine Ahnung, wo Manni steckt. Außerdem nennen sie ihn nicht Manni, sondern Freddie. Und haben sofort eine konkrete Idee davon, was Frank zu tun hat: Anstelle seines Bruders an einem kurzfristig anberaumten Krisenplenum teilnehmen. Damit beginnt eine lange Nacht, in der Frank Lehmann lernt, dass in einer Welt, in der alle Künstler sein wollen, nichts notwendigerweise das ist, als das es erscheint, und in der er mehr über seinen Bruder erfährt, als er wissen will, aber nie das, wonach er fragt. Und mit einer Nacht ist es nicht getan, denn wie sagt Karl, der Typ, den Frank auf Anhieb nicht mag und der sein bester Freund werden wird:"Das ist wie in der Geisterbahn. Jetzt sind alle eingestiegen, und der Bügel geht runter, und dann müssen das auch alle bis zu Ende mitmachen ..."

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 06.10.2008

Maike Albath ist durch und durch begeistert von Sven Regeners letztem Band der Lehmann-Trilogie, muss aber warnen: "Der kleine Bruder" führe zu schweren Wehmutsgefühlen und Nostalgie beim Leser. Chronologisch vor "Herr Lehmann" spielend wird hier von der Ankunft Frank Lehmanns in Berlin erzählt, seiner Suche nach dem großen Bruder Mannie und Franks Einleben in die kulturellen Eigenheiten der Kreuzberger Szene. Regener ist dabei "eine ziemlich witzige Ethno-Typologie der Einwohner der Mauerstadt" gelungen, schwärmt die Rezensentin: Kneipenbetreiber, Abzocker, volltrunkene Bassisten und Punker tummeln sich in diesem Milieu.  Zeitlich umfasst der Roman nur drei Tage, die auch formal das Enklavendasein und die Enge in West-Berlin widerspiegeln. Dabei setze Regener auf ästhetisches Understatement und einen langsamen Erzählstil. Besonders empfehlen kann die Rezensentin den Roman all denjenigen, die sich selbst gern an diese schöne alte Zeit erinnern.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 01.10.2008

Ursula März ist offenkundig ein Fan der bisherigen Lehmann-Bücher und das jüngste und der Auskunft des Autors nach letzte, das mag sie auch. In der Chronologie der Geschichte und der Biografie des Protagonisten Frank Lehmann ist es in der Mitte der Trilogie situiert. Lehmann kommt von Bremen nach Berlin, wo er zwei Tage und zwei Nächte lang seinen Bruder sucht. Das ist der rote Faden des Romans, in dem dennoch viele Weichen fürs weitere Lehmann-Leben gestellt werden: Er lernt einen Freund kennen, seinen Arbeitgeber und seinen Berufswunsch ("Ausschenken von Flaschenbier"). Die Lage zwischen den real schon existierenden Bänden schränke die in den anderen Bänden herrschende totale Dialog- und Handlungsfreiheit ein wenig ein, weil der Autor für Passung zum Vorangegangenen und zum Folgenden sorgen muss. Ein wirkliches Problem sei das nicht, denn Regeners Stärken, der Dialog, die virtuose Bewegung im Spielraum zwischen "Flachsinn und Tiefsinn", der literarische Entwurf von "Zeit- und Mentalitätsgeschichte" setzen sich, findet sie, letztlich mühelos durch.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.09.2008

Sehr schätzt Edo Reents die Trilogie um Frank Lehmann, die Sven Regener mit diesem - chronologisch zwischen den beiden anderen gelegenen - dritten Band nun abschließt. Regener sei einer, der alles Dramatische entdramatisiert und das Pathos entschlossen "runterkühlt". Das bekomme seinen Figurenporträts bestens - und dem hier gezeichneten Porträt der Stadt Berlin ganz besonders. Das Jahr der Handlung von "Der kleine Bruder" ist 1980, die Ereignisse sind auf zwei Tage verdichtet. Es sind die Tage nach der Ankunft des Titel-Helden in der sagenumwobenen Insel- und Mauerstadt Berlin. Er sucht seinen Bruder und trifft auf allerhand Künstler bzw. Typen, die es gerne wären oder werden wollen oder die einfach behaupten, sie seien Künstler, weil sie sagten, dass sie es sind. "Ironisch", aber nie "gehässig" verhalte sich Regener zu seinem Personal, "geduldig" beschreibe er, ohne sich "in Details zu verlieren". Dies sei nicht der beste Band der Trilogie, resümiert Reents, aber allemal lesenswert sei er auch. Und den Helden Frank Lehmann, den wird er, wie er versichert, vermissen.
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Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 04.09.2008

Recht freundlich hat Kristina Maidt-Zinke den Abschluss von Sven Regeners Triologie um Herrn Lehmann aufgenommen. Im Vergleich zu "Herr Lehmann" und "Neue Vahr Süd" mutet sie "Der kleine Bruder" maximal dialogreich und höchst handlungsarm an, erstreckt sich die Geschichte - Frank Lehmann hat sich vom Wehrdienst verabschiedet, geht nach Berlin um bei seinem Bruder, dem Künstler Manfred, unterzukommen, der allerdings spurlos verschwunden ist, und muss an dessen Stelle am Krisenplenum der WG teilnehmen - doch gerade mal über zwei Tage. Maidt-Zinke würdigt Regener als "Meister des redundanten Dialogs", der den Ton des Kreuzberger Milieus zwischen WG-Leben, Künstler- und Hausbesetzerszene wunderbar trifft. Überhaupt gelingt es ihm ihres Erachtens überzeugend, die Stimmung in Berlin 1980 wiederzugeben. Allerdings wird in dem Buch für ihren Geschmack zu viel geredet. Das Buch wirkt auf sie eher wie eine Mischung aus "Drehbuch und Soundtrack" als ein Roman. Dennoch scheint sie es meistens mit Vergnügen gelesen zu haben. Nur hätte sie sich mehr von Herrn Lehmanns "zarten Reflexionen" und weniger "Gelaber" gewünscht. "Vielleicht sollte der Autor", meint sie abschließend, "um das gutzumachen, doch noch einen vierten Teil ins Auge fassen".
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 30.08.2008

Ausgesprochen fröhlich hat Rezensent Dirk Knipphals diesen dritten Teil von Sven Regeners Herr-Lehmann-Trilogie aufgenommen, der ihm höchst eindrucksvoll bewiesen hat, dass Bücher nicht angestrengt nach Literatur aussehen müssen, um eine lohnende Lektüre zu bieten. Und das ist dieser Roman aus seiner Sicht ohne Zweifel, wenn gleich Knipphals auch davor warnt, hier den großen 80er-Jahre-Westberlinroman zu erwarten. Denn mit kaum zu übertreffender Lakonie lasse Regener die Luft aus den Heldensagen dieser Jahre ebenso wie aus der Forderung nach einem solchen Roman insgesamt. Stattdessen las Knipphals lauter "hochkomische" manchmal auch "ein klein wenig sentimentalistische" kleine "Herr-Lehmann-Szenen", in denen Punks, Hausbesetzer, Künstler, Polit-Szenegänger und andere Phänomene jener Jahre ihr Fett abbekämen. Immer wieder beeindruckt von der Mischung aus "Flapsigkeit" und "streetwisem Durchblickertum", aus dem man eine ganze Poetik herauszaubern könne.